Der vernetzte Kapitalismus. Über ‚Le nouvel esprit du capitalisme‘ von Luc Boltanski und Eve Chiapello

Besprochenvon Michael Tillmann

Die Transformationen, die der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten durchlebt hat, sind zumeist als eine Folge der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und – zumal in den 80er und frühen 90er Jahren – als eine Konsequenz der Liberalisierung der ihnen zugrunde liegenden Wirtschaftsideologie beschrieben worden. Eine stärkere Involvierung der Mitarbeiter in die Unternehmensgeschäfte, leistungsbezogene Gehälter, eine Individualisierung und Personalisierung der Arbeitsaufgaben, projektbezogenes Arbeiten, netzförmige Organisationsformen usw. ergeben sich aus dieser Perspektive aus dem Siegeszug nahezu frühkapitalistischer Zustände. Demgegenüber – und ohne diese Einflüsse leugnen zu wollen – entwickeln der französische Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Eve Chiapello eine Argumentation, die letztlich auf einem dialektischen Wechselverhältnis zwischen „dem“ Kapitalismus und seiner Kritik gründet und die Transformationen aus einem Rechtfertigungsimperativ ableitet. Bereits in früheren Schriften hat Luc Boltanski (vor allem 1990) die Kritik als zentrales Element gesellschaftlichen Handelns erkannt und zusammen mit Laurent Thévenot (1991) konzeptuell zu dem Modell der cité ausgearbeitet. Hier nun unterscheiden die beiden Autoren zwischen zwei Formen der Kritik, denen sich der Kapitalismus, d.h. seine gehobenen Repräsentanten in Gestalt von Topmanagern, Unternehmensleitern, Vorstandsvorsitzenden, unternehmensnahen think tanks usw. stellen müssen. Neben einer Sozialkritik (z.B. als Forderung nach Lohnerhöhung oder Arbeitsplatzsicherheit) muss der Kapitalismus auch auf eine so genannte Künstlerkritik reagieren. Dabei geht es weniger um eine Kritik an der materiellen Ausbeutung der Arbeiter und Angestellten als um eine Kritik an fehlenden Freiräumen und einem Mangel an Selbstverwirklichung. Diese Form der Kritik ist also ihrem Wesen nach emanzipatorisch. Die Pariser Mai-Unruhen 1968 sind ein Kristallisationspunkt, in dem sich beide Kritikformen trotz aller Gegensätze und Unterschiede zu einer explosiven Mischung verbinden. Auf diese nicht nur das politische System, sondern auch den kapitalistischen Prozess in seinen Grundfesten bedrohenden (verbal-argumentativen, aber auch physischen) Angriffe müssen die entscheidenden Instanzen reagieren, wollen sie nicht die Unterstützung und das Engagement der Arbeiter- und Angestelltenschaft verlieren. In der Tat gehen die beiden Autoren davon aus, dass der Kapitalismus nicht zukunftsfähig ist, wenn es ihm nicht gelingt, die Wirtschaftsakteure (als Erwerbstätige und als Konsumenten) dauerhaft an die Unternehmen zu binden. Dazu genügt es jedoch nicht, dass der Kapitalismus ihnen ein mehr oder weniger gesichertes Auskommen gewährleistet. Vielmehr bedarf es auch einer gewissen inhaltlichen, ideologischen oder programmatischen Übereinstimmung mit den Zielen des Kapitalismus. Während die Arbeitgeber die Kapitalismuskritik zuallererst als eine Sozialkritik deuten, müssen sie bald erkennen, dass die getroffenen Maßnahmen einerseits nicht die gewünschte Wirkung zeigen und dass sie andererseits große finanzielle Belastungen für die Unternehmer mit sich brachten. So verlagerten sich alsbald die Fronten. Anstatt der Sozialkritik zu genügen, setzten die Arbeitgeber zunehmend auf die Künstlerkritik, der sie durch arbeitsorganisatorische Innovationen entgegenkamen. Diese unterschieden sich deutlich von der standardisierten Massenproduktion des zweiten kapitalistischen Geistes und ließen dem Individuum größere Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten. So entstand den beiden Autoren zufolge ein neuer Geist des Kapitalismus, der auf den Konzepten des Netzes und des Projektes aufbaut. Darüber hinaus ist diese großangelegte Studie über die Entwicklungen des kapitalistischen Geistes jedoch weit mehr als eine zeitkritische Analyse oder gar politische Parteinahme, als die sie in Frankreich oft und in Deutschland ausschließlich verstanden wurde. Sie ist gleichzeitig eine Weiterführung der Theorie der Polisformen, die Luc Boltanski – wie bereits erwähnt – zusammen mit Laurent Thévenot in „De la justification“ entwickelt hat. Einer der Kritikpunkte, der diesem Modell zur Analyse der Rechtfertigungslogiken menschlichen Handelns wiederholt vorgeworfen wurde, zielte auf die vermeintliche Statik dieses Modells, mit dem Veränderungen nur schwer zu erklären seien. Insofern kommt den Ergebnissen der Wandlungsprozesse des kapitalistischen Geistes, der nun in ein drittes Stadium eingetreten ist, eine sozialtheoretische Bedeutung hinzu. Nach dem familienweltlich-paternalistischen Kapitalismus und der industrieweltlichen Massenproduktion – und ihren jeweiligen archetypischen Symbolgestalten des Bourgeois und des Firmendirektors – ist nun der vernetzte, projektbezogene Kapitalismus dominant. Dass dieser Veränderungsprozess wohl nicht nur auf den Kapitalismus beschränkt sein dürfte, sondern eine viel allgemeinere Tragweite besitzt und – nicht zuletzt durch die Leitfunktion des Wirtschaftssystems und dessen weitreichende Verästelungen in andere Lebenssphären hinein – eine neuartige Rechtfertigungslogik und gesellschaftliche Wertigkeitsordnung (oder, wenn man so will, Gerechtigkeitsordnung) begründet oder doch begründen könnte, ist keine sehr spekulative Interpretation. Mobilität als zentraler Begriff dieser projektbasierten Rechtfertigungsordnung ist ein allgemeiner gesellschaftlicher Wert geworden, der weit über das rein ökonomische hinausweist. Vgl. zur Soziologie Boltanskis auch das Nachwort des Übersetzers.© passerelle.de , Winter 2002

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