Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz. ‚Injustices. L’expérience des inégalites‘ von François Dubet (zs. mit V. Caillet, R. Cortéséro, D. Mélo, F. Rault)

Besprochenvon Michael Tillmann

Ein Mann und eine Frau. Ein Anfang, der ein Ende…

In einer groß angelegten empirischen Studie unter der Leitung des Touraine-Schülers François Dubet[1] wurden in den Jahren 2003 bis 2005 unterschiedliche Berufskategorien (Landwirte, Krankenhauspersonal, leitende Angestellte, Dozenten, Taxifahrer usw.) nach ihrem subjektiven Empfinden von Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz befragt. Die Ergebnisse dieser Interviews und Fragebögen bilden den Großteil der Studie, deren einleitendes Kapitel einen theoretischen Rahmen zur analytischen Auswertung der Ergebnisse liefert. Dabei greifen François Dubet und seine Mitarbeiter auf die konzeptuellen Vorarbeiten der „Wertigkeitsordnungen“ zurück, die Luc Boltanski und Laurent Thévenot in De la justification ausgearbeitet haben.[2] So geht beispielsweise auch François Dubet von einer Pluralität an Gerechtigkeitsvorstellungen aus, die sich im sozialen Raum (hier: am Arbeitsplatz) überschneiden, miteinander in Konflikt treten können oder zumindest eine wechselseitige Kritisierbarkeit bedingen, andererseits aber auch zu punktuellen und/ oder lokalen Kompromissformen Anlass geben können. Ähnlichkeiten zu Boltanski/Thévenot lassen sich darüber hinaus in dem Bemühen erkennen, die Akteure in ihren subjektiven Äußerungen ernst zu nehmen und zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der „gewöhnlichen“ gesellschaftlichen Akteure und der Philosophen lediglich einen graduellen Unterschied zu sehen, der letztlich vor allem in einem mehr oder weniger hohen Abstraktionsgrad besteht. Im Unterschied zu den beiden Vertretern der pragmatischen Soziologie, die von sechs Rechtfertigungsordnungen ausgehen, konstruiert Dubet die Gerechtigkeitsproblematik jedoch um die drei Begriffe Gleichheit (égalité), Leistung (mérite) und Autonomie (autonomie). Die Arbeit wird hier zum Prüfstein konkurrierender Gerechtigkeitsprinzipien, insofern sie im Idealfall eine Zugehörigkeit zu einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft garantiert, besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besonders entlohnt und darüber hinaus eine Selbstverwirklichung ermöglicht. Die eigentliche Stärke dieser umfangreichen Studie besteht jedoch vor allem in den auswertenden Passagen, den Stimmwechseln zwischen dem Resümee des Soziologen und den Äußerungen der befragten Arbeitnehmer. Hier kondensiert sich das Gerechtigkeits- und vor allem auch Ungerechtigkeitsempfinden zu einem bisweilen beklemmenden Gefühl des menschlichen Leidens. Zuletzt war es Pierre Bourdieu und seiner Misère du monde (1993) sowie Younes Amrani/Stéphane Beaud mit Pays de malheur (2004) gelungen, den Unterdrückten und Geschundenen durch den Abdruck langer Interviewpassagen eine Stimme zu verleihen und beim Leser ein ähnliches Gefühl der hilflosen Beklemmung zu wecken angesichts eines universellen Leidens an und mit der Unerbittlichkeit der sozialen Welt (vgl. hierzu auch Robert Castels schönen Aufsatz zu Leben und Werk Pierre Bourdieus).

© passerelle.de, April 2006

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  1. An dem Gemeinschaftsprojekt wirkten neben François Dubet ferner mit: Valérie Caillet, Régis Cortéséro, David Mélo, Françoise Rault. Im Weiteren wird als Autor einfachheitshalber nur François Dubet genannt.
  2. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Arbeit von Luc Boltanski und Laurent Thévenot zuallererst die Konflikte und Konfliktschlichtung der Menschen im Alltagshandeln und die damit einhergehenden Rechtfertigungsbemühungen betrifft. Erst im Anschluss daran treten die diesen Rechtfertigungsbemühungen zugrunde liegenden „philosophischen“ Ordnungen, die eben auch präzise Gerechtigkeitsvorstellungen beinhalten, in den Blickpunkt des Interesses. Die Tatsache, dass konzeptuelle Entwicklungen der pragmatischen Soziologie jedoch von anderen Sozialwissenschaftlern aufgegriffen werden, die weder biographisch noch institutionell Schnittmengen aufweisen, zeigt, wie wichtig dieser Forschungszweig in Frankreich inzwischen geworden ist.

Die notwendige Fiktion der Leistungsgesellschaft. Über ‚L’école des chances‘ von François Dubet

Besprochenvon Michael Tillmann

Das Thema Schule gehört in Frankreich ganz ohne Zweifel zu den politisch hochbrisanten Problemfeldern.

Das zeigt allein schon die Liste all jener hochkarätigen Minister von Lionel Jospin, Jack Lang, Claude Allègre oder auch in neuerer Zeit Luc Ferry, deren Reformbemühungen immer wieder an den korporatistischen Reflexen der Lehrergewerkschaften gescheitert sind. Dabei haben die ideologischen Fronten, die sich in der tagespolitischen Debatte immer wieder aufs Neue bilden, vor allem auch damit zu tun, dass die Frage des Schulsystems an das Selbstverständnis der französischen Republik selbst rührt. Während der III. Republik (1871-1940) wurden auf Betreiben Jules Ferrys bildungspolitische Weichenstellungen getroffen, die heute zu den Gründungsmythen Frankreichs gehören. Von Anfang an war die Frage der Schule und ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft ein Thema, das eng mit der sich ausbildenden Soziologie verbunden war. Émile Durkheim, der Ahnherr der französischen Soziologie, bekleidete einen Lehrstuhl für Sozialwissenschaften und Erziehung und sah in der Schule eine der zentralen Sozialisierungsinstanzen. Aber auch bei Pierre Bourdieu oder Raymond Boudon ist die Schule und die soziologische Bildungsanalyse mit allgemeinen methodologischen Problemen der Soziologie verbunden, so dass die Behauptung nicht unsinnig ist, „dass die Geschichte der Bildungssoziologie bis in unsere Zeit hinein im Grunde mit der Geschichte der Soziologie schlechthin zusammenfällt“ (Derouet 2003: 199).

 

François Dubet hat nun mit L’école des chances in der Reihe der République des Idées einen Essay vorgelegt, in dem er Wege aus der aktuellen Krise aufzeigt. In der Tat lässt sich feststellen, dass das meritokratische Prinzip und das damit einhergehende Postulat der Chancengleichheit nur bedingt der Realität entspricht. Zahlreiche Studien haben nicht erst seit Bourdieu darauf hingewiesen, dass die Schule Ungleichheiten reproduziert. Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien schneiden in ihren schulischen Leistungen statistisch schlechter ab, erreichen einen niedrigeren Bildungsabschluss und haben damit auch geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als Kinder aus wohl situierten, bürgerlichen und vor allem bildungsnahen Milieus. Das heißt: Soziale Ungleichheiten sorgen im Laufe des schulischen Selektionsprozesses für eine sozial vorgeprägte ungleiche Bildungsverteilung. Das ändert zwar nichts daran, dass Leistungsprinzip und Chancengleichheit eine, wie es bei Dubet heißt, „notwendige Fiktion“ darstellen, die eine Voraussetzung ist für eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft. Allerdings sollten sie durch konkurrierende oder ergänzende Gerechtigkeitsprinzipien ausgeglichen werden. Wenn man nämlich von den ungleichen Startbedingungen einmal absieht, ist selbst innerhalb des Schulsystems die Chancengleichheit nur bedingt gegeben. Auf der Angebotsseite lässt sich beispielsweise beobachten, dass die Mittelvergabe zwischen Universitäten und den Elitehochschulen sowie den an die Gymnasien angeschlossenen Vorbereitungsklassen ein großes Gefälle zugunsten der prestigeträchtigen Ausbildungswege aufweist. Aber auch in der Sekundarstufe sind die Karten sehr ungleich verteilt. Selbst die stärkere finanzielle Förderung von Schulen in sozialen Brennpunktvierteln (ZEP) hat daran nichts Grundlegendes geändert. Die Einstufung einer Schule als ZEP hat jedoch stigmatisierende Folgen, die zu einer noch homogeneren Klassenzusammensetzung führen können, während bekanntlich kompetenzheterogene Lernumwelten vor allem auf schwache Schüler einen positiven Leistungseffekt haben.[1] Deswegen ließen sich angebotsbedingte Ungleichheiten durch eine Veränderung oder flexiblere Handhabung der Zuweisung zur nächstgelegenen Schule, die allein geographische Kriterien heranzieht, vielleicht sogar kostengünstiger ausräumen oder doch zumindest abschwächen. Darüber hinaus plädiert François Dubet für einen gemeinsamen Wissenssockel, der allen Schülern vermittelt werden sollte. Dazu müsste jedoch das Schulprogramm der Sekundarstufe nicht mehr auf das Abiturwissen hin ausgerichtet sein, sondern als eigenständige zu beherrschende Wissensnorm gelten, so dass diejenigen, die ihren Bildungsweg vor dem Abitur abbrechen, trotz allem einen anerkannten Leistungsnachweis besitzen. Abschließend weist Dubet noch auf soziale Ungleichheiten hin, die sich aus den schulischen Leistungsunterschieden ergeben. Diese bestimmen nicht nur zu großen Teilen die individuellen Arbeitsmarktperspektiven, sondern auch das Selbstwertgefühl der Schüler. Das meritokratische Prinzip der Chancengleichheit hat nämlich zur Folge, dass jeder einzelne Schüler sich als Person für seine Leistung verantwortlich fühlt. Insofern besteht naturgemäß die Gefahr, dass die Leistungsbewertung als Persönlichkeitsbewertung empfunden wird und dass dauerhafte schulische Misserfolge zu Selbstwertverlusten führen.

Auch deswegen gilt es, die Leistungsgerechtigkeit im Sinne einer meritokratischen Chancengleichheit nicht zum Allheilmittel zu erklären. Vielmehr sollte sie von einer distributiven (gezielte Umverteilung des schulischen Angebots), sozialen (Berücksichtigung und Respekt der Schwächsten) und individuellen (Bildungsniveau nicht als alleiniger Bestimmungsfaktor gesellschaftlicher Hierarchien) Gerechtigkeit umrahmt und ausgeglichen werden.

© passerelle.de, Januar 2005

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  1. Vgl. hierzu u.a. auch die Rezension zu Éric Maurin (2004).

Müde Manager. Über ‚La fatigue des élites‘ von François Dupuy

Besprochenvon Michael Tillmann

Seit einigen Jahren schon ist das Schlagwort der précarité in Frankreich in aller Munde. In zahlreichen Publikationen wurde der Befund einer wachsenden beruflichen Unsicherheit, die sich allein schon an den Arbeitslosenzahlen ablesen lässt, immer wieder aufs Neue bekräftigt.

Diese Unsicherheit betrifft natürlich – ähnlich wie in Deutschland – vor allem gering Qualifizierte, die der internationalen Lohnkonkurrenz in besonderem Maße ausgesetzt sind. Höher Qualifizierte dagegen scheinen gegen die Gefahren einer Deklassierung unter verschärften internationalen Konkurrenzbedingungen deutlich besser gewappnet zu sein.

Dieses im Kern sicherlich zutreffende Urteil muss gleichwohl in gewissen Punkten nuanciert werden, sobald man den Begriff der Prekarität eben nicht ausschließlich auf die (fehlende) Sicherheit des Arbeitsverhältnisses bezieht, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation. Éric Maurin (2002) hatte bereits darauf hingewiesen, dass die berufliche Unsicherheit nicht nur gering qualifizierte Arbeitnehmer trifft und im Grunde – natürlich mit mehr oder weniger schwer wiegenden Folgen – quer zu den verschiedenen Berufsgruppen verläuft. Der französische Organisationssoziologe François Dupuy nun ist eben dieser Frage vertiefend nachgegangen. Sein Interesse gilt vor allem den cadres supérieurs, d.h. der französischen Wirtschaftselite, die sich von den eigentlichen Führungs- und Entscheidungsgremien innerhalb der Unternehmen im Stich gelassen fühlt. Insofern lässt sich Robert Castels (2003) Einsicht, wonach manche Gruppen, deren Arbeitsbedingungen sich kollektiv verschlechtern, mit einer Situation des sozialen Abstiegs konfrontiert sind und einen Nährboden bilden, auf dem ein Gefühl der Unsicherheit wächst, auch auf die Berufsgruppe der leitenden Angestellten übertragen.
Während die Managerklasse in Frankreich lange einen Sonderstatus genoss, weil sie eben eine Mittlerfunktion im hierarchisch organisierten Unternehmensgefüge einnahm, sich gleichzeitig aber in die Entscheidungsfindungsstrukturen mit eingebunden fühlte, hat sich die Situation in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Das ausschlaggebende Moment für diesen langsamen Entfremdungsprozess zwischen betrieblichen Führungsinstanzen und mittlerer bis gehobener Managementebene verortet François Dupuy in der Revolution der Organisationsformen als Folge einer Umkehrung wirtschaftlicher Knappheitsverhältnisse. Zugespitzt lautet die These: „Bis zum Ende des Wirtschaftswunders herrschte in Bezug auf die täglichen Arbeitsprozesse das stillschweigende Übereinkommen, dass die Unternehmen in erster Linie für ihre Angestellten da seien. Kunden bzw. Aktionäre waren im Grunde zweitrangig. Diese Selbstbezogenheit hatte mit einem spezifischen wirtschaftlichen Umfeld zu tun, das letztlich den Produktions- bzw. Vertriebseinheiten anstatt den Konsumenten die Macht in die Hände legte“ (Dupuy 2005: 11). Diese für die Managerebene in den Unternehmen komfortable Situation hat sich nun in ihr Gegenteil verkehrt. Im Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der (internationalen) Handelsbeziehungen sind nicht mehr so sehr die Produkte knapp als die Kunden, denen man sie verkaufen könnte. Dadurch aber gaben die Kunden (und darüber hinaus auch die Aktionäre) zunehmend den Ton an. Die Unternehmen mussten sich diesem Kundendiktat beugen und die sequenziell organisierten Unternehmensstrukturen (Planung, industrielle Organisation, Produktion und innerhalb der Produktion, beispielsweise in der Automobilindustrie, zwischen Maschinen- und Karosseriebau, zwischen Karosserieherstellung und -montage usw.) aufbrechen. Aus organisationstheoretischer Sichtweise hatten diese sequenziellen Unternehmensstrukturen jedoch auch eine Schutzfunktion, weil dadurch eine gewisse Arbeitsautonomie jedes einzelnen dieser Bereiche gegenüber allen anderen gewahrt wurde. Das war vor allem für die betroffene Leitungsebene eine recht bequeme Situation, zumal sie dadurch innerhalb ihrer Organisation gewissermaßen eine Monopolstellung innehatte und die Arbeitsprozesse auf die unternehmensinternen Bedürfnisse abstimmen konnte. Unterdessen haben jedoch die Kunden die Macht an sich gerissen. Sie sind nicht länger bereit, die Kosten für schwerfällige Organisationen zu tragen. Angesichts dieser Situation wurden Reformen notwendig, die diese monopolartigen Strukturen aufbrechen und für eine stärkere horizontale Kooperation und Verflechtung sorgen (Beispiel: Anschlussflüge ohne längere Wartezeiten). Kooperation bedeutet aber eben immer auch Konflikt, so dass die seit einiger Zeit in Gang befindliche Revolution der unternehmensinternen Organisationsformen letztlich dazu führt, dass auch die leitenden Angestellten einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Da die strategischen, unternehmensrelevanten Entscheidungen in höheren Sphären getroffen wurden, zu denen sie im Regelfall keinen Zugang haben, die Arbeitsbelastung bei rückläufiger Gehaltsentwicklung jedoch gleich bleibend hoch ist, lassen sich Rückzugsstrategien erkennen, die zeigen, dass das Arbeitsengagement und die Identifikation mit dem Unternehmen nachzulassen drohen. Die cadres, die sich bisher trotz ihres Angestelltenstatus stets stärker der Unternehmensdirektion verbunden fühlten als den anderen Arbeitnehmern des Betriebs, scheinen sich – wie sich einigen Umfragen speziell zu der Frage der 35-Stunden-Woche in Frankreich entnehmen lässt – tendenziell den „gewöhnlichen“ Angestellten anzunähern: Auch die Führungskräfte zählen nun ihre Arbeitsstunden, und wie alle anderen Arbeitnehmer wünschen auch sie keine Lockerung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialistischen Koalition verabschiedet worden war und vor kurzem von der bürgerlichen Regierung neuerlich in Frage gestellt wurde. Der Kapitalismus allerdings – das haben Boltanski/ Chiapello (1999) eindrucksvoll gezeigt – braucht einen Geist. Er braucht das Engagement seiner Führungskräfte und damit überzeugende und glaubwürdige Werte, die diese langfristig binden und motivieren.[1]

 

Wie es in der Reihe der République des Idées üblich ist, begnügt sich der Verfasser jedoch nicht mit einem negativen Befund. In einem abschließenden Kapitel werden drei sich kreuzende Wege aus der Krise aufgezeigt. Zum einen sollte an die Stelle des Spezialistentums eine horizontale Integration verschiedener Unternehmensbereiche in der Person des Managers treten, die auch auf das mittlere Leitungsniveau auszudehnen wäre. Darüber hinaus sollte auch das Laufbahnmanagement umgestaltet werden, so dass nicht mehr allein ein Aufstieg in der Unternehmenshierarchie mit einer Gehaltserhöhung verbunden ist, sondern eventuell auch horizontal verlaufende Karrieren möglich werden. Dabei geht es jedoch im Kern darum, dass der Karriereverlauf den Führungskräften nicht einfach aufgezwungen, sondern vielmehr ausgehandelt wird. Drittens schließlich muss dieses horizontale Karrieremanagement die Möglichkeit bieten, neue Kenntnisse zu erwerben, so dass die leitenden Angestellten ihre employability weiter ausbauen können.

© passerelle.de, Juni 2005

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  1. Es sei darauf hingewiesen, dass François Dupuy, ohne die Autoren namentlich zu erwähnen, von Boltanskis und Chiapellos Versuch nicht viel hält, die Veränderungen des kapitalistischen Geistes und letztlich auch der kapitalistischen Organisationsformen (Stichwort: Vernetzung, Projekt usw.) als Reaktion auf die Herausforderungen der 68er Bewegung zu interpretieren (Dupuy 2005: 58). In seinen Augen sind die Veränderungen der unternehmerischen Organisationsformen ausschließlich der Globalisierung und der Öffnung der Märkte zuzuschreiben.

Kultursoziologische Mischprofile. Zur Theorie kultureller Legitimität. Über ‚La culture des individus‘ von Bernard Lahire

Besprochenvon Michael Tillmann

  • LAHIRE, Bernard: La culture des individus. Dissonances culturelles et distinction de soi. La Découverte, Paris 2004. ISBN 978-2707142221.

In einem voluminösen, an theoretischen Ausführungen und empirischen Datensätzen qualitativer und quantitativer Natur reichen Werk setzt sich der Lyoner Soziologe Bernard Lahire mit dem kultursoziologischen Mainstream in Frankreich auseinander, d.h. mit der Theorie kultureller Legitimität, die kulturelle Produkte hierarchisiert, kulturelle Praktiken mit gesellschaftlichen Klassen- und letztlich Macht- und Herrschaftslagen in Bezug setzt. Der Titel seines fast 800seitigen Buches La culture des individus ist dabei bereits Programm, weil hier das Kulturelle, das doch zumeist als kollektives Phänomen verstanden wird, zu einer Eigenschaft der Individuen wird. Die Individuen sind hier allerdings keine Träger eines inkorporierten Klassen-Habitus. Wenn hier von den kulturellen Präferenzen und Verhaltensmustern der Individuen die Rede ist, dann nicht insofern sie sozialstrukturell definierte Dispositionen abspulen, sondern weil – wie der Untertitel es verrät – Dissonanzen ihre kulturellen Praktiken prägen. Dabei werden die Erkenntnisse Bourdieus und anderer nicht einfach über Bord geworfen.[1]

Vielmehr geht es um eine – allerdings – signifikante Akzentverschiebung: „Eine Theorie inter- und intrainidividueller Variationen kultureller Verhaltensmuster […] analysiert – anstatt sich auf die Analyse der Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen zu beschränken – vielmehr das Wechselspiel und die kulturellen Distinktionseffekte, durch die sich die Individuen untereinander unterscheiden und die die Individuen selbst durchziehen“ (739). Die individuellen kultursoziologischen Profile, die Lahire im Mittelteil seiner groß angelegten Studie entwirft, veranschaulichen in der Tat, wie heterogen und dissonant kulturelle Praktiken und Präferenzen sein können. Folgt man der statistischen Auswertung der Datensätze, so zeigt sich, dass die dissonanten Kulturprofile, bei denen die Individuen sowohl Güter aus der Hochkultur als auch alltagskulturelle Produkte konsumieren, auf knapp 60 % der Befragten zutrifft. Geschlossene, in sich kohärente Profile, bei denen entweder nur illegitime oder eben nur legitime Kulturgüter (etwa: ausschließlich Opernbesuche, Autorenkino, Lektüre der Klassiker der Weltliteratur, Kultursendungen im Fernsehen usw.) konsumiert werden, sind diesen Zahlen zufolge die Ausnahme.

Gestützt werden diese quantitativen Befunde durch qualitative Interviews, die die Dissonanz anhand von Einzelfällen belegen. Koppelt man diese Ergebnisse mit sozialstrukturellen Datensätzen (sozioprofessionnelle Kategorie der Befragten), so zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, in seinem Kulturverhalten Merkmale dissonanter Profile aufzuweisen, in allen Berufsgruppen am höchsten ist. Kohärente Profile im Sinne einer hohen, aber auch im Sinne einer niedrigen Legitimität sind demgegenüber in allen Berufsgruppen deutlich geringer vertreten. Diese Dissonanz kultureller Profile führt der Autor letztlich auf die – seit der Begründung der Soziologie vielfach konstatierte – Differenziertheit der modernen Gesellschaften zurück. Die Menschen sind gleichzeitig bzw. nacheinander in mehreren, zum Teil konkurrierenden Sozialisierungsmilieus zu Hause (Familie, Peer groups, Schule, Arbeitsumfeld usw.), so dass im Bereich kultureller Werte unterschiedliche Referenzen vermittelt werden und die Akteure in situative Handlungsmuster eingebunden sind (z.B. Kinobesuch mit Freundesgruppe oder Ähnliches), die die Konsumption kulturell kohärenter Güter verhindert. Diese „Plurisozialisierung“ – wie es bei Lahire heißt – ist letztlich der Grund für unterschiedliche, bisweilen sogar gegensätzliche Dispositionen und kulturelle Praktiken.[2]

 

Vgl. auch die Übersetzung des Schlusskapitels, in dem die Hauptthesen Lahires kurz zusammengefasst werden.

 

 

© passerelle.de, Februar 2005

 

 

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  1. Wobei Lahire Bourdieu den Vorwurf nicht erspart, in den „Feinen Unterschieden“ die Datensätze aus Gründen der empirischen Untermauerung seiner Theorie, „überinterpretiert“ zu haben. Lahire zufolge sind die dissonanten Profile, die er als Dominante für unsere heutige Gesellschaft ausmacht, auch in den Datensätzen Bourdieus zu erahnen, so dass die Vermutung, die unterschiedlichen Ergebnisse seien eine Folge gesellschaftlicher Veränderungen (etwa: Konkurrenz der Schule als Vermittler kultureller Legitimität durch das Fernsehen), wohl unbegründet sein dürfte: „Wenn man die Unterschiede zwischen den Gruppen betrachtet, die sich aus den Umfragen der 60er und 70er Jahre ergeben, dann stützt jedenfalls nichts die Behauptung, dass der kulturelle Gegensatz zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder die kulturellen Grenzen eine individuelle Abstufung kultureller Praktiken und Präferenzen unmöglich machen. Wenn damals also ein Soziologe nach intraindividuellen Variationen geforscht hätte, so hätte er sicherlich einen hohen Anteil von Befragten aus allen sozialen Klassen zutage gefördert, die in Bezug auf den Grad der Legitimität ihrer kulturellen Praktiken und Präferenzen dissonante kulturelle Profile aufweisen. Die legitimistische Sichtweise Pierre Bourdieus in den „Feinen Unterschiede[n]“, objektiviert auch heute noch wesentliche Strukturaspekte unserer sozialen Welt. Paradoxerweise scheint sie allerdings viel mehr auf die französische Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts zugeschnitten zu sein, d.h. auf eine Gesellschaft mit einer lediglich rudimentären industriellen Massenkultur vor dem Medienzeitalter, in der klare symbolische Unterscheidungen zwischen ‚Kultur‘ und ‚Volkskultur‘, zwischen ‚hohen‘ und ’niedrigen Künsten‘ vorherrschten“ (172).
  2. Ein kritisches Dossier zu dem Buch mit Artikeln u.a. von Louis Pinto findet sich in der Revue EspacesTemps.

Frankreich im Wandel. Über ‚L’égalité des possibles. La nouvelle société française‘ von Eric Maurin

Besprochenvon Michael Tillmann

  • MAURIN, Eric: L’égalité des possibles. La nouvelle société française. République des Idées, Paris 2002. ISBN 978-2020545082.

In den letzten Jahren ist in Frankreich die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichen Auseinandersetzung gerückt, wobei die Begriffe der précarité und der précarisation, d.h. der zunehmend unsicher werdenden Beschäftigungsverhältnisse, und die Gleichheitsproblematik neben einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit die Debatte bestimmen. Von diesem Topos der politischen Auseinandersetzung ausgehend, unterzieht der Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Eric Maurin die französische Gesellschaft einer genaueren Betrachtung, um die Natur und tatsächliche Tragweite der Wandlungsprozesse zu ergründen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die zunehmende Instabilität der Berufswelt nicht allein spezifische Berufsgruppen belastet. Selbst wenn höher Qualifizierte natürlich weniger gefährdet sind als gering Qualifizierte und ältere Erwerbstätige seltener arbeitslos werden als Jungarbeitnehmer, hat die berufliche Unsicherheit für alle Beschäftigungskategorien in vergleichbarem Maße zugenommen. Diese Entwicklung führt der Autor in letzter Konsequenz weniger auf institutionelle Rahmenbedingungen (Stichwort: Liberalisierung des Arbeitsmarktes) zurück als auf technologische Innovationen, d.h. auf die Möglichkeit, Arbeits- und Erfahrungswissen, das zuvor allein ältere Arbeitnehmer im Laufe ihrer Berufskarriere haben ansammeln können, durch neuartige Produktionsmethoden zu ersetzen (Kapitel I: La fragilisation des relations d’emplois).

Parallel dazu beobachtet Eric Maurin, dass die Kategorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur statistischen und damit auch ideologischen Erfassung der Berufswelt entwickelt wurden, an Prägnanz verlieren. Auch wenn entgegen weithin zu vernehmender Unkenrufe das Konzept der Arbeiterklasse nichts von seiner heuristischen Kraft verloren hat, hat sich doch die Identität dieser Kategorie verändert. Das hat damit zu tun, dass die Kategorie der Arbeiter, die sich immer schon aus heterogenen Elementen zusammensetzte, gerade bei den angelernten Hilfsarbeiten (ouvriers spécialisés) im Zuge des Zusammenbruchs traditioneller Industriebastionen hat Verluste verzeichnen müssen. Parallel dazu konnten die dienstleistungsnahen Arbeiterkategorien und die Angestelltenkategorie zulegen. Letztere weist allerdings dieselben Wandlungsprozesse auf wie die Kategorie der Arbeiter, weil auch hier die klassische Figur des Angestellten im Verwaltungsbereich eines Großbetriebes zugunsten der Angestellten im direkten Kundenkontakt (Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegepersonal usw.) an Gewicht verloren hat.

Der gemeinsame Nenner all dieser Verschiebungsprozesse besteht dem Autor zufolge darin, dass der Arbeitsalltag dieser im Wachsen befindlichen Kategorien stärker die Persönlichkeit der jeweiligen Arbeitnehmer anspricht und mobilisiert. Damit empfinden diese jedoch weniger das Gemeinsame einer ähnlichen Berufslage, so dass auch die Ausbildung einer gemeinsamen Klassen- bzw. kategorialen Identität schwerer fällt. Ganz im Gegenteil: Gerade das „Scheitern“ in der Arbeitswelt wird als eigene Unzulänglichkeit und persönlicher Kompetenzmangel empfunden. Das unter solchen Bedingungen ein Klassenbewusstsein bzw. das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität nur schwer zu wachsen vermag, ist nicht weiter verwunderlich (Kapitel II: La nouvelle condition salariale).

Als dritten Aspekt der Entwicklung der französischen Gesellschaft und Wirtschaft neben allgemeiner Prekarisierung und unschärfer werdenden Kategorien verweist Eric Maurin auf weiter bestehende soziale Ungleichheiten. Diese Ungleichheiten macht er zum Beispiel daran fest, dass die Armutswahrscheinlichkeit für sozial schwache Familien immer noch deutlich höher ist als für andere, dass die gesellschaftlichen Beharrungskräfte gegen soziale Mobilität nach wie vor eine große Wirkungskraft haben und das Haushaltseinkommen den schulischen Erfolg der Kinder stark vorprägt (Kapitel III: Inégalités de fait et inégalités des possibles).

Daran anschließend – und das ist das eigentliche Ziel dieses kurzen Überblicks über markante Aspekte der französischen Gesellschaftsentwicklung – zeigt der Autor im Schlusswort (Redéfinir les priorités des politiques sociales: pour une égalité des possibles) Wege auf, wie auf diese neue Ausgangsbasis politisch reagiert werden könnte. Dabei stechen vor allem zwei Vorschläge ins Auge: Die Vorschläge, die gerade am linken Spektrum Frankreichs oftmals einer stärkeren Reglementierung der Arbeitsverhältnisse das Wort reden, lehnt Maurin angesichts der Tatsache ab, dass der Prekarisierungsprozess offensichtlich unabhängig von institutionellen Rahmungen erfolgt. Demgegenüber favorisiert er einen Umbau des betrieblichen Fortbildungssystems, das nicht nur jenen Mitarbeitern offen stehen dürfe, die ohnehin bereits die besten Beschäftigungsfähigkeiten besitzen.

Darüber hinaus wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, wollte man das Schulsystem, das ja stets als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Mobilität betrachtet wurde, ein weiteres Mal von innen heraus reformieren. Vielmehr gehe es darum, die bestehenden sozialen Ungleichheit über eine Umverteilungspolitik insofern auszugleichen, als dadurch die schulischen Erfolgsaussichten von Kindern aus schwachen Einkommensschichten verbessert würden.

 

© passerelle.de, Frühjahr 2003

 

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Kunst und Kapitalismus. Von neuen Gemeinsamkeiten alter Gegensätze. Über ’Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers’ von Pierre-Michel Menger

Besprochenvon Michael Tillmann

Die Künstlerarbeit ist seit geraumer Zeit – zumindest was das Angebot an Künstlern betrifft – ein starker Wachstumsmarkt. In Frankreich hat sich zwischen 1987 und 2000 die Zahl der Künstler mehr als verdoppelt, während das Arbeitsvolumen in dem Betrachtungszeitraum nur etwa um das 1,5-fache gewachsen ist. Diese Zahlen veranschaulichen gleichzeitig die paradoxe Lage der Künstlerarbeitsmärkte, auf denen noch stärker als in der Vergangenheit auf Kurzzeitbeschäftigungen zurückgegriffen wird. Alles deutet darauf hin, dass die Künstlerberufe – zumindest das damit verbundene Idealbild eines kreativen, eigenständigen, unhierarchischen Arbeitens mit großem Selbstverwirklichungspotenzial – heute mehr denn je eine magische Anziehungskraft ausüben und dass andererseits die Künstlerarbeitsmärkte von einer auf die Spitze getriebenen Flexibilität geprägt sind, die die Kunst – wie Pierre-Michel Menger in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Essay zutreffend schreibt – zu einem „Experimentierfeld der Flexibilität“ machen. Insofern ist das neu erwachte Interesse der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an den Künstlerarbeitsmärkten angesichts eines wachsenden Flexibilisierungsdrucks durchaus verständlich. Überraschend ist es nur für all jene, die – wie die innovativen Kunstbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts – zwischen Kunst (Innovation, Normbruch) und Markt (Stabilität, konventionelle Moralvorstellungen) einen unüberbrückbaren Gegensatz sehen. Dass es jedoch durchaus Berührungspunkte zwischen den beiden scheinbar so unversöhnlichen Welten gibt, lässt sich allein schon an dem berühmten Wort Schumpeters ablesen, der in Bezug auf den kapitalistischen Prozess von einer „schöpferischen Zerstörung“ sprach. Der Normbruch der Künste und das Innovativ-Schöpferische, das auf den Wirtschaftsmärkten einen Wettbewerbsvorteil garantiert und in den modernen Wissensgesellschaften neuartige Formen betrieblicher Organisation anzustoßen vermag, ist jedoch Pierre-Michel Menger zufolge nur ein Aspekt einer viel weiter zu fassenden Schnittmenge. Der Künstler – das haben nicht zuletzt Boltanski/ Chiapello (1999) in ihrer großen Kapitalismusstudie gezeigt – ist aufgrund seiner Ungebundenheit, seiner Unkonventionalität, seiner Kreativität und seiner Eigenständigkeit in den einschlägigen Managementtexten zu einem viel beschworenen Modell des modernen Arbeiters geworden. Seine Anpassungsfähigkeit und sein eigenverantwortliches Krisenmanagement verklären ihn zu einem mythischen Helden in einer unsicheren Arbeitswelt. Sein spezifisches Risikomanagement – Stichwort: Mehrfachbeschäftigung zur Absicherung gegen dauerhafte Unterbeschäftigung – scheinen auch auf anderen Arbeitsmärkten Nachahmer zu finden. Die Kluft, die sich in den Kunstberufen zwischen den Spitzenverdienern und der anonymen Masse auftut und die zum Teil einem logisch nicht nachzuvollziehenden Zufallsprinzip zu verdanken ist, lässt allerdings auch die Gefahren erahnen, die mit reputationsbasierten Marktmechanismen, wie sie insbesondere für die Künstlerberufe gelten, einhergehen. So kristallisieren sich in der Figur des Künstlers exemplarisch zentrale Fragen gesellschaftlicher Relevanz, die das Problem von individueller Leistungsfähigkeit, zum Teil beträchtlichen Einkommensungleichheiten, Formen einer flexiblen Arbeitsgestaltung und solidarischen Schutzmechanismen betreffen. Insofern ist der brillant geschriebene Essay Pierre-Michel Mengers sicherlich eine unumgängliche Begleitlektüre zu den aktuellen Diskussionen rund um die neue Arbeitsgesellschaft.

© passerelle.de, April 2006

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Soziologisches Rucksackwissen Paris. Über ‘Sociologie de Paris’ von Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot

Besprochenvon Michael Tillmann

  • PINÇON, Michel/ PINÇON-CHARLOT, Monique: Sociologie de Paris. La découverte, Paris 2004. ISBN 978-2707142801.

Dass die Stadt – und insbesondere eine so geschichtsträchtige Metropole wie Paris – ein lebendiges Gebilde ist mit ihren eigenen Gesetzen und ihrer eigenen Entwicklungsdynamik, ist keine neue Erkenntnis. Honoré de Balzac oder Émile Zola betrachteten mit unverhohlener Faszination das rapide Anwachsen der französischen Kapitale und erwiesen sich dabei als genaue Beobachter sozialer Entwicklungsprozesse. Als politischer, wirtschaftlicher und kultureller Dreh- und Angelpunkt Frankreichs und – zumindest phasenweise – auch Europas tritt Paris natürlich auch ins Blickfeld soziologischen Interesses. Gerade die sozialräumlichen Segregations- und Aggregationsprozesse in und um Paris sind in den letzten Jahren einer kritischen Betrachtung unterzogen worden (vgl. etwa Donzelot 2003, der die stadtpolitischen Maßnahmen in Frankreich und den Vereinigten Staaten miteinander vergleicht, sowie vor allem auch Maurin 2004). In den „Repères“, einer bei La Découverte erscheinenden Reihe mit Einführungsbänden in wissenschaftliche Fachgebiete, liefern Michel Pinçon/Monique Pinçon-Charlot eine kondensierte und gedrängte Soziologie der Stadt Paris, die zum Teil an ihr Buch Paris mosaïque. Promenades urbaines anknüpft. Als Soziologen der „besseren Gesellschaft“ (vgl. die in der Bibliographie verzeichneten Veröffentlichungen und insbesondere die Kurzrezension zu Voyage en grande bourgeoisie) sind sie natürlich besonders prädestiniert, um die Verbürgerlichungs- bzw. Gentrifizierungsprozesse nachzuzeichnen, denen sich auch eine Stadt wie Paris nicht hat entziehen können. In sieben dichten Kapiteln werden die geographische Organisation (Lire Paris), die demographische Entwicklung (L’attraction de Paris), die Funktion als politische Hauptstadt (Paris, ville capitale), die „Gentrification“ („Gentrification“ et déprolétarisation de Paris), die (wahl)politischen Aspekte der Kapitale (Paris, ville bourgeoise, ville de gauche?), das Problem sozialräumlicher Mischung (Les enjeux de la mixité) und das Verhältnis der Hauptstadt zu ihren Vororten (Paris-banlieue: une agglomération?) abgehandelt. Insofern bietet dieser Einführungsband interessierten Lesern nicht nur soziologische Grundinformationen zur Stadt Paris, sondern allen Touristen das notwendige Rucksackwissen, das eine genauere Lektüre einer der attraktivsten Großstädte Europas bietet und die Sinne für sozialräumliche Ordnung und ihre politischen Implikationen schärft.

© www.passerelle.de, März 2006

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Großbürgertum unter soziologischer Lupe. Über ‘Voyage en grande bourgeoisie. Journal d’enquête’ Von Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot

Besprochenvon Michael Tillmann

  • PINÇON, Michel/ PINÇON-CHARLOT, Monique: Voyage en grande bourgeoisie.

    PUF, Paris 2002 (Erstausgabe 1997). ISBN 978-2130554202.

Großbürgertum und Aristokratie sind keine gewöhnlichen Untersuchungsobjekte einer Soziologie, die sich von Anbeginn an dem gesellschaftlichen Fortschritt verschrieben hat. So geraten die ehemals dominanten Klassen nur selten ins Blickfeld einer soziologischen Betrachtungsweise, da der Geist der Geschichte in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ohnehin anderswo zu wehen pflegt und die großbürgerlichen, veraltet anmutenden Lebensformen der besseren Gesellschaft bestenfalls freundlich belächelt werden. Kaum mehr weiß eine Soziologie, die weniger geschichtsphilosophisch daherkommt und sich stärker einem sozialen Engineering verpflichtet fühlt, mit den oberen Zehntausend anzufangen. Als Machteliten im politischen Sinne werden sie schon längst nicht mehr wahrgenommen, und verglichen mit drängenden Problemen der Gegenwart (Gewalt in den Vororten großer Ballungszentren, soziale Ausgrenzung, Langzeitarbeitslosigkeit, Integration der Arbeitsmigranten usw.) ist ihre gesellschaftspolitische Brisanz eher gering. Insofern sehen die diversen staatlichen oder privaten Förderinstitutionen auch keine dringende Notwendigkeit, eine Soziologie des Großbürgertums finanziell zu unterstützen. Der direkte politische Gewinn scheint in keinem Verhältnis zu den finanziellen Aufwendungen zu stehen.

Angesichts dieser Situation bilden die beiden französischen Soziologen Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot eine löbliche Ausnahme. In zahlreichen Werken haben sie seit Ende der 80er Jahre diverse Aspekte des Großbürgertums unter die Lupe genommen. Ausgangspunkt für das Interesse an diesem zahlenmäßig kleinen, an diversen (sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen) Kapitalformen jedoch reich gesegneten Milieu war die Beschäftigung der beiden Autoren mit städtischen Segregations- und Aggregationsphänomenen (Pinçon/Pinçon-Charlot 1989). Gerade in einer Stadt wie Paris kommt man um die Erkenntnis nicht herum, dass sich eine soziale Schichtung eben auch urbanistisch niederschlägt. Im Pariser Osten lebt es sich eben anders als in den betuchten Vierteln des 16. Arrondissements und dem angrenzenden Luxusvorort Neuilly. Insofern ist es zur Erfassung städtischer Entwicklungsdynamik eben auch erforderlich, jene zahlenmäßige Minderheit in den Blick zu nehmen, die einer anderen Welt verhaftet scheint.[1] Im Anschluss an dieses ursprünglich stadtsoziologische Interesse untersuchten die beiden Autoren die Strategien der Bildung und der Bewahrung diverser (aber eben nicht nur wirtschaftlicher) Kapitalformen in den oberen Klassen (vor allem Pinçon/Pinçon-Charlot 1998), interessierten sich jedoch auch für so scheinbar anekdotische Themen wie die Treibjagd (Pinçon/Pinçon-Charlot 1996). Hierbei mag – wie es den beiden Autoren häufig vorgeworfen wurde – eine gewisse kleinbürgerliche Faszination fürs Großbürgerliche eine Rolle spielen. Gleichzeitig verlieren sie jedoch nie den Blick für Gesamtzusammenhänge.

Dafür ist vor allem auch das Forschungstagebuch zur Reise durch die Großbourgeoisie Frankreichs (Pinçon/Pinçon-Charlot 2002), wie die wörtliche Übersetzung des französischen Titels lautet, ein schöner Beleg. Auch wenn die Autoren keinen solchen Anspruch erheben, handelt es sich durchaus um so etwas wie ein methodologisches Lehrbuch soziologischer Feldarbeit. Von der Konstruktion des Forschungsobjekts und dokumentarischer Vorarbeiten bis hin zur schriftlichen Abfassung, Veröffentlichung und medialen Verwertung der Forschungsergebnisse werden hier alle Etappen des soziologischen Arbeitens (mit ihren je spezifischen Schwierigkeiten) abgeschritten. Besonderes Augenmerk verdienen hierbei die Probleme, die mit der Kontaktaufnahme und der Durchführung von Interviews verbunden sind. Ohne Empfehlung von Mitgliedern aus diesem Sozialmilieu erweist sich die Kontaktaufnahme nämlich als nahezu aussichtslos. Und auch die Situation des Interviews in diesen gehobenen Kreisen ist selbst für erfahrene Sozialwissenschaftler mit zahlreichen Fallstricken verbunden. Das liegt vor allem daran, dass sich der Soziologe hier – anders als in den meisten Interviewsituationen – jemandem gegenüber findet, der auf einer höheren Stufe der sozialen Leiter beheimatet ist und dessen ganze Erziehung und Lebensumstände ihn auf derartige Bewährungssituationen vorbereiten. Habitus und Hexis der Befragten, in der sich das Bewusstsein der eigenen sozialen Stellung körperlich äußert, sind für den Sozialforscher insofern problematisch, als sie sich dadurch ihrer eigenen Position als sozial Beherrschte bewusst werden.[2] Im Laufe der sozialen Interaktionsformen sind die Positionen und Lebenswege der Akteure stets präsent. Daher ist es während eines Interviews stets möglich, dass eine Dominanzsituation des Befragten gegenüber dem Fragesteller (oder umgekehrt) eintritt. Detailliert beschreiben die beiden Autoren, wie sich durch dezente Kleidung, eine gezielte Vorbereitung des Interviews (da hier auch der Fragesteller Rede und Antwort stehen muss), die klare Vermittlung des Forschungsanliegens, bei dem es keinesfalls um die ironische, herablassende Kritik scheinbar veralteter Lebensformen geht, diese Schwierigkeiten umgehen oder doch zumindest abschwächen lassen. Wie sensibel dieses Milieu auf Takt- bzw. Normverletzungen (z.B. das Tragen von verschlissenen Jeans) reagiert, veranschaulichen die beiden Autoren immer wieder an zahlreichen Beispielen. In diesem Fall besteht stets die Gefahr, dass sich der Befragte auf eine rein konventionelle Position zurückzieht, um den verdächtig erscheinenden Fragesteller mit ausgesuchter Höflichkeit und der „angeborenen“ Selbstsicherheit, die die Mitglieder in diesen gesellschaftlichen Gruppen kennzeichnet, auf seinen Platz zu verweisen. So zitieren sie das Beispiel von Journalisten, die es nicht für nötig befunden hatten, sich dem normalen Erscheinungsbild in diesem Milieu anzupassen, und die prompt einen konventionellen Diskurs serviert bekamen, der kaum etwas mit den wahren Interessen und Motivationen der Befragten zu tun hatten. Neben diesem methodologischen Aspekt erfährt der Leser in kondensierter Form wesentliche Ergebnisse der einzelnen Forschungsprojekte. Dazu gehört nicht zuletzt, dass sich an diesem oberen Ende des gesellschaftlichen Spektrums eben nicht nur wirtschaftliches, sondern auch soziales, symbolisches und – einem weit verbreiteten Vorurteil zum Trotz – kulturelles Kapital akkumuliert. Insofern lässt sich von diesem Befund aus eine Brücke zu der aktuellen Debatte um die fortbestehenden Ungleichheiten in der Gesellschaft schlagen: „Ein besseres Verständnis der Ungleichheiten und der Lebensgewohnheiten der herrschenden Klassen ist an sich schon ein politischer Akt, da die Privilegien sich zunehmend den Blicken entziehen, sobald die Vermögensverhältnisse in einer älteren Vergangenheit wurzeln. Die Höhe der Vermögensverhältnisse, die vielförmige Zusammensetzung des Kapitals, das Verhältnis zu Kultur und Schule sind Aspekte, mit denen ein breiteres Publikum vertraut gemacht werden sollte. Während die Armut keine Geheimnisse mehr hat, erforscht und inventarisiert ist, entziehen sich die großen Familien der wissenschaftlichen Kenntnis. Insofern ist es mehr als legitim, sich für sie zu interessieren.“

© http://www.passerelle.de, Sommer 2003

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Im Übrigen haben Pinçon/Pinçon-Charlot (2001) ein sehr instruktives Paris-Buch vorgelegt, in der sich historische, urbanistische und soziologische Betrachtungen zu einem schönen Ganzen fügen, das jedem interessierten Paris-Touristen weitaus tiefere Einblicke in das Leben und Werden der französischen Hauptstadt gestattet als herkömmliche Reiseführer.
  2. Die beiden Autoren sehen darin einen weiteren Grund, warum die Sozialforscher diesem Milieu als Untersuchungsgegenstand skeptisch gegenüber stehen: „Die Sozialwissenschaftler laufen stets Gefahr, einem klassenspezifischen Ethnozentrismus gegenüber den zu untersuchenden Bevölkerungsgruppen zu verfallen. Im Falle der wohlhabenden Familien kann das dazu führen, dass sie als radikale Sozialkritik empfinden, was in Wahrheit lediglich der verfälschte Widerschein eines vagen Erkennens ihrer sozialen Stellung als Beherrschte ist“ (Pinçon/Pinçon-Charlot 2002: 105).

Armut in Europa. Über ‘Les formes élémentaires de la pauvreté’ Von Serge Paugam

Besprochenvon Michael Tillmann

Während in Deutschland in der Politik und auch in weiten Teilen der Bevölkerung lange Zeit der Eindruck vorherrschte, das Armenproblem sei endgültig gelöst, haben die letzten Jahre und Jahrzehnte gezeigt, wie verwundbar auch der deutsche Wohlfahrtsstaat ist. Wenn man die Typologie zugrunde legt, die der französische Soziologe Serge Paugam in einer theoretisch fundierten und empirisch überprüften internationalen Vergleichsstudie des Armutsphänomens entwickelt, so lässt sich demgegenüber die Vermutung äußern, dass Deutschland gerade am Scheideweg zweier Modelle der gesellschaftlichen Verarbeitung von Armut steht. Dem Autor zufolge können drei Idealtypen unterschieden werden, die er als integrierte, marginale bzw. disqualifizierende Armut bezeichnet. Die integrierte Armut betrifft in erster Linie wirtschaftlich schwach entwickelte Länder bzw. Regionen, in denen ganze Bevölkerungsschichten – oft über mehrere Generationen hinweg – mit sozialer Not konfrontiert sind, das Sozialversicherungssystem nur rudimentär ausgebildet ist und die Betroffenen sich mit familiärer Unterstützung und Einkünften aus der Schattenwirtschaft durchschlagen. Das idealtypische Modell der marginalen Armut betrachtet die soziale Notlage bestimmter Bevölkerungsgruppen als residual, da der ausgebaute Sozialstaat die Einkommensarmut stark reduziert und die Zahl der Betroffenen derart klein ist, dass das Problem zugunsten einer öffentlichen Debatte um die Verteilung erwirtschafteter Gewinne in den Hintergrund tritt. Diesem Modell wurde lange Zeit auch Deutschland zugerechnet, das sich damit in guter Gesellschaft befand, da hier vor allem die traditionell als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder beheimatet sind. Daneben entwickelte sich im Zuge einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit aber auch das Modell der disqualifizierenden Armut, in dessen Richtung sich derzeit auch Deutschland bewegen könnte. Dabei handelt es sich um eine Prekarisierung von Beschäftigungs- und Lebenslagen, die bis hinein in die Mittelschicht reicht und damit in weiten Teilen der Bevölkerung die Sorge vor sozialen Exklusionsprozessen weckt.

passerelle.de, 2006

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Populismus als demokratisches Basiselement. Über ‘Par le peuple, pour le peuple. Le populisme et les démocraties’ Von Yves Mény und Yves Surel

Besprochenvon Michael Tillmann 

In den vergangenen Jahren haben sich in Europa einige Bewegungen und Parteien herausgebildet, die mal als rechtsextremistisch mal als (rechts)populistisch bezeichnet  werden, wobei die Bezeichnungen bisweilen synonym, manchmal aber auch in unterschiedlicher Bedeutung verwendet werden. Diese Begriffsverwirrung zu klären und den überaus vagen und schillernden Begriff des Populismus wissenschaftlich zugänglich zu machen, haben sich die beiden Autoren der etwas mehr als 300 Seiten umfassenden Populismus-Studie zum Ziel gesetzt. Die Originalität des von Mény und Surel gewählten Ansatzes besteht darin, dass der Populismus als eine Bewegung beschrieben wird, die der Demokratie inhärent sei und von Zeit zu Zeit mal stärker mal schwächer zum Ausdruck komme. Mény/Surel beschreiben den Populismus neben dem so genannten „Konstitutionalismus“ als einen der beiden „Pfeiler der Demokratie“. Während der Konstitutionalismus zahlreiche institutionelle „Filter“ der Gewaltenteilung (starke Verfassungsgerichtsbarkeit, unabhängige Zentralbank, regionale Kompetenzverschiebung) und der Elitenbildung (in den und durch die Parteien) begründet hat, um die direkte Macht(ausübung) des Volkes – als suspekt empfunden – zu zügeln und zu kanalisieren, bezieht sich der Populismus explizit auf die Souveränität des Volkes, von dem alle Macht ausgehe und auszugehen habe. Angesichts eines mächtigen konstitutionellen Gegenpols macht der Populismus gegen die bestehenden Eliten in Politik und Wirtschaft (vor allem die Bankenmacht) mobil, mit dem Ziel, die politischen Entscheidungen stärker an das Ideal des Souveräns (das Volk) zurückzubinden und durch direkt-plebiszitäre politische Beteiligungsformen (keine Wahlkollegien, sondern Direktwahl, Volksinitiativen und -befragungen, möglichst genaue Entsprechung von Mandatsempfängern und Mandatssendern etc.) stärker zu bestimmen. Zwischen diesen beiden Tendenzen bewegen sich heute die Demokratien westlicher Prägung, und gerade weil diese im Laufe ihrer Entwicklungen den „konstitutionellen Pfeiler“ verstärkt haben, hat der Populismus als Herausforderung an das so gestaltete politische System wieder an Bedeutung gewonnen. Für die konkrete Analyse der vor allem als populistisch bezeichneten Parteien Front national, Lega Nord und FPÖ bedeutet dies einerseits, dass sie innerhalb des Parteien- und des demokratischen Systems eine funktional wichtige Rolle spielen, und andererseits, dass Populismus und Rechtsextremismus durchaus keine per se austauschbaren Begriffe sind. Der Populismus ist ein Grundpfeiler des demokratischen Systems, das der Rechtsextremismus gerade ablehnt und zu stürzen versucht, was aber keineswegs Berührungspunkte ausschließt, wie sie oftmals zum Beispiel im Rassismus zu finden sind. Und schließlich bedeutet dies noch ein Drittes: Der Populismus ist als so genannte „schwache“ Ideologie, d.h. mit nur vagen inhaltlichen Bestimmungen im Vergleich zu starken Ideologien wie Kommunismus und Liberalismus, kein Erbe einer Partei, sondern wird auch von den zweifelsohne demokratischen Akteuren zur Mobilisierung der Wählerschaft abgerufen. Neben diesem demokratietheoretisch hergeleiteten institutionellen Hintergrund des Populismus analysieren die beiden Autoren die aktuellen Entwicklungen, die zu dessen Entstehen beigetragen haben: im wesentlichen Globalisierung und die Legitimationskrise, die das politische System, zumindest aber die traditionellen Parteien ergriffen hat. Die mit einem präzisen theoretischen Instrumentarium und durchweg vergleichend arbeitende Studie mündet schließlich in einen systematischen Vergleich der „populistischen“ Herausforderungen in Frankreich (Front national), Österreich (FPÖ), Italien (Forza Italia, Lega Nord, Alleanza nazionale) und auch Belgien (Vlaams Blok). Die USA dienen insofern ebenfalls als steter Bezugspunkt, als das Parteiensystem dort traditionell von populistischen Bewegungen heimgesucht wird. Dabei werden sowohl die Entstehungsmodalitäten der in Rede stehenden Parteien unter die Lupe genommen als auch deren wahlsoziologische Zusammensetzung (vor allem der Front national). In dem Schlusswort weist der Autor auf den Nutzen und die Gefahren des Populismus hin (vgl. Übersetzungsprobe). Es handelt sich bei dem genannten Buch um eine sehr dichte und vollständige Beschreibung eines Phänomens, das konstitutiv ist für die westlichen demokratischen Gesellschaften. Es hat das Verdienst, einen modischen Begriff inhaltlich zu füllen und plausibel in seinen verschiedenen theoretischen, historischen, ideologischen und politischen Facetten darzustellen. Der vergleichende Ansatz, der mit neuesten Daten (Wahlen in Österreich und Regionalwahlen in Italien) arbeitet, schlägt einen souveränen Pfad durch das Dickicht der empirischen Realität und schlägt einen überzeugenden Analyserahmen des so alten und gleichzeitig auch so präsenten Phänomens vor. Die Lektüre setzt natürlich ein gewisses Interesse für politische Zusammenhänge und politikwissenschaftliche Erklärungsansätze voraus. Es ist hierin vergleichbar mit einer Publikation von J.W. Falter, Wer wählt rechts? (Beck’sche Reihe, 1994), in der sich der Autor sowohl anspruchsvoll als auch allgemein verständlich mit einem aktuellen Problem auseinandersetzt.

© passerelle.de, Winter 2000

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