„Coffeeshop“: Multimediales Erzählen in der ‚Literatur‘

Besprochen von Alexander Karl

Das ist der Literaturbranche bestimmt nicht Latte (Macchiato): Denn Coffeeshop von Gerlis Zillgens stellt einen Bruch mit den gängigen Buchkonventionen dar. Zunächst einmal ist es kein haptisches Buch, sondern eine E-Book-Serie mit 12 Episoden (wahlweise auch als Hörbuch oder als Read & Listen Version verfügbar). Darin erlebt die Sachensucherin Sandra die unterschiedlichsten Abenteuer mit ihren drei besten Freunden, deren zentraler Treffpunkt der „Coffeeshop“ ist, das Café ihres schwulen Freundes Captain. Allein die Episodenhaftigkeit und somit die strukturelle Anlehnung an TV-Serien mag für den Literaturbetrieb ungewöhnlich sein. Dabei stellt dies aber nur Basis-Version der Erzählung dar. Denn die „Coffeeshop“-App sorgt für ein kunterbuntes Story-Erlebnis.

Multimediale App

Multimedial wird Coffeeshop vor allem durch die App, die es parallel zu den anderen Produkten gibt: Jede der 12 Episoden in der App besteht nicht nur aus geschriebener Handlung, sondern reichert sie multimedial an. Kurze Filme greifen Handlungselemente auf, führen sie aus und kommentieren sie. Comicsequenzen zeigen die Gedanken der Protagonistin Sandra. Zudem werden Gespräche mit ihrem Vater auf rein auditiver Ebene eingebunden. Hinzu kommen weitere Elemente, um weiter in das „Coffeeshop“-Universum einzutauchen: Die Tagesgerichte des Coffeeshops lassen sich mittels der abrufbaren Rezepte nachkochen und Steckbriefe fassen die Eigenheiten der Protagonisten zusammen. Eine weitere Perspektive auf die Handlung wird durch die jeweils zur Episode passenden Kolumnen von Captain geboten. Hinzu kommen ein Spiel sowie Musik- und Büchertipps der Protagonistin, wobei letztere ins Web ausgelagert sind. Zusätzlich kann man sich die Episoden auch vorlesen lassen.

All das, was sonst transmedial ist

Mit dieser App geht Coffeeshop weit über das hinaus, was der Literaturliebhaber alter Couleur kennt: Statt ‚nur‘ gedruckte Worte auf Papier zu liefern, schafft Coffeeshop ein multimediales Erlebnis, das weit über die eigentliche Buchlektüre hinausgeht und innerhalb einer App all das versammelt, was in TV-Serien sonst gerne transmedial ausgelagert wird. Etwa bei der Erfolgsserie Breaking Bad, die online mit den Blogs der Figuren Marie und Hank sowie Graphic Novel Games und einigen Minisoden aufwartet – wie Jason Mittell in seinem online vorab publizierten Buch Complex TV : The Poetics of Contemporary Television Storytelling beschreibt, dienen die transmedialen Erzählungen von Breaking Bad vor allem dazu, den (Neben-)Figuren zusätzliche Tiefe zu verleihen. Ähnliches lässt sich auch bei Coffeeshop mit der Kolumne von Captain feststellen, da die eigentlichen Episoden aus Sandras Ich-Perspektive erzählt werden. Und auch die kurzen Videos ermöglichen Kommentare der weiteren Hauptdarsteller und Nebenfiguren, etwa Sandras Eltern.

Doch wie neu ist dieses Vorgehen? „Coffeeshop ist ein multimediales Projekt, bei dem erstmals ein Verlag und eine Filmproduktionsfirma zusammenarbeiten und ihre Stärken in einer neuen Form des Storytellings verbinden“, heißt es in einer Presseinformation.

Mehr noch: Coffeeshop stellt ein Beispiel für Paradigmenwechsel der Buchwelt dar, die zusehends mit hochwertig produzierten (und komplexen) TV-Serien konkurrieren muss, die als Romane der Neuzeit gefeiert werden. Daher scheint es nur logisch, die Stärken der unterschiedlichen Medien zu vereinen und dadurch ein multimediales Gesamterlebnis zu schaffen.

 

Die Rezension erschien zuerst am 11. Juni 2013 auf media-bubble.de.

Paulette – Eine raubeinige Krimikomödie nach einer wahren Geschichte

Besprochen von Pia Klein

  • Paulette. Frankreich 2012. 87 Min. Regie: Jérôme Enrico. Mit Bernadette Lafont, Carmen Maura, Dominique Lavanant.

Die alte Paulette lebt in einem der berüchtigten Pariser Banlieues. Früher betrieb sie mit ihrem Mann ein Café. Nun ist der Mann gestorben. Das Café ist von Asiaten aufgekauft worden. Die Rente reicht hinten und vorne nicht. Paulette weiß sich aber mit Erfindungsreichtum und Schätzen aus den Müllcontainern zu helfen. Bis sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen kann und ihre komplette Wohnungseinrichtung gepfändet wird. In ihrer Verzweiflung eifert die alte Dame schließlich den Halbstarken im Viertel nach und wird eine Hasch-Dealerin. Darin ist sie bald so erfolgreich, dass sie den professionellen Drogenhändlern zur missliebigen Konkurrentin wird.

Die Ausländer haben ihr alles weggenommen. Darüber klagt sie bei ihrem Beichtvater, der zwar schwarz ist, es aber Paulette zufolge verdient hätte weiß zu sein. Schwarz ist auch der Mann, den ihre Tochter geheiratet hat. Doch der ist praktischerweise Polizist. Was liegt da näher, den Schwiegersohn auf dem Revier zu besuchen und ihm die Geheimnisse der Drogenfahndung zu entlocken? Ein brutaler Kontrast zum schwarzen Humor des Films ergibt sich, als Paulette von konkurrierenden Dealern zusammengeschlagen wird. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Regisseur Jérôme Enrico eine wahre Begebenheit erzählt. Das Ende kommt dennoch sehr aufgesetzt daher. Die neue Bilderbuchfamilie verkauft Haschkekse in Holland – ganz legal. Warum kauft die raffinierte Alte mit dem Geld aus der Dealerei nicht ihr Café von den Asiaten zurück?
Bernadette Lafont spielt die Charaktere der Paulette wunderbar griesgrämig überzeugend und ist die eigentliche Attraktion des Films. Ein würdiger Abschluss der Filmkarriere der im Juli 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Schauspielerin.

 

Oh Boy

Besprochen von Pauline Fois

  • Oh Boy. Deutschland 2012. Regie : Jan Ole Gerster. Mit : Tom Schilling, Frederike Kempter u.a. 88 min.

Niko hat sein Jura-Studium vor zwei Jahren abgebrochen, was sein Vater schließlich  entdeckt. Seine Freundin hat ihn verlassen. Er beschließt, nach Berlin zu ziehen. Der Kinozuschauer erlebt nun Nikos ersten Tag in der Hauptstadt. Sein Nachbar empfängt ihn mit einem selbstgemachten Kuchen und erzählt ihm weinend nach fünf Minuten von seinen Eheproblemen. In einem Café erkennt ihn eine Frau, die während der Schule in ihn verliebt war. Dann wird seine Karte vom Geldautomat verschluckt und er muss seinen Vater um Geld bitten. Es sind Alltagszenen, die scheinbar willkürlich aneinander gereiht werden. Sie werden aber immer tragischer.

Obwohl der Film in der Gegenwart spielt, ist er in Schwarzweiß gedreht. Diese nostalgische Stimmung wird verstärkt durch einen jazzigen Soundtrack. Der Film ist eine gelungene Mischung aus Tragödie und Komödie. Er schildert den Snobismus Berliner Lokalitäten, in dem es fast unmöglich ist, einen „normalen“ Kaffee zu bestellen. Am Ende lernt Niko in einem Café einen alten Mann kennen, der ihm sein Leid mit der neuen Zeit klagt. Die beiden verstehen sich gut, doch als der alte Mann das Café verlässt, trifft ihn der Schlag. Niko folgt ihm ins Krankenhaus. Aber da er kein Verwandter ist, erfährt er nicht einmal den Namen des gerade Verstorbenen.

Der Film ist gerade aufgrund seiner ruhigen Erzählweise interessant. Zeitweise vergisst man die Handlung über den schönen Bildern und der stimmungsvollen Musik. „Oh Boy“ ist ein Gegenentwurf zu den Erfordernissen unserer hektischen, erfolgsorientierten Zeit. Niko träumt von einem neuen Anfang in einer großen Stadt, in der niemand ihn kennt. Als Französin würde ich diesen  mit sechs „Lolas“ prämierten Film mehr empfehlen als „Lola rennt“. Selbst wenn Tykwers rasanter Kinoerfolg gut gemacht ist, hat er nicht die Tiefe von Gersters Film. Hat ein Erwachsener das Recht, ein Leben als Träumer zu führen? Sollte er nicht besser einen Job finden als vom Vermögen des Vaters zu leben? Während man mit „Lola rennt“ einfach eine gute Zeit hat, lädt „Oh Boy“ dazu ein, sich wie der Protagonist mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen.

Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Besprochen von Hans W. Giessen

  • Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 425 S., EUR 74,90.

Dass ich das Thema des Buches wichtig finde, wird bereits daran sichtbar, dass ich für besprochen@avinus bereits Texte zu Robert D. Putnam und zum Buch von Youssef Courbage und Emmanuel Todd geschrieben habe, die ähnliche Fragestellungen betreffen. Der Band von Courbage und Todd mit dem französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist eine direkte Reaktion auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996. Auch Christoph Antweiler beschäftigt sich mit diesen Fragen, und bis zu einem gewissen Grad ist auch sein Buch ein Rejoinder Huntingtons.

Dabei geht es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich mitunter mit Unverständnis gegenüberstehen, manchmal antagonistisch, und es sogar kulturell motivierte Terrorakte und Kriege gibt. Es geht darum, dass man Kulturen nicht auf ihre Gegensätze reduzieren kann. Denn es gibt auch zahlreiche anthropologische Konstanten beziehungsweise „Universalien“. Sie sind in der Realität immer wieder Brücken zwischen den Kulturen. Zudem wandeln sich Kulturen: Vom Wikinger zum heutigen Skandinavier war es ein weiter Weg, der offenbar innerhalb einer „Kultur“ zurückgelegt wurde. Es ist also falsch, Kulturen als unwandelbar und einander unverständlich darzustellen. Mehr noch: Es kann sogar gefährlich sein, denn das hieße ja, es wäre bestenfalls ein Nebeneinander möglich, schlimmstenfalls wären Krieg und Terror die einzigen Möglichkeiten des Kontakts, keineswegs aber wäre ein friedliches Miteinander auf der Erde denkbar.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade Ethnologen nur auf die Differenzen der verschiedenen Kulturen abstellen. Dafür gibt es viele prominente Beispiele, von Franz Boas bis Clifford Geertz. Gewiss, sie verstehen sich als empirische Wissenschaftler, und hier fällt eher das Unterschiedliche auf – das man sogar messen kann, wie es Geert Hofstede gemacht hat. Seine Ergebnisse sind das statistische Resultat von rund 100.000 Fragebögen. Diese Ergebnisse ermöglichen in der Tat ein besseres Verständnis kulturabhängigen Verhaltens.

Allerdings spielt menschliches Verhalten sich auf mehreren Ebenen ab, wie nicht zuletzt Hofstede selbst bestätigt. Jedes Individuum ist einzigartig und verhält sich in spezifischen Situationen so wie kein anderer Mensch sich verhalten würde. Dann gibt es in der Tat die Ebene der Kultur. Vergleichbar wichtige (und messbare) Ebenen sind aber auch soziale Stellung oder der weltanschauliche Kontext. Ich kann mich oft besser mit einem türkischen Universitätsangehörigen unterhalten (mit dem ich, trotz unterschiedlicher Kultur und Sprache, doch einiges an Erfahrung gemeinsam habe) als Mitgliedern des eigenen Kulturkreises, die aus einem ganz anderen Milieu stammen.

Schließlich gibt es eine weitere Ebene – ebenfalls von Hofstede bestätigt –  die von vielen Ethnologen aber offenbar ignoriert wird: diejenige anthropologischer Konstanten, das, „was allen Menschen gemein ist“, die „Universalien“, wie Christoph Antweiler sie nennt. „Was ist den Menschen gemeinsam?“ lautet der Titel seines Buches.

Christoph Antweiler wurde 1956 im Rheinland geboren, studierte in Köln Ethnologie, Paläontologe und Geologe und promovierte in Ethnologie. Seine Feldforschung hat er auf der indonesischen Insel Sulawesi durchgeführt; die dabei entstandene Studie arbeitete er zu seiner Kölner Habilitation aus. Zunächst hatte er den Ethnologie-Lehrstuhl an der Universität Trier inne, heute ist er an der Universität Bonn tätig. Inzwischen hat er sich zu einer der prominentesten Stimmen in Deutschland entwickelt, die nach Gemeinsamkeiten menschlichen Verhaltens trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen sucht.

Antweiler wehrt sich dagegen, dass „kulturelle Differenz gegenwärtig die globale Leitwährung des Denkens über Kultur“ ist und dass von einem „wieder erstarkten Denken von Kulturen als Kugeln, Monaden oder Containern“ geredet wird. Auch wenn diese Aussage ein wenig zu verallgemeinernd ist – in der Tendenz hat er bedauerlicherweise recht. Dennoch kippt Antweiler nicht ins andere Extrem. In der Einleitung macht der Autor deutlich, um was es ihm geht:

Autoren werden von Journalisten oft gebeten, ihr Buch in einem Satz zusammenzufassen. Angesichts dieses umfangreichen Buches gönne ich mir für diese Kurzformel drei Sätze: Es existiert eine enorme Vielzahl zwischen und innerhalb der Kulturen der Menschen, aber es gibt dennoch viele Phänomene, die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen. Diese Universalien sind teilweise in der Biologie des Menschen begründet, teils haben sie aber auch andere, soziale, kulturelle und systemische Ursachen. Wir brauchen Kenntnisse über Universalien für eine empirisch fundierte Humanwissenschaft und dieses Wissen ist auch praktisch relevant für realistische Lösungen menschlichen Zusammenlebens.

Antweiler will also die „Universalienforschung rehabilitieren“, indem er Universalität und Vielfalt zusammenbringt, „statt sie gegeneinander auszuspielen“, wobei sein Schwerpunkt bei den von den meisten Fachkollegen vernachlässigten Universalien liegt.

Der Einführung folgt ein historischer Überblick über das „Denken über Universalien“. Dabei überschreitet Antweiler wiederholt die Grenzen des Faches Ethnologie – sein Buch ist im besten Sinn interdisziplinär. Es behandelt entgegen der heutigen eindimensional ethnologischen Sicht „uralte Fragen zu Menschen und Kulturen“. Antweilers Spektrum reicht von der philosophischen Anthropologie (die nach dem „Wesen des Menschen“ fragt) bis hin zu Hofstedes ökonomischen Blick, dazwischen finden sich soziologische oder psychologische Ansätze. Auf dieser Grundlage gelingt es Christoph Antweiler, eine profunde Basis menschlicher Universalien zusammenstellen. Neben der sozialwissenschaftlichen und kulturellen Vorgehensweise richtet sich seine Aufmerksamkeit außerdem auf die „evolutionäre Erklärung“ (evolutionary explanation) als „dritte grundlegende Möglichkeit, Universalien zu erklären“. Ein Glossar, eine umfassende Bibliographie, ein Register mit Stichworten und Autorennamen sowie ein Anhang mit neun Universalienlisten runden das Werk ab.

 

Kleine Wunder in Athen

Besprochen von Laura Erler

  • Kleine Wunder in Athen (Akadimia Platonos), Regie: Fillipos Tsitos, Produktion: Deutschland, Griechenland 2009, Laufzeit: 103 Minuten.

Griechenland noch vor der großen Krise: Stavros‘ (Antonis Kafetzopoulos) Leben als Kioskbesitzer ist ziemlich trostlos. Das Geschäft läuft miserabel, seine einzigen Kunden sind seine ebenso erfolglosen verschrobenen Freunde. Um die Zeit totzuschlagen, sitzen sie täglich untätig vor seinem Geschäft, philosophieren über Rockmusik oder spielen Fußball. Dabei ziehen sie über die unerwünschten ausländischen Arbeiter her. Als albanische Bauarbeiter  ein „Denkmal für interkulturelle Solidarität“ vor ihrer Tür aufstellen wollen, platzt ihnen der Kragen. Solidarität? Albaner sollen billige Arbeitskräfte für die Griechen sein, sonst nichts. Kurzerhand reißen sie das Projekt nieder und beschließen: „Ihr baut auf, wir zerstören“.

Bis eines Tages der albanische Arbeiter Marenglen in Stavros‘ Wohnzimmer sitzt und behauptet, er sei sein Bruder, der bei der Umsiedlung der Familie nach Athen in Albanien zurückgelassen wurde. Die  Mutter bestätigt die Geschichte und glaubt, sich auf einem alten Familienfoto des Fremden zu erkennen. Stavros‘ Welt steht Kopf: seine Mutter spricht plötzlich  Albanisch und stellt seine gesamte Identität infrage. Die rassistische Parole seiner Freunde „Albaner, ihr werdet niemals Griechen sein“, bekommt plötzlich einen faden Beigeschmack. Stavros beginnt darüber nachzudenken, ob nun Herkunft und Sprache oder aber  Sozialisierung für die Identität ausschlaggebend ist. Dabei gerät er unweigerlich mit seinen fremdenfeindlichen Kumpels aneinander.

„Kleine Wunder in Athen“ des Regisseurs Fillipos Tsitos beäugt kritisch und zugleich wunderbar ironisch den alltäglichen Rassismus, der in Griechenland seit Generationen selbstverständlich ist. Der Film ist ein Plädoyer für kulturelle Toleranz – eine Thematik, die allerdings nicht nur in Griechenland eine große Rolle spielt. Der Film versucht nicht, mit reißerischer Hollywoodkomik zu überzeugen. „Kleine Wunder in Athen“ arbeitet  mit ruhigen Bildern, auf die man sich einlassen muss. Der feinsinnige Humor und die Ironie werden von einem Publikum, das noch nie in Griechenland war, vielleicht nicht immer verstanden. Der griechenlandaffine Zuschauer dagegen genießt urkomische Situationen und erkennt die Eigenheiten der Griechen in jedem Moment wieder. Man fühlt mit dem Protagonisten, als der sich inmitten eines albanischen Folkloreabends wiederfindet. Der Hund „Patriot“, der bei Albanern anschlägt, kläfft nun auch Stavros an. Wenn Stavros‘ pflegebedürftige Mutter im Glauben, ihre Söhne vereint zu haben, erstmals nach langer Zeit glücklich ihren Teller leer isst, verstehen wir auch die emotionale Dimension der Einwanderungsproblematik. Die kauzigen Charaktere sind authentisch und sympathisch, obwohl man sich stetig für sie fremdschämt. Die Darsteller überzeugen in ihrer Ambivalenz – als faule Schmarotzer ebenso wie als sich sorgende Freunde.

 

Vom Verschwinden des Qualitätsjournalismus

Besprochen  von Bastian Buchtaleck

  • DONSBACH, W./ RENTSCH, M./ SCHIELICKE, A.M./ DEGEN, S. (Hrsg.): Entzauberung eines Berufs. Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden. UVK, Konstanz 2009. ISBN 978-3-86764-192-0.
vom verschwinden des qualitätsjournalismus                                     © UVK – Verlag

 

Die Ergebnisse des Buchs „Entzauberung eines Berufs“ sind nicht nur alarmierend, sie sind niederschmetternd: „Die Mehrheit der Befragten, darunter gerade auch die Jungen, hält Journalisten für unmoralisch, rücksichtslos, manipulativ, bestechlich und – überraschend im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion als vierte Gewalt – für zu mächtig. Zudem fühlen sie sich nicht sachlich genug informiert.“ Ebenso wird eine Studie zitiert, wonach acht von zehn Zeitungsredakteuren einräumen, dass im redaktionellen Teil der eigenen Zeitung auf die Interessen von Inserenten Rücksicht genommen wird.

Das alles klingt wahrlich ernüchternd. Doch worin bestand der Zauber des Berufs Journalist ursprünglich? Walter Donsbach und seine Co-Autoren schreiben, „Recherchetiefe, Neutralität und Fairness“ seien zentrale Merkmale des Journalismus gewesen. Lange Zeit war Journalismus eine Instanz, die die Wahrheit über finanzielle und persönliche Interessen gestellt hat und darum eine Kontrollfunktion auf Wirtschaft und Politik ausübte. Gleichzeitig brachten Journalisten das Neueste vom Tage in die Haushalte.

Journalismus in Deutschland – kein Vertrauen und wenig Glaubwürdigkeit

Die Ergebnisse der Studien rechnen deutlich mit dieser offensichtlich nicht mehr aktuellen Einschätzung ab. Gefragt wurden deutschlandweit 1054 Personen ab 18 Jahre. Ihr Bild vom derzeit praktizierten Journalismus ist düster. Weniger als Journalisten vertrauen die Deutschen nur noch Managern und Politikern.

Für die Erosion der Glaubwürdigkeit des Berufsstandes machen die Autoren mehrere Gründe aus. Allen voran den wachsenden Online-Markt, der andere Anforderungen an die Journalisten stellt als die klassischen Printausgaben. Seit im Internet fast alle Informationen und Nachrichten sekundenschnell verfügbar sind und ebenso schnell übernommen werden können, ist es schwierig, mit exklusiven Nachrichten und hoher Geschwindigkeit positiv herauszustechen. Es gibt immer mehr Anbieter, die dieselben Inhalte im Überfluss anbieten.

Mehr Anbieter bedeuten gleichzeitig weniger Auflage oder Klicks pro Angebot. Um trotzdem ein möglichst großes Stück des verbleibenden Kuchens zu erhalten, passen die Redaktionen ihre Inhalte an die Nachfrage an. Sie ändern sich in Richtung Personalisierung (People), Emotionalisierung (Klatsch) und Skandalisierung – kurz: das was man unter Boulevard versteht.

Soft News verdrängen die klassischen Hard News

Diese neuen Themen werden als Soft News bezeichnet. Sie unterscheiden sich von den Hard News dadurch, dass sie mehr auf Gerüchte und Spekulationen setzen als auf Fakten. Obwohl der Studie nach die meisten Zeitungsleser Soft News ablehnen, sind jene Zeitungen und Webseiten, die in erster Linie mit Soft News arbeiten, stärker nachgefragt als seriöse Angebote. Der Verdacht liegt nahe: auf die „Entzauberung eines Berufs“ folgt auch die Entzauberung des Lesers. Offensichtlich bevorzugen Leser in Umfragen andere Inhalte als sie sie schließlich am Kiosk oder im Internet nachfragen. Anspruch und Wirklichkeit gehen nicht nur bei den Journalisten auseinander.

Den Leser zu journalistischer Qualitätsarbeit nötigen

Vor diesem Hintergrund scheint es sogar möglich, dass der klassische Journalismus gerade darum gut gewesen ist, weil er seine Monopolstellung ausgenutzt und nicht auf die Bedürfnisse seiner Leser geachtet hat. Es gab ihn nur als Gesamtpaket und alternativlos in Form einer Tageszeitung. Wer Vermischtes lesen wollte oder Sport, musste immer erst an Wirtschaft und Politik vorbei. Der Leser wurde also ein Stück weit zum Qualitätsjournalismus genötigt. Man konnte es sich leisten, der Leser war auf die Zeitung oder Zeitschrift als Informationsquelle angewiesen. Journalismus hat sich lange auf einem künstlichen Plateau befunden. Nun wandelt sich der Journalismus, weg von einem Vollangebot und hin zu einem an der Nachfrage orientierten Journalismus.

Insgesamt liegt der Titel „Entzauberung eines Berufs“ vollkommen richtig. Früher war der Beruf des Journalisten irgendwie magisch. Er war der weiße Ritter gegen Korruption und Lüge. Doch die Zeiten haben sich geändert. Mit dem Internet sind Nachrichten Massenware geworden und wahrscheinlich ist es so, dass der Journalismus erst jetzt sein wahres Publikum findet. Das Buch zeigt dies gut auf, auch wenn der Anteil, den der Lesers daran hat, nicht genügend gewürdigt wird. Guter, ausführlicher, intensiv recherchierter Journalismus ist teuer, und die Gesellschaft muss entscheiden, wie viel ihr Qualitätsjournalismus wert ist.

 

„Freie Journalisten in Deutschland“-Verdünntes Weihwasser

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MEYEN, Michael/ SPRINGER, Nina/ in Kooperation mit dem DFJV: Freie Journalisten in Deutschland. UVK, Konstanz 2009. ISBN: 978-3867641562.

freie journalisten ein deutschland- verdünntes weihwasser

                                       © UVK – Verlag

 

Bereits 2006 stellte der ehemalige Chef des Deutschen Journalistenverbandes Siegfried Weischenberg fest, dass „die Professionalität und die Identität des Journalismus bedroht“ seien. Er bezeichnete den Traumberuf vieler junger Menschen als ‚Weihwasser‘, das die Kommunikationsverhältnisse der Gesellschaft durchaus reinige, sieht es jedoch als schon reichlich verdünnt an. Nun haben Michael Meyen und Nina Springer in Kooperation mit dem Deutschen Fachjournalisten-Verband auf 180 Seiten einen umfassenden Report zusammengetragen. Er basiert auf einer vom Institut für Kommunikations­wissenschaft und Medienforschung der Universität München konzipierten Online­befragung von mehr als 1500 Journalisten und 82 Interviews. Um mehr über die berufliche Situation freier Journalisten in Deutschland zu erfahren, wurden die Teilnehmenden zu den Themen Werdegang, Arbeitsalltag und zu ihrem Selbstverständnis befragt.

Freie Journalisten seien in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, so die Autoren. Zum einen würden die Inhalte verschiedener Medien verstärkt von Freien produziert, während die fest angestellten Redakteure rein administrativ tätig seien. Zum anderen seien freie Journalisten ökonomisch attraktiv für Unternehmen, da sie häufig geringer entlohnt würden und nicht vertraglich gebunden seien. Sie stellten also zum inhaltlichen auch einen großen wirtschaftlichen Faktor dar. „Freie Journalisten benötigen im Unterschied zu Redakteuren eine doppelte Kompetenz: sie müssen nicht nur journalistisch arbeiten können, sondern auch Unternehmergeist besitzen“, stellen die Autoren fest.

Der Report entwirft ein deutliches Bild der Aufgaben, Chancen, Probleme und Möglichkeiten freier Journalisten. Auch nach dem beruflichen Status selbst und den Einkommensverhältnissen wird gefragt. Dem Selbstverständnis ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Letzteres sei geprägt vom „Ideal des neutralen Vermittlers“. Hierzu wurde eine „Selbstverständnis-Typologie“ erstellt, deren Unterteilung in Journalismus-Typen wie dem ‚Politiker‘, dem ‚Dienstleister‘, dem ‚Selbstverwirklicher‘ und weiteren sehr schlüssig scheint. Im letzten Kapitel wird zusätzlich eine ‚Typologie der freien Journalisten‘ entwickelt. Hierbei unterscheiden die Autoren zum Beispiel zwischen den ‚Redakteuren‘, den ‚Unternehmern‘ und den ‚Künstlern‘. Beide aufgestellte Typologien sind klug gewählt und begründet.

Meyen und Springer zeigen auch deutlich die Probleme auf, mit denen freie Journalisten umgehen müssen und die eine Bedrohung des ‚Weihwassers-Journalismus‘ darstellten. Selbständigkeit sei zwar die Freiheit, den Tag selbst einteilen zu können, zugleich ließen sich aber oftmals Geschäftliches und Privates nicht trennen. Außerdem klagten einige der befragten Journalisten, sie müssten aus Angst, in Zukunft nicht wieder berücksichtigt zu werden oder auch aus finanziellen Gründen jeden Auftrag annehmen. Der Report zeigt, dass die Freien – gemessen an der meist hochwertigen Ausbildung –  relativ schlecht bezahlt werden und darüber hinaus stark von den Redaktionen abhängig sind. Durch diese doppelte Unsicherheit können Freiberufler nur schwer ein missionarisches Statement oder eine eigene Politik entwickeln. Mehr noch: Freie Journalisten sind dazu gezwungen, andere Jobs anzunehmen. Die PR als verwandte Branche ist da für viele eine verlockende Alternative. Dort wird geregelter und besser bezahlt und außerdem bietet sie Raum für eigenes kreatives Schreiben – das ‚Weihwasser‘ allerdings verdünnt sich auf diese Weise.

Insgesamt ist der Report „Freie Journalisten in Deutschland“ keine Anleitung für die Praxis – der freie Journalist kann wenig mehr daraus lernen, als dass er mit seinen Problemen nicht alleine ist. Aber die Arbeit erhellt in einer verständlichen Sprache die ‚Blackbox‘ des freien Journalismus. Sie kann dabei Faktoren identifizieren, die ein besseres Einkommen ermöglichen, und die allgemeinen Bedingungen des Berufsstands deutlich darlegen. Gleichzeitig stellt der Report fest, dass Freiberuflichkeit mit Unsicherheiten und geringem Einkommen verbunden ist: Der Gehalt des ‚Weihwassers‘ nimmt mit dem Gehalt der Journalisten ab. Es mag also zwar dünner geworden sein, aber es ist – das zeigt „Freie Journalisten in Deutschland“ auch – immer noch gehaltvoll genug.

 

NAURU ist überall

Besprochen von Leif Allendorf

  • FOLLIET, Luc: Nauru – Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte. Wagenbach-Verlag 2011. ISBN: 978-3803126542.
Nauru                                            © Wagenbach Verlag

 

In seiner Studie „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ beschreibt der Amerikaner Jared Diamond in einem Gedankenspiel, wie der letzte Baum der Osterinsel von der Urbevölkerung gefällt wurde. Der ganze Wald ist bereits abgeholzt worden, damit die Pazifikbewohner die berühmten Steinstatuen errichten und transportieren konnten. Nun ist nur noch ein letzter Baum übrig. Die Bewohner der Osterinsel waren keine dummen Kreaturen, es waren Menschen von Verstand wie wir. Und trotzdem fällten sie um etwa 1500 nach Christus den letzten Baum und zerstörten damit sehenden Auges die letzte Möglichkeit, dass sich die Insel wieder bewaldete. Was mag den Holzfällern durch den Kopf gegangen sein, als sie den letzten Baum der Insel mit ihren Steinäxten niederwarfen?

Fünfhundert Jahre später ereignete sich auf Nauru, einer ebenfalls kleinen isolierten Pazifikinsel, ein ähnliches Desaster. Die polynesische Bevölkerung benutzte keine Steinäxte, um ihre idyllische Heimat zu ruinieren. Auch waren Bagger, Kräne und Fabrikschlote nicht das Mittel, um den Untergang herbeizuführen (obwohl sie der Insel ihre Spuren hinterlassen haben). Das Inselparadies am anderen Ende der Welt wurde mithilfe der freien Marktwirtschaft zerstört.

Nauru ist etwa 20 Quadratmeter groß und wird von weniger als 10.000 Menschen bewohnt. Der Vogelkot hat sich auf der Oberfläche aus abgestorbenen Korallen im Laufe der Jahrtausende zu einer Phosphatschicht vermengt. Phosphat ist eine Ressource, die sich mit Erdöl vergleichen lässt. Weltweit werden damit ausgelaugte Böden gedüngt. So wie die Industrie Erdöl benötigt, ist die globale Landwirtschaft auf Phosphat angewiesen. Wer über diese Ressource verfügt, ist reich. Und Nauru bestand aus Millionen und Abermillionen Tonnen dieser Substanz.

In der Zeit vor, während und nach den beiden Weltkriegen war Nauru ein Spielball der Kolonialmächte und Machtblöcke. Doch in den 60er Jahren hatten einige junge Inselbewohner Universitäten in Australien und die USA besucht und wussten nun, wie die westliche Welt ihre Heimat ausbeutete. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen erlangte die Insel 1968 ihre Unabhängigkeit und die alleinige Kontrolle über den Handel mit Phosphat, der bislang in der Hand britischer und australischer Firmentrusts gelegen hatte. Die unermesslichen Erträge flossen direkt in die Taschen der Inselbewohner und machten die bislang armen Menschen quasi über Nacht zu Millionären. Von der Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit befreit verbrachten die Nauruer ihre vollständige Zeit damit, ihr Geld mit vollen Händen auszugeben, mit wöchentlich neu erworbenen Luxusautos um die einzige Straße der Insel zu kurven und chinesischen Gastarbeitern die Maloche des Phosphatabbaus zu überlassen.

Wer zu viel Geld hat, um es auszugeben, der legt es an. Und wird es richtig angelegt, dann bringt dies noch mehr Geld, das wiederum angelegt werden muss. Die Befreier Naurus hatten dies auch geplant, um die Zukunft des winzigen Inselstaates zu sichern. Irgendwann würden die Phosphatvorkommen erschöpft sein – und dann musste Nauru auf anderen Beinen stehen. Durch Unerfahrenheit und Leichtsinn gerieten die Dollarmillionen in die Hände windiger Spekulanten, die es darauf angelegt hatten, die Naivität der Nauruer zu benutzen, um sich selbst zu bereichern. Das dafür verantwortliche Establishment Naurus – fast jede Familie stellte irgendwann einen verantwortlichen Minister oder Behördenchef – fürchtete sich, die Fehlschläge einzugestehen und versuchte, die Verluste mit noch größeren Unternehmungen wiedergutzumachen, die allerdings noch größere Verluste verursachten. Verdrängung und Verleugnung der dringendsten Probleme und Fehlentwicklungen ließen das reichste Land der Erde unausweichlich auf den ökonomischen Untergang zusteuern. Den Abschluss der unabwendbaren Abwärtsspirale stellte der verzweifelte Versuch dar, mit Krediten wieder zu Geldmitteln zu kommen, was aber letzten Endes nur bewirkte, dass weitere Kredite aufgenommen werden mussten, um die Zinsen des vorhergehenden Darlehens zu beziehen.

Überliefert hat uns diese Geschichte der französische Journalist Luc Folliet in seinem Buch „NAURU – Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte“, das soeben im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Ende 2005 reiste er nach Nauru, „um selbst zu sehen, ob das alles wahr ist“. Können wir s glauben? Auf GoogleEarth kann man den Namen der Insel eingeben. Die Weltkugel dreht sich, wendet uns den unendlichen Pazifischen Ozean zu und zoomt auf eine winzige Insel, etwa vier Kilometer lang und drei Kilometer breit. Wir können weiter hinabtauchen und erkennen die Ringstraße, die entlang der Küste einmal um die Insel führt. Wir erkennen die Start- und Landebahn im Süden, direkt neben der Hauptstadt Yare. Im Nordosten sehen wir den verfallenen Fischereihafen Yanibare.

Die Bewohner von Nauru sind nicht törichter als andere Menschen. Auf ihrer winzigen Insel zeigen sich die Folgen ihres Handels nur rascher. Sie taten nichts anderes als die Ölstaaten, die mit gigantischen Bauvorhaben protzen, aber völlig verdrängen, dass die Millionen von Petrodollars mit dem schwarzen Gold versiegen. Und nichts anderes als jeder Bewohner der westlichen Welt, der dem Klima nichts mehr wünscht als dass es sich wieder erholt, der aber, wenn er aufgefordert wird, auf Autofahren und zwei Ferienflüge im Jahr zu verzichten, der Ansicht ist, das gehe nun wirklich zu weit, da müsse das Klima eben Zugeständnisse machen.

Das eingangs erwähnte Fällen des letzten Baums der Osterinsel ist ein noch viel schlimmeres Verbrechen, wenn man bedenkt, dass die Osterinsulaner ihr Eiland für die ganze Welt und sich selbst für die einzigen Bewohner hielten. Sie glaubten also nicht nur, den letzten Baum ihrer Insel, sondern den letzten Baum des ganzen Planeten zu zerstören. Was den Menschen der Osterinsel nicht möglich ist, könnte die globalisierte Wirtschaftsgesellschaft schaffen: die weitgehende Vernichtung der eigenen Zivilisation. Und wenn das geschieht, dann tun wir eines Tages das, was die Nauruer seit dem Zusammenbruch ihrer Wirtschaft tun: Mit einer Angel ans Ufer treten, um etwas auf dem Mittagstisch zu bekommen.

Dieser Artikel ist zunächst bei 60Minuten in Berlin erschienen (http://www.60minuten.net).

Profunde Halbbildung auf dem Weg zum Journalismus

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • GODERBAUER-MARCHNER, Gabriele: Journalist werden!. UVK-Verlag, Konstanz 2009, ISBN 978-3-86764-132-6.

profunde halbbildung auf dem weg zum journalismus (journalist werden!)

                                           © UVK – Verlag

 

„Die Medien transportieren, was in der Welt geschehen ist (…). Der Journalist, der diesen Informationstransport festlegt, auswählt, wertet, kommentiert, hat selbst eine Bedeutung, die ihn aus der Masse der Mitbürger heraushebt.“ Sehr knapp und präzise fasst die Professorin für Journalismus, Mediengeschichte und Medienpolitik Gabriele Goderbauer-Marchner die Arbeitsaufgaben eines Journalisten zusammen. Interessant hierbei ist, dass sie im ersten Kapitel ihres Buchs „Journalist werden!“ zwar die Bedeutung, aber nicht die Verantwortung des Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit erwähnt. In den letzten 30 Jahren hat sich im Berufsbild offenbar einiges geändert. Laut Goderbauer-Marchner fangen beispielsweise immer weniger Menschen ohne journalistischen Hintergrund an,  im Journalismus zu arbeiten – auch wenn es hier vergleichsweise viele dieser Quereinsteiger gebe.  Zudem habe sich die Ausbildung selbst im Laufe der Zeit sehr professionalisiert.

Auch die klare Trennung zwischen dem klassischen Journalismus der Printmedien und des Rundfunks auf der einen und der Unternehmenskommunikation und den Public Relations auf der anderen Seite würde immer durchlässiger. Eine weitere Veränderung beträfe die Arbeitsweise selbst. Die ehemalige Journalistin schreibt, sie werde „in Zukunft immer mehr mit den Fragen der Medienkonvergenz und der Digitalisierung zu tun haben. Denn die junge Zielgruppe wandert ins Internet“. Wer sich dort als Journalist behaupten wolle, sollte nicht nur das Handwerk des klassischen Journalismus, sondern eben auch die Multimedialität des neuen Mediums Internet beherrschen. Diese „Crossmedialität“ verlange von erfolgreichen Journalisten deshalb ein Denken und Zurechtfinden in mindestens zwei „Medienwelten“. Offensichtlich verschiebt sich also das Berufsbild des Journalisten.

Die Autorin stellt fest, dass sich der Journalismus heute in weiten Teilen auf die sogenannten „Freien“ stützt, die zwar meist selbst schreiben – während Redakteure Geschriebenes nur noch übernehmen – zugleich jedoch wenig Geld verdienen. Das Buch enthält eine Liste mit unentbehrlichen Charaktereigenschaften wie Neugierde und Unabhängigkeit.

Neben einem Studium seien Praktika unabdingbar für einen späteren Berufseinstieg, so die Autorin. Am besten in einer kleinen Redaktion, weil man dort mehr tun dürfe und das gleich für drei bis sechs Monate. Diese meist unbezahlten Praktika gehen jedoch an der Lebensrealität aller jungen Menschen vorbei. Vielmehr scheint hier ein wenig Betriebsblindheit der ehemaligen langjährigen Redaktionsleiterin vorzuliegen. Finanziell ist solch ein Praktikum für die meisten ein Desaster. Die Betreuung durch die Redakteure lässt auch oft zu wünschen übrig. Das Motiv, ein Praktikum über sich ergehen zu lassen ist die Hoffnung auf ein Volontariat. „Ein Volontariat zählt zu den klassischen und nach wie vor begehrtesten Einstiegen in den Beruf des Journalisten. 80 Prozent der Berufseinsteiger nehmen diesen Weg.“

Vor solch einem Volontariat steht meistens ein Studium, in dem man lernt, Informationen auszuwerten und zu kommentieren. „Der Journalismus fällt einem nicht in den Schoß, sondern ist eine Tätigkeit, die erlernt werden kann.“, so Goderbauer-Marchner. Um über ein Studium zum Journalismus zu gelangen, seien die Wege allerdings vielfältig. Immer jedoch sollte zumindest ein kleiner Teil mit Medien zu tun gehabt haben. Der Journalist „muss sich in ein Thema vertiefen können. Hartnäckig und nachhaltig“, dabei das Ziel verfolgen, „ein kompliziertes Thema sachlich korrekt, aber für die Allgemeinheit verständlich“ zu formulieren. Zugleich eigne man sich im Studium eine, wie der Münchener Journalist Herbert Riehl-Heyse es nennt, „profunde Halbbildung“ an.

Genau das vermittelt „Journalist werden!“: eine profunde Halbbildung. Das Buch hat den Charakter eines Ratgebers für Neulinge und richtet sich damit eher an Abiturienten als an ambitionierte Quereinsteiger. Es bietet einen Überblick über den aktuellen Journalismus. Allerdings ist es kaum mehr als eine erste Orientierung. Meint man es wirklich ernst, sollte die Lektüre unbedingt vertieft werden – beispielsweise anhand der aufgeführten Tipps und Links. Bedauernswert ist die ab und zu auftretende Betriebsblindheit der Autorin, die den Beruf des Journalisten ein wenig verklärt und aus ihm einen „Helden des Alltags“ macht. Letztlich – so kann man aus „Journalist werden!“ lernen – ist der Spaß am Schreiben entscheidend für den Karriereweg eines angehenden Journalisten.

Carl Sagan trifft Umberto Eco

Besprochen von Hans W. Giessen

  • FLYNN, Michael F.: Eifelheim. Tor, New York 2006. Reprint 2009. ISBN
    978-0765340351.

Das Buch „Eifelheim“ hat einen deutsch klingenden Titel, obgleich es ein amerikanisches Buch ist, von einem amerikanischen Autor, in einem amerikanischen Verlag erschienen. Aber der Titel trügt nicht: „Eifelheim“ ist der Name eines „deutschen“ Dorfes, genauer: eines Schwarzwalddorfes zur Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit (also, wenn wir streng sind, zu einer Zeit, als es „Deutschland“ noch nicht gab).

Tatsächlich handelt es sich um zwei Parallelgeschichten, die sich einerseits im titelgebenden Ort „Eifelheim“ des 14. Jahrhunderts und zum anderen in der (in einer nahen Zukunft angesiedelten) Gegenwart eines Akademikerpärchens an einer US-amerikanischen Universität entwickeln. Verbunden werden die beiden Geschichten in der Person des Historikers Tom Schwoerin. Er versucht, herauszufinden, wieso der Ort im Jahr 1349 nach einer Pestepidemie aufgegeben und dann nie wieder besiedelt wurde, obgleich es sich von der Lage her angeboten hätte. Alle geographischen und ökonomischen Daten sprechen dafür, dass hier eine Siedlung stehen müsste. Es muss also etwas Dramatisches passiert sein, dass es dazu nicht gekommen ist – aber was? Dies erläutert der Teil der Handlung, der in „Eifelheim“ selbst angesiedelt ist. Wobei die Handlung selbst schnell erzählt ist – es handelt sich gerade nicht um eine mäandernde, aber vorwärtstreibende ,Handlung’ im Sinn anderer historischer Romane à la „Wanderhure“, die auf eine anderes Publikum zielen, das Sex und Krimieffekte im historischen Ambiente sucht. „Eifelheim“ beschreibt Sozialstrukturen, Verhaltensschemata, philosophische und weltanschauliche Konzepte, dazu kommen wissenschaftliche Konzepte insbesondere aus der Quantenphysik – aber weniger vorwärtstreibende Handlung im Sinn zahlreicher äußerer Ereignisse. Von daher können die Ereignisse des Buches hier bedenkenlos erzählt werden, da die Spannung andere Quellen hat. Immerhin beginnt die Geschichte buchstäblich mit einem Donnerschlag: Ein Raumschiff stürzt in einen nahegelegenen Wald. Offenbar handelt es sich um eine Bruchlandung, die Passagiere sind auf der Erde gestrandet, müssen ihr Raumschiff reparieren. Der Dorfpfarrer entdeckt eine Art Haus, das plötzlich im Wald aufgetaucht ist. In der Folge liegt der Schwerpunkt dann aber nicht mehr auf schnellen Handlungseffekten. Vielmehr geht es um den sich langsam anbahnenden Kontakten zwischen den Außerirdischen, insektenartig aussehenden Wesen, die von den Menschen, die ihre Sprache und Art des Kommunizierens nicht verstehen, „Krenken“ genannt werden.

Das Buch wirbt, meiner Meinung nach völlig gerechtfertigt, mit einem Zitat aus einer Rezension des “Entertainment Weekly“: “Carl Sagan meets Umberto Eco“. Wobei der Hinweis auf den Astrophysiker Sagan eher auf seinen Roman “Contact“ aus dem Jahr 1995 abzielt als auf seine wissenschaftlichen Bücher (von denen in Deutschland sicherlich und zumindest noch “Cosmos“ aus dem Jahr 1980 bekannt sein dürfte), und der Hinweis auf Eco ebenfalls nicht vorrangig den Semiotiker meint, sondern wohl eine Referenz auf seinen berühmtesten Roman „Il nome della rosa“, ebenfalls aus dem Jahr 1980, darstellt, der in der selben Zeit wie „Eifelheim“ spielt (korrekterweise: zwanzig Jahre früher, 1327). Also ein Buch, das literarische Kategorien überschreitet, natürlich historischer Roman, gleichzeitig Science-Fiction, ebenso aber auch philosophischer Dialog…

Die Außerirdischen sind im Wortsinn Fremde, im Denken, Handeln, im Anblick. Sie sind auf den ersten Blick ausgesprochen unsympathisch: nicht nur, dass sie bizarr aussehen, wie übergroße, graufarbene Heuschrecken. Sie sind auch cholerisch, neigen zu Gewaltausbrüchen, sind eingebunden in eine strenge Hierarchie, dort äußerst statusorientiert. Insektenmäßig ist also nicht nur ihr Aussehen: Ihre Instinkte sind durch ihre Jugend geprägt, die sie in einem bienenartigen Schwarm erleben. Aber die Krenken werden, ihrer Sozialstruktur zum Trotz, dennoch auch als Individuen gezeichnet. Manche werden geradezu sympathisch, andere bleiben unangenehm. In der Tat ist ein Reiz des Buches, dass und wie sehr es sie sich als individuelle, realistisch anmutende ,Personen’ entwickeln lässt.

Was ich besonders faszinierend finde, ist, dass es eher die Außerirdischen sind, die sich den Menschen zuwenden, als umgekehrt. Unter den Dorfbewohner gibt es nur wenige, die neugierig sind, wieso die Krenken hierhergekommen sind, wie es in der Hölle (oder wo auch immer diese Wesen herstammen) aussieht, geschweige denn, wer sie wirklich sind. Offensichtlich ist die Gegenwart, sind die eigenen Ängste zu dominant – oder ist die menschliche Natur so? Aber auch hier zeichnet Michael F. Flynn ein differenziertes Bild. Einige Dorfbewohner suchen den Kontakt. Zunächst fühlt sich der Dorfpfarrer durch ihre Ankunft herausgefordert und versucht, herauszufinden, was dies für das Dorf bedeutet.

Pfarrer Dietrich ist eine faszinierende Figur. Er hat in Paris bei den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit studiert, bei Jean Buridan, seinerseits Schüler Wilhelm von Ockhams (der im Buch auch einen Gastauftritt hat). Offenbar hatte er dann aus theologischen ebenso wie sozialen Gründen einen Bauernaufstand unterstützt – er hat also konkrete Schlüsse aus Ockhams Philosophie gezogen. Natürlich hat er sich dabei mächtige Gegner gemacht; sein Leben scheint bedroht gewesen zu sein. So wird erklärt, warum dieser gebildete und hochintelligente Mann fast versteckt in einem abgelegenen Schwarzwalddorf lebt. Dietrich hat also seine Wunden. Emotional ist er deshalb vorsichtig, lässt sich nicht direkt auf seine Mitmenschen ein, wirkt eher ,verkopft’ – auch er ist eine zwiespältige Figur, nur begrenzt sympathisch. Aber er ist nicht tumb und lehnt Fremdes einfach deshalb ab, weil es fremd und anders ist. Dennoch bleibt er in seiner Zeit verwurzelt. Flynn beschreibt keinen ,Gegenwartmenschen’, der halt in einer anderen Epoche lebt. Nein, Dietrich ist durchdrungen von der Theologie seiner Zeit. Und er hat große Schwierigkeiten, die Krenken, ihre Technologie und Sozialstruktur zu verstehen, beziehungsweise in Begriffe und Konzepte zu übersetzen, mit denen er umgehen kann. Aber die Ockhamsche Theologie (oder seine Persönlichkeit) veranlassen ihn doch, auf die Krenken zuzugehen und ihnen zu helfen. Die Kommunikation erfolgt über einen Übersetzungscomputer, den die Außerirdischen besitzen. Dennoch bleibt sie schwierig. Da das Vokabular bei Krenken und Menschen semantisch höchst unterschiedlich besetzt ist, entstehen faszinierende Diskussionen. Um zu erklären, wie Weltraumflüge funktionieren, erklären die Krenken quantenphysikalische Phänomene. Dietrich kann dies natürlich nicht verstehen – aber: er versteht dennoch, denn er fügt die Informationen der Außerirdischen in sein theologisches Konzept ein. So gehen die Diskussionen (die wir Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus beiden Perspektiven zumindest abstrakt nachvollziehen können) oft haarscharf aneinander vorbei – und ergeben doch auf merkwürdige, äußerst faszinierende Art einen neuen ,Sinn’. Und es funktioniert auch umgekehrt: Theologische Aussagen Dietrichs werden von den Krenken als Anmerkungen zu (oder Umschreibungen von) quantenphysikalischen oder astronomischen, aber auch sozialen Prozessen interpretiert. Wenn beispielsweise Jesus der bald zurückerwartete – es herrscht ja Endzeitstimmung – “Lord of the stars“ ist: Bedeutet dies, dass er ein Raumfahrer ist, der die Krenken aufgrund seiner Erfahrungen und seines Wissens aus ihrer Situation erlösen kann?

Auch das hat mir gut gefallen: Der Konflikt zwischen figurativer und konkreter Sprache ist ein wichtiges Subthema des Buches. Die Außerirdischen haben keine ,Antenne’ für Metaphern – die aber die christliche Theologie dominieren. Dies erweist sich als noch einschneidender als die unterschiedlichen Kenntnisse über die Naturgesetze, über die Welt, über Welterklärungskonzepte. Sprachliche Kommunikation und die dadurch entstehenden Missverständnisse und dann doch wieder aufflackernden Momente des Einvernehmens sind auf jeden Fall der entscheidende Knackpunkt im Verhältnis zwischen Dietrich und den Außerirdischen. Allein die Art, wie Flynn den Umgang, die Kommunikation zwischen Menschen und Krenken konzipiert hat, ist faszinierend, die theologischen Diskurse des Buchs sind mitunter atemberaubend.

Die Gegensätze zwischen Krenken und spätmittelalterlichen Dorfbewohnern sind im Übrigen fast genauso groß wie zwischen dem Pfarrer und Teilen seiner Gemeinde. Dietrich wird von Bruder Joachim von Herbolzheim unterstützt, der Franziskaner ist. Joachim kann mit der eher vernunftbetonten Theologie Dietrichs nichts anfangen: Seine Religiosität ist ausschließlich emotional begründet. Er sieht in den Krenken sofort Dämonen. Dies meint auch die Mehrheit der Dorfbewohner. Man kann es ihr nicht verübeln, der Augenschein scheint ihnen Recht zu geben: Die Fremden können fliegen, auch wenn sie keine Flügel haben. Und so entwickelt sich als erste Frage, was denn die eigentliche Herausforderung sei: Muss man die Fremden eliminieren oder bekehren? Pfarrer Dietrich will die Krenken bekehren. Dazu muss zunächst die theologische Frage geklärt werden, ob Außerirdische überhaupt Christen sind oder werden können. Schließlich gelingt es ihm, sich mit einigen der Krenken anzufreunden und sie zu überzeugen. Dem ersten Täufling gibt er den Namen Hans. Damit ist auch – und zumindest – bewiesen: Die Krenken haben eine Seele. Und: Die christliche Botschaft ist so stark, dass ihr Einfluss sogar die ursprüngliche Natur der Krenken überwindet.

Die Außerirdischen haben weitere Integrationserfolge. Bemerkenswerterweise gibt es sogar Parallelen zwischen der hierarchischen Gesellschaftsstruktur der Krenken und der spätmittelalterlichen Feudalordnung. Auch dies erlaubt es den Krenken, sich anzupassen, und der lokale Potentat Manfred von Hochwald kann gar, überraschend problemlos, ein Lehnsverhältnis der Krenken akzeptieren. Er ernennt einen der Außerirdischen, der ihm behilflich ist, gar zum Baron Großwald.

Beeindruckend ist also, wie Flynn die Konsequenzen des Kontakts zwischen Menschen und Krenken gestaltet. Die Menschen ändern sich letztlich kaum, ihre Persönlichkeitsstrukturen bleibt gleich – auch die des in der Geschichte so dominanten Pfarrers Dietrich, der zwar offen und (scheinbar) tolerant auf die Fremden zugeht, aber doch so sehr in seinem Weltbild verhaftet ist, dass er sie zu bekehren versucht und ihn die Vorstellung umgekehrter Anpassung an die Kultur der technologisch weiterentwickelten Wesen undenkbar erscheint. Dagegen erwägen und akzeptieren einige der Krenken in der Tat menschliche Normen und Werte. Sie machen emotional wie intellektuell den größeren ,menschlicheren’ Schritt. Die christliche Bekehrung und Taufe sind dafür nur die (aus menschlicher Sicht) extremsten Gesten. Schließlich wird das Dorf von der Pest erreicht. Der Dorfpfarrer versucht sein Möglichstes, den sterbenden Dorfbewohnern zu helfen. Die Krenken haben ihr Raumschiff repariert und wollen die Erde wieder verlassen. Aber einige bleiben, um der Dorfbevölkerung zu helfen und die Toten zu begraben. Sie sind humaner geworden als die meisten Menschen des Dorfes, sie orientieren sich am Dorfpriester – während sich, natürlich, kein Mensch an ihnen orientiert.

Dies ist besonders faszinierend: Flynn kann glaubhaft darstellen, dass und warum verschiedene Außerirdische, obgleich einer überlegenen Technologie entstammend, lieber in einem pestverseuchten spätmittelalterlichen Schwarzwalddorf bleiben wollen, um dort als Christen (im spätmittelalterlichen Sinn des Wortes) weiterzuleben. Bald sterben aber auch sie. Manche kommen in Kämpfen um, manche erfrieren, aber vor allem leiden sie an der irdischen Nahrung, der eine Aminosäure fehlt, die sie zum Überleben benötigen. Sie besitzen zwar technologische Möglichkeiten, die den menschlichen Erfahrungshorizont übersteigen. Aber ihre Lage ist dennoch so verzweifelt wie die der Dorfbewohner. So diskutieren der Pfarrer und sein außerirdischer Freund Hans philosophische Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Ursache von Unheil.

Rund 700 Jahre später ist die Stelle, an der das Dorf existiert hatte, noch immer verwaist. Im ,Gegenwartsteil’ des Buches stößt Tom Schwoerin, der Historiker, der mathematisch-statistische Methoden nutzt, um zu neuen Erkenntnissen über historische Probleme zu gelangen, auf die erstaunliche Tatsache dieser Wüstung. Auch der ,Gegenwartsteil’ ist spannend und faszinierend. Die ,Handlung’ ist Folge des Zusammenlebens des Historikers mit einer theoretischen Physikerin, Sharon Nagy. Beide sind in einer schwierigen Phase ihrer Beziehung, in ihre Arbeit vertieft, vom jeweils anderen genervt. In solchen Situationen bringen sie oft abfällige Bemerkungen des anderen weiter. Einmal schleudert Tom beiläufig Sharon den Vorwurf entgegen, dass die Lichtgeschwindigkeit, Einstein zum Trotz, auch unter identischen Bedingungen nicht gleich sei. Wütend überprüft Sharon den Vorwurf – und muss in der Tat feststellen, dass die Lichtgeschwindigkeit seit Messbeginn (wenngleich nur minimal) langsamer geworden ist. Zunächst vermutet sie, dass einfach die Messmethoden präziser geworden sind. Aber dann bestätigt sich der Vorwurf ihres Lebensgefährten.

Sie erforscht die Rätsel von Raum und Zeit und entwirft ein zwölfdimensionales Universum – und entdeckt dabei exakt die Mechanismen, die die Außerirdischen für ihre Reise genutzt haben. Zunächst aber muss ihr Partner das Rätsel des Dorfes lösen. Infolge mühsamer Recherchen erfährt er, das ,Eifelheim’ zunächst ,Oberhochwald’ hieß und erst nach den Ereignissen von 1348 und 1349, nachdem der Ort also aufgegeben war, als ,Teufelheim’ bezeichnet wurde; daraus entwickelte sich dann ,Eifelheim’. Eine beiläufige Nebengeschichte schildert die Hilfe, die Schwoerin von einer Bibliothekarin erhält, die ihn offenbar als Forscher (und darüber hinaus) anhimmelt. Aber er ist so absorbiert, dass er darauf nicht eingeht. So bleibt er bei Sharon – zum Glück (nicht nur für seine Beziehung), denn die eigentliche Lösung des Rätsels ist Sharon zu verdanken. Beide reisen schließlich nach Freiburg und von dort weiter zur Wüstung Eifelheim, und finden sogar das (christliche) Grab des Krenken Hans – und dort eine Art Plan, der die Theorie von Sharon bestätigt und erklärt, wie die Außerirdischen durchs Weltall reisen konnten. Mithin haben die Forschungsfragen ihres Freundes auch die theoretische Physikerin weitergebracht, ihr sogar zu einem empirischen Beweis ihrer theoretischen Überlegungen verholfen. Michael Flynns Roman ist so präzise durchkomponiert, dass Vergangenheit und Zukunft sowie Geschichte (Geistes-  beziehungsweise Sozialwissenschaft) und Physik (Naturwissenschaft) jeweils exakt den Schlüssel zur Erklärung und Lösung der gegenseitigen Fragestellungen und Probleme bieten. Die Ökonomie des Romans hat zur Folge, dass die jeweiligen Epochen, Ergebnisse, Geschichten und Welterklärungen, so verschieden sie objektiv sind, zueinander passen wie Puzzleteile.

Die Zeit, das Dorf, die Menschen – alles ist sehr glaubwürdig, gerade weil nichts einseitig (perfekt, gut – oder schlecht) ist. Michael F. Flynn geht fair mit dem spätmittelalterlichen Europa um, er hat Respekt – genauso wie mit den Wissen­schaftlern, die er im Gegenwarts-Teil beschreibt. Das spätmittelalterliche Weltverständnis erscheint mitunter so fremd wie dasjenige der im Band beschriebenen Physik oder der Außerirdischen. Aber Flynn macht deutlich: Auch wenn uns die jeweiligen Denkansätze fremd sind, sind sie nicht minderwertig, sondern differenziert und sinnvoll, damals wie „heute“. Sie sind anders, weder besser, noch schlechter. Sie haben Interesse und Verständnis verdient.

Freilich: Damit ist der Roman zu komplex, um es beispielsweise mit einer „Wanderhure“ aufzunehmen. Letztlich ist er auf bizarre Weise gar ein Gegenentwurf zu Ockhams Rasiermesser. Immer wieder werden Erwartungen gebrochen – angefangen von den „menschlichen“ Außerirdischen, über die Tatsache, dass die beiden Wissenschaftler jeweils Fächer repräsentieren, die man gemeinhin eher dem jeweils anderen Geschlecht zutraut (theoretische Physik wird eher als ,männlich’ wahrgenommen, Geschichtestudierende sind überwiegend weiblich…). Selten verbindet ein Buch so viele verschiedene Themen und Forschungsgebiete, von der Anthropologie über die Epidemiologie, die Gesellschaftstheorie, Kosmologie, Quantentheorie, Religionspolitik, Soziologie und Sozialgeschichte, mittelalterliche Theologie bis zur Xenobiologie, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig sind die Grenzen unseres (des?) Wissens ein zentrales Thema. Ist diese Komplexität der Grund, warum der Band bisher nicht in Deutschland erschienen ist? Diese Tatsache ist beschämend, nicht nur, weil die Geschichte in Deutschland spielt. Der Band wurde weltweit aufgenommen und es ist auch zu Übersetzungen in unsere Nachbarsprachen gekommen, ins Französische und ins Polnische, zudem beispielsweise ins Japanische – in Japan hat der Roman sogar einen nicht unbedeutenden Preis erhalten, ebenso wie in den USA, wo er es auf die Shortlist zum Hugo gebracht hat. Nur in Deutschland traut sich offenbar niemand an das Buch heran.

Vielleicht ist auch ein Grund, dass Michael Flynn als Science-Fiction-Autor wahrgenommen wird, und das Genre der Science-Fiction in Deutschland fast nur mit Computerspielen und den von ihrer Ästhetik beeinflussten Hollywood-Baller-Filmen assoziiert wird. Möglicherweise dominiert diese Assoziation so sehr, dass lediglich noch Leser zu Science-Fiction-Romanen greifen, die Nervenkitzel, Thrill suchen. Die Verlage, die Science-Fiction-Literatur verlegen, passen sich diesem Trend an (oder müssen sich ihm anpassen, da sie sonst zu wenig Umsatz erzielen?) – und so erwarten Interessenten ernsthafter, nachdenklicher Science-Fiction gar keine entsprechenden Werke mehr.

Offensichtlich war dies das Schicksal des einzigen Flynn-Bandes, der bisher in Deutschland erschienen ist („Der Fluss der Sterne“, erschienen 2008 bei Heyne in München, im Original 2003 unter dem Titel “The Wreck of the River of Stars“ ebenfalls bei Tor in New York veröffentlicht und von Andreas Brandhorst übersetzt). Auch dies ist ein eher ruhiges, reflektierendes Buch, aber der Verlag glaubte, Werbung für das Buch mit Sätzen wie „das größte aller Abenteuer beginnt […] – ein atemberaubendes Science-Fiction-Erlebnis“ machen zu müssen. Kein Wunder, dass die Leser, die auf der Suche nach Action waren, enttäuscht wurden, und andere Leser den Band gar nicht erst in die Hand nahmen. Kurz und gut, die Erwartungen wurden gegenseitig missachtet. So entstehen sich selbst verstärkende Schleifen: Niemand erwartet mehr seriöse, nachdenkliche Science-Fiction-Geschichten, und wenn dies doch mal vorkommen sollte, bekommen ihre potentiellen Leser dies gar nicht erst mit, weil in den einschlägigen Verlagsprogrammen anders vorherrscht – und die Action-Fans sind enttäuscht und schimpfen über den Verlag, falls sie ,fälschlicherweise’ ein solches Buch erwerben. Haben mithin Bücher wie Eifelheim überhaupt noch eine Chance in Deutschland?

Aber es gibt sie noch: ernsthafte Literatur, die sich großer Themen annimmt und diese atemberaubend und spannend aufbereitet. Wo die Spannung der Durchführung zu verdanken ist und nicht einer vordergründigen Action. ,Eifelheim’ ist ein solcher Roman und hätte eine Chance verdient. Immerhin kann man ihn ja heutzutage über die großen Lieferdienste in der amerikanischen Originalfassung schicken lassen, Gott sei Dank.