Shilik, Maria: Der Unabomber revisited: Über „Spuren eines Unsichtbaren“ von Stefan Preis, 22.07.2015

Besprochen von Maria Shilik

  • PREIS, Stefan: Spuren eines Unsichtbaren – Der Fall Kaczynski als Bibliotheksphänomen betrachtet. Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2015.

Wenn Terror Menschenleben fordert, bemühen sich Medien, Aufklärungsorgane und Polizei um schnelle, plausible Erklärungen und Motive für die Vorkommnisse: Teils um die Sensationslust der Menschen zu befriedigen und damit mehr Öffentlichkeit zu erreichen, teils um weitere Gewalt zu verhindern, vielleicht aber auch um weitere Spekulationen und Nachforschungen zu stoppen. Nach der Auflösung des Rätsels hinter dem sogenannten ‚Unabomber‘, der zwischen 1978 und 1995 mehrere Anschläge mit insgesamt drei Toten und 23 Verletzten in den USA verübt hatte, begnügten sich die Ermittler damit, den Täter Theodore Kaczynski zunächst nur als einen einsamen Menschen mit emotionalen Problemen zu beschreiben. Jedoch war Kaczynski ein hochbegabter, ehemaliger Mathematikprofessor, der sich in den 1970er Jahren zurückzog, um allein in einer Blockhütte im Wald zu leben. Er gehörte mit seinen Taten keiner Gruppierung oder Bewegung an, hatte aber durchaus seine eigene politische Motive, die er 1995 in einem ,Manifest‘ veröffentlichte.

Um den Terroristen Kaczynski richtig einordnen zu können, ist die genaue Lektüre seines ,Manifests‘ unvermeidbar, gibt erst diese doch den wesentlichen Aufschluss über seine Motive, meint Kriminologe Stefan Preis. In seiner Arbeit Spuren eines Unsichtbaren – Der Fall Kaczynski als Bibliotheksphänomen betrachtet, unternimmt er den Versuch, den Attentäter als Leser und Autor zu begreifen, indem er dessen ,Manifest‘ auf zeitgenössische kulturelle Strömungen und auf den Einfluss von anderen theoretischen Schriften untersucht. Auf diese Weise verbindet die Arbeit die unterschiedlichen Disziplinen der Kriminologie, Philosophie und Literaturwissenschaft.

Laut seines ,Manifests‘ war es ein wesentliches Ziel von Kaczynski, einer vollkommen technologieunabhängigen Gesellschaft näher zu kommen. Die Menschen sollten nicht länger als Sklaven einer Technokratie und als unmündige Bürger leben, sondern zur Freiheit und zur Natur zurückkehren. Deshalb richteten sich seine Taten gegen Computer- und IT-Wissenschaftler an Universitäten und auch gegen Fluglinien. Preis versucht zu erkunden, wie Kaczynski zu solchen Ansichten gekommen ist. Dazu bespricht er in kurzen Kapiteln, die leider nicht immer schlüssig miteinander verknüpft sind, welche theoretischen Strömungen und einzelnen Ideen Kaczynski beeinflusst haben könnten: Er nennt dabei Autoren der Frankfurter Schule ebenso wie Autoren des Kulturpessimismus sowie Aktivisten der Gegenkultur. Preis weist insbesondere darauf hin, dass Kaczynskis Ideen wesentlich durch Nietzsches Anarchie-Vorstellungen geprägt sind. Leider unternimmt er einige thematische Exkurse an solch unpassenden Stellen, dass sie damit den roten Faden und die Herleitung des Themas unterbrechen. So wird beispielsweise im ersten Kapitel, bei der Erläuterung von Kaczynskis Biografie, noch bevor diese zu Ende ausgeführt wird, ein Zwischenkapitel über Nietzsches Einfluss auf einen Roman eingebaut, der Kaczynski geprägt haben soll. Im Weiteren geht Preis wieder auf Kaczynskis Lebensweg ein. Eine Zusammenführung der Argumente, die für Nietzsches generellen Einfluss auf Kaczynskis Ideen und sein ,Manifest‘ sprechen, hätte der Arbeit gut getan. Insgesamt beschleicht einen beim Lesen immerzu das Gefühl der Unübersichtlichkeit der Argumente.

Gleichzeitig werden weitere Argumente und Zusammenhänge viel zu lose in den Raum gestellt. Das vierte Kapitel ordnet Kaczynskis Aktivitäten in eine technologie-skeptische kulturelle Strömung der 1970er Jahre ein, welche u.a. im dystopischen Hollywoodfilm ihren Ausdruck fand. Kaczynski selbst bezieht sich in seinem ,Manifest‘ nicht auf diese Welle des Hollywoodkinos, so dass diese Behauptung von Preis nicht belegt werden kann. Ob Kaczynski von diesen Filmen wirklich beeinflusst wurde, bleibt eine nicht nachvollziehbare Spekulation.

Wie Stefan Preis selbst behauptet, reicht die bloße Lektüre radikaler Schriften noch nicht, um gewalttätig zu werden. Wenn es so wäre, wäre jeder Leser ein potenzieller Terrorist. Leider schafft es seine Arbeit aber nicht, zu erklären wie Kaczynski von einem Menschen in der Bibliothek zu einem radikalen Terroristen werden konnte, womit die finale Erklärung seiner Taten noch immer aussteht.

„Freie Journalisten in Deutschland“-Verdünntes Weihwasser

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MEYEN, Michael/ SPRINGER, Nina/ in Kooperation mit dem DFJV: Freie Journalisten in Deutschland. UVK, Konstanz 2009. ISBN: 978-3867641562.

freie journalisten ein deutschland- verdünntes weihwasser

                                       © UVK – Verlag

 

Bereits 2006 stellte der ehemalige Chef des Deutschen Journalistenverbandes Siegfried Weischenberg fest, dass „die Professionalität und die Identität des Journalismus bedroht“ seien. Er bezeichnete den Traumberuf vieler junger Menschen als ‚Weihwasser‘, das die Kommunikationsverhältnisse der Gesellschaft durchaus reinige, sieht es jedoch als schon reichlich verdünnt an. Nun haben Michael Meyen und Nina Springer in Kooperation mit dem Deutschen Fachjournalisten-Verband auf 180 Seiten einen umfassenden Report zusammengetragen. Er basiert auf einer vom Institut für Kommunikations­wissenschaft und Medienforschung der Universität München konzipierten Online­befragung von mehr als 1500 Journalisten und 82 Interviews. Um mehr über die berufliche Situation freier Journalisten in Deutschland zu erfahren, wurden die Teilnehmenden zu den Themen Werdegang, Arbeitsalltag und zu ihrem Selbstverständnis befragt.

Freie Journalisten seien in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, so die Autoren. Zum einen würden die Inhalte verschiedener Medien verstärkt von Freien produziert, während die fest angestellten Redakteure rein administrativ tätig seien. Zum anderen seien freie Journalisten ökonomisch attraktiv für Unternehmen, da sie häufig geringer entlohnt würden und nicht vertraglich gebunden seien. Sie stellten also zum inhaltlichen auch einen großen wirtschaftlichen Faktor dar. „Freie Journalisten benötigen im Unterschied zu Redakteuren eine doppelte Kompetenz: sie müssen nicht nur journalistisch arbeiten können, sondern auch Unternehmergeist besitzen“, stellen die Autoren fest.

Der Report entwirft ein deutliches Bild der Aufgaben, Chancen, Probleme und Möglichkeiten freier Journalisten. Auch nach dem beruflichen Status selbst und den Einkommensverhältnissen wird gefragt. Dem Selbstverständnis ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Letzteres sei geprägt vom „Ideal des neutralen Vermittlers“. Hierzu wurde eine „Selbstverständnis-Typologie“ erstellt, deren Unterteilung in Journalismus-Typen wie dem ‚Politiker‘, dem ‚Dienstleister‘, dem ‚Selbstverwirklicher‘ und weiteren sehr schlüssig scheint. Im letzten Kapitel wird zusätzlich eine ‚Typologie der freien Journalisten‘ entwickelt. Hierbei unterscheiden die Autoren zum Beispiel zwischen den ‚Redakteuren‘, den ‚Unternehmern‘ und den ‚Künstlern‘. Beide aufgestellte Typologien sind klug gewählt und begründet.

Meyen und Springer zeigen auch deutlich die Probleme auf, mit denen freie Journalisten umgehen müssen und die eine Bedrohung des ‚Weihwassers-Journalismus‘ darstellten. Selbständigkeit sei zwar die Freiheit, den Tag selbst einteilen zu können, zugleich ließen sich aber oftmals Geschäftliches und Privates nicht trennen. Außerdem klagten einige der befragten Journalisten, sie müssten aus Angst, in Zukunft nicht wieder berücksichtigt zu werden oder auch aus finanziellen Gründen jeden Auftrag annehmen. Der Report zeigt, dass die Freien – gemessen an der meist hochwertigen Ausbildung –  relativ schlecht bezahlt werden und darüber hinaus stark von den Redaktionen abhängig sind. Durch diese doppelte Unsicherheit können Freiberufler nur schwer ein missionarisches Statement oder eine eigene Politik entwickeln. Mehr noch: Freie Journalisten sind dazu gezwungen, andere Jobs anzunehmen. Die PR als verwandte Branche ist da für viele eine verlockende Alternative. Dort wird geregelter und besser bezahlt und außerdem bietet sie Raum für eigenes kreatives Schreiben – das ‚Weihwasser‘ allerdings verdünnt sich auf diese Weise.

Insgesamt ist der Report „Freie Journalisten in Deutschland“ keine Anleitung für die Praxis – der freie Journalist kann wenig mehr daraus lernen, als dass er mit seinen Problemen nicht alleine ist. Aber die Arbeit erhellt in einer verständlichen Sprache die ‚Blackbox‘ des freien Journalismus. Sie kann dabei Faktoren identifizieren, die ein besseres Einkommen ermöglichen, und die allgemeinen Bedingungen des Berufsstands deutlich darlegen. Gleichzeitig stellt der Report fest, dass Freiberuflichkeit mit Unsicherheiten und geringem Einkommen verbunden ist: Der Gehalt des ‚Weihwassers‘ nimmt mit dem Gehalt der Journalisten ab. Es mag also zwar dünner geworden sein, aber es ist – das zeigt „Freie Journalisten in Deutschland“ auch – immer noch gehaltvoll genug.

 

NAURU ist überall

Besprochen von Leif Allendorf

  • FOLLIET, Luc: Nauru – Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte. Wagenbach-Verlag 2011. ISBN: 978-3803126542.
Nauru                                            © Wagenbach Verlag

 

In seiner Studie „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ beschreibt der Amerikaner Jared Diamond in einem Gedankenspiel, wie der letzte Baum der Osterinsel von der Urbevölkerung gefällt wurde. Der ganze Wald ist bereits abgeholzt worden, damit die Pazifikbewohner die berühmten Steinstatuen errichten und transportieren konnten. Nun ist nur noch ein letzter Baum übrig. Die Bewohner der Osterinsel waren keine dummen Kreaturen, es waren Menschen von Verstand wie wir. Und trotzdem fällten sie um etwa 1500 nach Christus den letzten Baum und zerstörten damit sehenden Auges die letzte Möglichkeit, dass sich die Insel wieder bewaldete. Was mag den Holzfällern durch den Kopf gegangen sein, als sie den letzten Baum der Insel mit ihren Steinäxten niederwarfen?

Fünfhundert Jahre später ereignete sich auf Nauru, einer ebenfalls kleinen isolierten Pazifikinsel, ein ähnliches Desaster. Die polynesische Bevölkerung benutzte keine Steinäxte, um ihre idyllische Heimat zu ruinieren. Auch waren Bagger, Kräne und Fabrikschlote nicht das Mittel, um den Untergang herbeizuführen (obwohl sie der Insel ihre Spuren hinterlassen haben). Das Inselparadies am anderen Ende der Welt wurde mithilfe der freien Marktwirtschaft zerstört.

Nauru ist etwa 20 Quadratmeter groß und wird von weniger als 10.000 Menschen bewohnt. Der Vogelkot hat sich auf der Oberfläche aus abgestorbenen Korallen im Laufe der Jahrtausende zu einer Phosphatschicht vermengt. Phosphat ist eine Ressource, die sich mit Erdöl vergleichen lässt. Weltweit werden damit ausgelaugte Böden gedüngt. So wie die Industrie Erdöl benötigt, ist die globale Landwirtschaft auf Phosphat angewiesen. Wer über diese Ressource verfügt, ist reich. Und Nauru bestand aus Millionen und Abermillionen Tonnen dieser Substanz.

In der Zeit vor, während und nach den beiden Weltkriegen war Nauru ein Spielball der Kolonialmächte und Machtblöcke. Doch in den 60er Jahren hatten einige junge Inselbewohner Universitäten in Australien und die USA besucht und wussten nun, wie die westliche Welt ihre Heimat ausbeutete. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen erlangte die Insel 1968 ihre Unabhängigkeit und die alleinige Kontrolle über den Handel mit Phosphat, der bislang in der Hand britischer und australischer Firmentrusts gelegen hatte. Die unermesslichen Erträge flossen direkt in die Taschen der Inselbewohner und machten die bislang armen Menschen quasi über Nacht zu Millionären. Von der Notwendigkeit der Erwerbstätigkeit befreit verbrachten die Nauruer ihre vollständige Zeit damit, ihr Geld mit vollen Händen auszugeben, mit wöchentlich neu erworbenen Luxusautos um die einzige Straße der Insel zu kurven und chinesischen Gastarbeitern die Maloche des Phosphatabbaus zu überlassen.

Wer zu viel Geld hat, um es auszugeben, der legt es an. Und wird es richtig angelegt, dann bringt dies noch mehr Geld, das wiederum angelegt werden muss. Die Befreier Naurus hatten dies auch geplant, um die Zukunft des winzigen Inselstaates zu sichern. Irgendwann würden die Phosphatvorkommen erschöpft sein – und dann musste Nauru auf anderen Beinen stehen. Durch Unerfahrenheit und Leichtsinn gerieten die Dollarmillionen in die Hände windiger Spekulanten, die es darauf angelegt hatten, die Naivität der Nauruer zu benutzen, um sich selbst zu bereichern. Das dafür verantwortliche Establishment Naurus – fast jede Familie stellte irgendwann einen verantwortlichen Minister oder Behördenchef – fürchtete sich, die Fehlschläge einzugestehen und versuchte, die Verluste mit noch größeren Unternehmungen wiedergutzumachen, die allerdings noch größere Verluste verursachten. Verdrängung und Verleugnung der dringendsten Probleme und Fehlentwicklungen ließen das reichste Land der Erde unausweichlich auf den ökonomischen Untergang zusteuern. Den Abschluss der unabwendbaren Abwärtsspirale stellte der verzweifelte Versuch dar, mit Krediten wieder zu Geldmitteln zu kommen, was aber letzten Endes nur bewirkte, dass weitere Kredite aufgenommen werden mussten, um die Zinsen des vorhergehenden Darlehens zu beziehen.

Überliefert hat uns diese Geschichte der französische Journalist Luc Folliet in seinem Buch „NAURU – Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte“, das soeben im Wagenbach-Verlag erschienen ist. Ende 2005 reiste er nach Nauru, „um selbst zu sehen, ob das alles wahr ist“. Können wir s glauben? Auf GoogleEarth kann man den Namen der Insel eingeben. Die Weltkugel dreht sich, wendet uns den unendlichen Pazifischen Ozean zu und zoomt auf eine winzige Insel, etwa vier Kilometer lang und drei Kilometer breit. Wir können weiter hinabtauchen und erkennen die Ringstraße, die entlang der Küste einmal um die Insel führt. Wir erkennen die Start- und Landebahn im Süden, direkt neben der Hauptstadt Yare. Im Nordosten sehen wir den verfallenen Fischereihafen Yanibare.

Die Bewohner von Nauru sind nicht törichter als andere Menschen. Auf ihrer winzigen Insel zeigen sich die Folgen ihres Handels nur rascher. Sie taten nichts anderes als die Ölstaaten, die mit gigantischen Bauvorhaben protzen, aber völlig verdrängen, dass die Millionen von Petrodollars mit dem schwarzen Gold versiegen. Und nichts anderes als jeder Bewohner der westlichen Welt, der dem Klima nichts mehr wünscht als dass es sich wieder erholt, der aber, wenn er aufgefordert wird, auf Autofahren und zwei Ferienflüge im Jahr zu verzichten, der Ansicht ist, das gehe nun wirklich zu weit, da müsse das Klima eben Zugeständnisse machen.

Das eingangs erwähnte Fällen des letzten Baums der Osterinsel ist ein noch viel schlimmeres Verbrechen, wenn man bedenkt, dass die Osterinsulaner ihr Eiland für die ganze Welt und sich selbst für die einzigen Bewohner hielten. Sie glaubten also nicht nur, den letzten Baum ihrer Insel, sondern den letzten Baum des ganzen Planeten zu zerstören. Was den Menschen der Osterinsel nicht möglich ist, könnte die globalisierte Wirtschaftsgesellschaft schaffen: die weitgehende Vernichtung der eigenen Zivilisation. Und wenn das geschieht, dann tun wir eines Tages das, was die Nauruer seit dem Zusammenbruch ihrer Wirtschaft tun: Mit einer Angel ans Ufer treten, um etwas auf dem Mittagstisch zu bekommen.

Dieser Artikel ist zunächst bei 60Minuten in Berlin erschienen (http://www.60minuten.net).

Profunde Halbbildung auf dem Weg zum Journalismus

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • GODERBAUER-MARCHNER, Gabriele: Journalist werden!. UVK-Verlag, Konstanz 2009, ISBN 978-3-86764-132-6.

profunde halbbildung auf dem weg zum journalismus (journalist werden!)

                                           © UVK – Verlag

 

„Die Medien transportieren, was in der Welt geschehen ist (…). Der Journalist, der diesen Informationstransport festlegt, auswählt, wertet, kommentiert, hat selbst eine Bedeutung, die ihn aus der Masse der Mitbürger heraushebt.“ Sehr knapp und präzise fasst die Professorin für Journalismus, Mediengeschichte und Medienpolitik Gabriele Goderbauer-Marchner die Arbeitsaufgaben eines Journalisten zusammen. Interessant hierbei ist, dass sie im ersten Kapitel ihres Buchs „Journalist werden!“ zwar die Bedeutung, aber nicht die Verantwortung des Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit erwähnt. In den letzten 30 Jahren hat sich im Berufsbild offenbar einiges geändert. Laut Goderbauer-Marchner fangen beispielsweise immer weniger Menschen ohne journalistischen Hintergrund an,  im Journalismus zu arbeiten – auch wenn es hier vergleichsweise viele dieser Quereinsteiger gebe.  Zudem habe sich die Ausbildung selbst im Laufe der Zeit sehr professionalisiert.

Auch die klare Trennung zwischen dem klassischen Journalismus der Printmedien und des Rundfunks auf der einen und der Unternehmenskommunikation und den Public Relations auf der anderen Seite würde immer durchlässiger. Eine weitere Veränderung beträfe die Arbeitsweise selbst. Die ehemalige Journalistin schreibt, sie werde „in Zukunft immer mehr mit den Fragen der Medienkonvergenz und der Digitalisierung zu tun haben. Denn die junge Zielgruppe wandert ins Internet“. Wer sich dort als Journalist behaupten wolle, sollte nicht nur das Handwerk des klassischen Journalismus, sondern eben auch die Multimedialität des neuen Mediums Internet beherrschen. Diese „Crossmedialität“ verlange von erfolgreichen Journalisten deshalb ein Denken und Zurechtfinden in mindestens zwei „Medienwelten“. Offensichtlich verschiebt sich also das Berufsbild des Journalisten.

Die Autorin stellt fest, dass sich der Journalismus heute in weiten Teilen auf die sogenannten „Freien“ stützt, die zwar meist selbst schreiben – während Redakteure Geschriebenes nur noch übernehmen – zugleich jedoch wenig Geld verdienen. Das Buch enthält eine Liste mit unentbehrlichen Charaktereigenschaften wie Neugierde und Unabhängigkeit.

Neben einem Studium seien Praktika unabdingbar für einen späteren Berufseinstieg, so die Autorin. Am besten in einer kleinen Redaktion, weil man dort mehr tun dürfe und das gleich für drei bis sechs Monate. Diese meist unbezahlten Praktika gehen jedoch an der Lebensrealität aller jungen Menschen vorbei. Vielmehr scheint hier ein wenig Betriebsblindheit der ehemaligen langjährigen Redaktionsleiterin vorzuliegen. Finanziell ist solch ein Praktikum für die meisten ein Desaster. Die Betreuung durch die Redakteure lässt auch oft zu wünschen übrig. Das Motiv, ein Praktikum über sich ergehen zu lassen ist die Hoffnung auf ein Volontariat. „Ein Volontariat zählt zu den klassischen und nach wie vor begehrtesten Einstiegen in den Beruf des Journalisten. 80 Prozent der Berufseinsteiger nehmen diesen Weg.“

Vor solch einem Volontariat steht meistens ein Studium, in dem man lernt, Informationen auszuwerten und zu kommentieren. „Der Journalismus fällt einem nicht in den Schoß, sondern ist eine Tätigkeit, die erlernt werden kann.“, so Goderbauer-Marchner. Um über ein Studium zum Journalismus zu gelangen, seien die Wege allerdings vielfältig. Immer jedoch sollte zumindest ein kleiner Teil mit Medien zu tun gehabt haben. Der Journalist „muss sich in ein Thema vertiefen können. Hartnäckig und nachhaltig“, dabei das Ziel verfolgen, „ein kompliziertes Thema sachlich korrekt, aber für die Allgemeinheit verständlich“ zu formulieren. Zugleich eigne man sich im Studium eine, wie der Münchener Journalist Herbert Riehl-Heyse es nennt, „profunde Halbbildung“ an.

Genau das vermittelt „Journalist werden!“: eine profunde Halbbildung. Das Buch hat den Charakter eines Ratgebers für Neulinge und richtet sich damit eher an Abiturienten als an ambitionierte Quereinsteiger. Es bietet einen Überblick über den aktuellen Journalismus. Allerdings ist es kaum mehr als eine erste Orientierung. Meint man es wirklich ernst, sollte die Lektüre unbedingt vertieft werden – beispielsweise anhand der aufgeführten Tipps und Links. Bedauernswert ist die ab und zu auftretende Betriebsblindheit der Autorin, die den Beruf des Journalisten ein wenig verklärt und aus ihm einen „Helden des Alltags“ macht. Letztlich – so kann man aus „Journalist werden!“ lernen – ist der Spaß am Schreiben entscheidend für den Karriereweg eines angehenden Journalisten.

Keine Standing Ovations

Besprochen von Linda Stanke

  • FISCHER, Heinz-Dietrich: Picture Coverage of the World. Pulitzer Prize Winning Photos. Lit Verlag 2011. ISBN: 978-3643108449.

Welche Erwartungen weckt ein Buch mit dem Titel Picture Coverage of the World. Pulitzer Prize Winning Photos? Die meisten werden wohl einen Bildband vermuten, der mit ergänzenden Hintergrundinformationen zu den Bildern, den Fotografen und vielleicht noch zur Geschichte des „Pulitzer Prize for Press Photography“ ergänzt wird. Je nach wissenschaftlichem oder künstlerischem Anspruch bestimmen Text oder Bilder die äußere Erscheinung des Werkes. Blättert man durch Heinz-Dietrich Fischers 2011 im Lit Verlag erschienenes Buch, ist man sich der Bestimmung nicht sicher. Da der Textanteil überwiegt, kann nicht von einem Bildband gesprochen werden. Man einige sich also auf die wissenschaftliche Lesart.

Fischer beginnt erwartungsgemäß mit einer Einleitung, in der er seine Absicht zu diesem Buch erklärt („The book at hand attempts to document the evolution of this award“) und sein Vorgehen präsentiert, die Gewinnerfotos aus 70 Jahren „Pulitzer Prize for Press Photography“ kulturell und inhaltlich gewissenhaft einzuordnen.

In der Folge werden auf 233 Seiten alle Gewinnerfotos auf jeweils einer Doppelseite vorgestellt. Das Schema ändert sich nicht: Nach der Nennung der Kategorie („Feature Photography Award“ oder „Spot News/Breaking News Photography Award“), des Jahres, des Fotografen und der Tageszeitung, in der das Foto erschienen ist, geht der Autor in vier Absätzen kurz auf die Juryentscheidung ein, benennt weitere Nominierungen, portraitiert den Fotografen und erläutert knapp das Foto. Die Redundanz ist sicherlich dem Chronikcharakter geschuldet und stört an sich nicht, wenn der Leser einen Bildband erwartet hätte. So jedoch fehlt dem Text die Tiefe: historische oder kulturelle Hintergründe zur Entstehung der Bilder werden zwar gegeben, nicht aber in einen wissenschaftlichen Kontext eingeordnet; die Juryentscheidungen werden nicht analysiert oder kritisch hinterfragt. Der gesamt Text kratzt an der Oberfläche, mehr nicht.

Liest man das Buch hingegen als Bildband, fällt als erstes die schlechte Bildqualität auf. Zwar weist Fischer in seiner Einleitung auf Qualitätsunterschiede hin und begründet dies mit fehlendem Archivmaterial. Dieses Argument wird jedoch hinfällig bei Fotografien neueren Datums, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit digital vorliegen und deren Macher mit Sicherheit kontaktiert werden können, um eine bessere Auflösung des Bildes zu liefern.

Die Frage ist nun: Wenn der Verlag schon viel Geld für Bildrechte ausgibt, warum er das Material dann so lieblos abdruckt? Körnige Schwarzweiß-Fotografien können durchaus Charme besitzen, doch hier hat man sich keine Mühe gemacht, die Bildauflösung zu prüfen oder Kontraste nachzubessern. Das Gewinnerfoto „Severely wounded U.S. soldiers in Baghdad“ (John Moore et al.) aus dem Jahr 2005 beispielsweise ist pixelig. Stan Grossfelds „Shiite moslem orphans playing in Lebanon“ von 1984 ist so schlecht reproduziert, dass man auf den ersten Blick keine kleinen Mädchen mit Hoolahoop-Reifen erkennt, sondern behelmte Marsmenschen wie in Tim Burtons „Mars attacks“ vermutet. In unserem digitalen Zeitalter kann man wirklich mehr erwarten.

Der Kommunikationswissenschaftler Heinz-Dietrich Fischer hat schon zahlreiche Bücher zum Pulitzer Prize veröffentlicht. Dieses hier trägt jedoch nicht zu seiner Reputation bei. Die inhaltlichen Mängel könnte man sogar verschmerzen, wenn der Verlag sich für die richtige Präsentation dieser (informativen, aber nicht wissenschaftlichen) Arbeit entschieden hätte. Diese langweilige und billige Darstellung ist enttäuschend und rechtfertigt den hohen Ladenpreis von 89,90 EUR keineswegs.

 

Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik.

Besprochen von Hans W. Giessen

  • BUCKLAND, Michael: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Aus dem Englischen von Gernot Rieder. Avinus, Berlin 2010. ISBN: 978-3869380155.

(Erstmals erschienen in: Information – Wissenschaft & Praxis 62 Jahrgang Nr. 2/3, März/April 2011, 134 – 135.)

Dass sich die Technik, die gesellschaftliche Entwicklung, das Weltwissen immer schneller ändern, ist ein Gemeinplatz. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Informationswissenschaft vor allem auf die Gegenwart blickt. Dabei ist auch ihre Geschichte überraschend und teilweise ausgesprochen spannend. Ein Beispiel ist die Lebensgeschichte des Emanuel Goldberg (geboren am 31 August 1881 in Moskau, gestorben am 13 September 1970 in Tel Aviv), die in weiten Teilen eine deutsche Lebensgeschichte ist – bis Goldberg in den dreißiger Jahren nach Israel fliehen musste.

Nun war Goldberg kein Informationswissenschaftler im engeren Sinn – sprich: er hat weder Bibliothekswissenschaften noch ein anderes Fach studiert, das als Vorläufer der heutigen Informationswissenschaft gelten kann. Vielmehr war er ausgebildeter Chemiker, zudem Erfinder, Hochschullehrer, Unternehmer, Fotograf und Filmregisseur. Dass seine Biografie dennoch hier gewürdigt wird, hängt damit zusammen, dass auf ihn auch eine Erfindung zurückgeht, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, die aber in der Tat bahnbrechend war: die ,Statistische Maschine’. Sie hat die unterschiedlichsten Wissensbereiche, Techniken und Medien zusammengeführt. Die wichtigsten Medien waren der Mikrofilm, mit dessen Hilfe Dokumente gespeichert wurden, zudem Lochkarten, um Suchanfragen formulieren zu können. Technisch nutzte Goldberg einen ,Kinematographen’; die Dateneingabe erfolgte über ,Telephonie’. Letztlich handelte es sich um ein optisch-elektronisches System, das in einem Bildschirm-Arbeitstisch integriert war, den Goldberg wohl 1931 bereits konstruiert hatte; im zweiten Weltkrieg ist er offenbar durch Bombardierung vernichtet worden. An diesem Arbeitsplatz war es damals schon möglich, Dokumente aufgrund spezifischer Kriterien zu suchen, auszuwählen und abzubilden.

Das klingt nach der fiktiven Memex in Vannevar Bushs berühmten und vielzitierten Essay “As we may think“ aus dem Jahr 1945? In der Tat; und offenbar wusste Bush auch von Goldberg – der mithin der eigentliche ,Erfinder’ dessen ist, wofür Bush in vielen Fußnoten gedankt wird: des Konzepts der Suchmaschine, bis zu einem gewissen Grad auch des Hypertexts. In Wahrheit hatte Bush keinen entsprechenden Apparat in petto, sondern griff nur Ideen dessen auf, was Goldberg 15 Jahre früher realisiert hatte. Aber 1945 war Goldberg in Israel, hatte seine einflussreiche Stellung in Deutschland verloren – wo sich an ihn, den Juden, auch niemand mehr erinnern wollte. Aber auch in Amerika hat ihn nicht zuletzt Bush offenbar bewusst verschwiegen, um den eigenen Stern umso stärker leuchten zu lassen. Erst jetzt hat die neue Biografie von Michael Buckland deutlich gemacht, wer Goldberg tatsächlich war: unter anderem eben auch ein früher Informationsexperte, einer der Begründer der Informationswissenschaft.

Michael Buckland ist emeritierter Professor der School of Information an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Einerseits will er die Geschichte der Informationswissenschaft an durchaus entscheidender Stelle korrigieren. Buckland ist dazu der richtige Mann, mit überlegenem fachlichen Überblick. So wäre allein die Art und Weise, wie er diesen komplexen informationswissenschaftsgeschichtlichen Stoff fachlich wie sprachlich fasst (und etwa technische Erfindungen und Vorgänge anschaulich beschreibt), ein Musterbeispiel souveräner Informationsaufbereitung. Einzige Kritik: Angesichts der Fülle an Namen, technischen Daten und Geräten wäre ein Register wünschenswert gewesen. Immerhin gibt es einen ausführlichen Appendix, in dem Goldbergs Laborerzeugnissen aufgelistet und wohl erstmals eine Gesamtveröffentlichungsliste Goldbergs publiziert wird.

Andererseits ist Buckland von seinem Helden ganz offensichtlich fasziniert, und er taucht tief in diese spannende Verknüpfung von Lebens- und Zeitgeschichte ein. Goldberg stammt aus einer jüdischen Familie, die in Moskau lebte; sein Vater hat es, eine große Ausnahme für einen Juden im zaristischen Russland, zum Offizier, Hofrat und in den Adelsstand gebracht. Bemerkenswert ist, dass der Sohn, obwohl hochintelligent, dennoch nicht an der ,Kaiserlichen Technischen Lehranstalt’ studieren konnte, da die Studienplätze für Juden limitiert waren. Freilich, der junge Mann, der auch Deutsch sprach (angeblich hat ihm seine deutschstämmige Mutter ihre Sprache so beigebracht, dass er akzentfrei redete und als Muttersprachler durchgehen konnte), nutzte dieses Problem virtuos, indem er seine Ausbildung selbst in die Hand nahm. Neben Studien an der Universität Moskau besuchte er Veranstaltungen an den Universitäten in Königsberg, Leipzig und Göttingen, zwischendurch war er auch in London. Er suchte sich die besten Lehrer, in Göttingen etwa Walter Nernst, der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten sollte, und in Leipzig Wilhelm Ostwald, Chemie-Nobelpreisträger von 1909. Das klingt, wie man sich ein Studium vorgestellt haben mag, als der ,Bologna-Prozess’ konzipiert wurde… Bei Wilhelm Ostwald konnte Goldberg 1906 auch promovieren. Die Arbeit trug den Titel „Beiträge zur Kinetik photochemischer Reaktionen“.

Vor diesem Hintergrund ist es fast kein Wunder mehr, dass er bereits ein Jahr später, nach kurzer Assistenzzeit an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, zum Professor an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig ernannt wurde, wo er sich zunächst mit den technischen Voraussetzungen der Reproduktionsfotografie befasste. Aber nicht nur – er war immer offen, forschte weiter, dabei stets anwendungsorientiert. Schon damals befand er sich, als einer der wenigen seiner Zeit, an der ,Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine’, denn immer ging es ihm auch darum, was der Mensch aufgrund seiner physischen und psychischen Konstellation nutzen wollte und konnte. Und obwohl er sich stets als Chemiker und Techniker verstand, war er beispielsweise schon im Studium im Kontakt mit Wilhelm Wundt, der damals gerade die Psychologie als empirische Wissenschaft begründete. Seine Lehrveranstaltungen umfassten auch künstlerische Fragestellungen und Themen.

Goldberg war so innovationsfreudig, erfinderisch und anwendungsorientiert, dass er Angebote aus der Industrie erhielt, insbesondere aus England und den USA, dort von Kodak. Aber er wollte in Deutschland, in seiner ,Heimatstadt Leipzig’ bleiben. Dort wurde 1914 sein Sohn Herbert geboren. Aber auch hier kam bald ein sehr interessantes Angebot, das er dann auch annahm. So wechselte Goldberg 1917 auf den Direktorenposten der „Internationalen Camera Actiengesellschaft“. Er war maßgeblich beteiligt, als die ICA 1926 durch Fusionen in die Zeiss Ikon umgewandelt und zum weltweit führenden Unternehmen im Bereich von Fotoapparaten und Filmkameras ausgebaut wurde. Eine beeindruckende, glückliche Karriere; glücklich wohl auch im Privatleben – 1922 wurde als zweites Kind die Tochter Renate geboren.

Auch bei Zeiss Ikon blieb er überraschend innovativ, kreativ, ja spielerisch. Auf der einen Seite war er an Patenten aus den unterschiedlichsten Bereichen beteiligt, von der Luftfotografie bis zur Mikrofotografie. Vielleicht hätte aus Goldberg gar ein deutscher Edison werden können. Natürlich ist es müßig, zu spekulieren, was er noch hätte entwickeln können, wenn er nicht 1933 ausgebremst worden wäre. Zudem war Goldberg nicht nur Techniker und Erfinder, sondern auch, wie Edison, ein kaufmännisch, und, dahingehend den Vergleich sogar übertrumpfend, ein künstlerisch hochbegabter Mann. Er kümmerte sich um Marketingstrategien und drehte, um zu zeigen, wie gut die Kinamo-Filmkamera funktionierte, selbst kleine Minimovies: „Die Drehbücher hatte er selbst verfasst und auch für die Produktion verzichtete er auf Hilfe von außen. In den Filmen traten er selbst, seine Frau, seine Kinder und einige Freunde der Familie als Schauspieler auf“ (121). Aber die Filme waren offenbar alles andere als amateurhaft, wie Buckland betont: „So lässt sich in ihnen eine sehr fachkundige Komposition, ein gekonnter Schnitt und ein ziemlich raffinierter Einsatz von Gegenlicht und Schatten erkennen“ (125). Der noch junge Joris Ivens, später einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer des zwanzigsten Jahrhunderts, besuchte Goldberg, um von ihm zu lernen. In seinem berühmten frühen Film „Die Brücke“ aus dem Jahr 1928, der als einer der ersten Dokumentarfilme auch die Rolle des Filmemachers thematisierte, indem Ivens sich bei der Arbeit zeigt, ist er mit einer Goldbergschen Kinamo-Kamera zu sehen.

Der Bruch kam bereits 1933, als Emanuel Goldberg von SA-Schergen entführt und misshandelt wurde. Immerhin war er in der Position, sich retten zu können. Bis 1937 arbeitete er für eine Zeiss-Niederlassung in Frankreich, bevor er nach Palästina emigrierte. Auch wenn er weiter kreativ und unternehmerisch blieb – er gründete ein Laboratorium, aus dem später die Electro-Optical Industries hervorging, der Nukleus der optischen Industrie Israels –, war es schwer, an die frühen Erfolge anzuknüpfen. So verlief sein weiteres Leben glimpflich im Vergleich zu dem anderer Juden, und insofern war er nach wie vor ein Glückskind. Aber dennoch: Er wurde aus seinem Lebensumfeld gerissen, seine Karriere war zerstört. Was hätte er noch alles entwickeln können, wäre sie weiter so verlaufen, wie sich dies abgezeichnet hatte!

Dass Bucklands Goldberg-Biografie nun auch in deutscher Sprache erscheint, ist eine kleine Wiedergutmachung und Goldbergs Bedeutung absolut angemessen. Dass sie zudem ausgesprochen lesbar und spannend geschrieben ist, macht aus der Lektüre ein intellektuelles Vergnügen.

 

PRO und KONTRA: „Scheißkerle“ vom Roman Maria Koidl

Besprochen

  • KOIDL, Roman Maria: Scheißkerle. Warum es immer die Falschen sind. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. ISBN: 978-3-455-50154-4.

Der vorliegende Titel hat in der Redaktion dermaßen polarisierte Reaktionen ausgelöst, dass wir uns – einmalig in der Geschichte des „besprochen“-Magazins – entschlossen haben, die unterschiedlichen Positionen in einem „Pro“ und einem „Kontra“ wiederzugeben.

KONTRA
von Daniela Nagorka

Bereits nach dem ersten Blick auf Cover und Titel von Roman Maria Koidls „Scheißkerle“ weiß man, was man in etwa von diesem Buch zu erwarten hat, nämlich Betrachtungen zur Verdrossenheit von Frauen gegenüber Männern, ironisches Klagen und Anekdoten über Probleme zwischen den Geschlechtern. Schon nach den ersten drei Seiten hat man dann die Gewissheit: Kein Klischee wird ausgelassen, jedes einzelne wird gnadenlos ausgeschlachtet und nervig zugespitzt. Allein das Cover bedient schon drei davon. Die Farbauswahl soll wohl eine Anspielung auf die kitschigen Vorlieben der Frau sein, der Frosch symbolisiert den (manchmal vorübergehend) verwunschenen Prinzen, den sich jede Frau wohl wünscht, und der Titel steht für das (Vor-)Urteil, dass Frauen die meisten bis alle Männer wegen zahlreicher Enttäuschungen einfach scheiße finden. Rein äußerlich lockt das Buch vermutlich tatsächlich mehr weibliche Leserinnen an.

Liest man sich dann doch ein wenig in den Stoff hinein, wirkt der Autor (zumindest auf die der vermutlich angesprochenen Zielgruppe zugehörigen Rezensentin) allerdings nicht unbedingt als Frauenversteher. Eher im Gegenteil: Einige könnten sich ein wenig veräppelt vorkommen. Einem Mann nimmt man das alles irgendwie nicht so ab, weil man sich fragt, ob er selbst überhaupt versteht, worüber er da schreibt. Diesen ganzen Ratschlägen, Erklärungen und Warnungen fehlt es an Überzeugungskraft und auch Ehrlichkeit, die vermutlich eher vorhanden wären, wenn das Buch eine Frau geschrieben hätte, die es nicht nur oberflächlich beurteilen kann, sondern aus dem Inneren, aus selbst erfahrenen Emotionen heraus.

Dieses Buch dient lediglich der Massenunterhaltung einer bestimmten Zielgruppe, nämlich den weiblichen „thirty somethings“ ohne Partner oder mit einem Exemplar Mann an ihrer Seite, das man eigentlich nie haben wollte. Somit eignet es sich zur Eigentherapie, die notgedrungen allerdings erfolglos bleiben wird – es sei denn, man schwört den Männern komplett ab – , denn der Autor selbst lässt kein gutes Haar an seinesgleichen. Er kann auch nicht umhin, die Single-Frau ab 30 als Unbelehrbare mit Helfersyndrom abzustempeln, die immer wieder an die falschen Männer gerät, also beispielsweise an solche, die sich nicht binden wollen und deshalb vorgeben, noch geschädigt und verletzt aus der vorherigen Beziehung zu kommen, oder solche, die eine Basis für ihre Lügen und Betrügereien schaffen, indem sie zunächst Mitleid erwecken.

Jedenfalls wird eine Frau, die auf Partnersuche ist oder in einer ernüchternden Beziehung steckt und sich an einigen Stellen des Buches wiederfindet, selbst mit einer riesigen Portion Galgenhumor und Selbstironie wahrscheinlich nicht über das Geschriebene schmunzeln können, sondern sich eher im Selbstmitleid baden, weil sie sich durch die Parallelen zu ihren eigenen Erfahrungen in ihrem Unglück auch noch bestätigt sieht. Welchen Zweck verfolgt also dieses Buch? Sollen enttäuschte Frauen etwa ihre allerletzten Hoffnungen begraben, doch noch einen beziehungswilligen und -fähigen Partner zu finden, einen Mann, der ehrlich zu lieben imstande ist?

Vielleicht eignet sich das Werk eher für Männer, die einmal wissen möchten, wie Frauen über sie denken, um über ihr Verhalten nachzudenken und die Frauen einfach mal mit Anderssein zu überraschen, damit sie nicht mehr nur ein Frosch unter vielen sind – falls er das überhaupt will. Der Autor unterstellt dem Großteil der Männerschaft nämlich Vorsätzlichkeit, wenn es um das Betrügen, Demütigen oder Manipulieren von Frauen geht, um mehrere von ihnen parallel beglücken zu können. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass solch strategisches Vorgehen tatsächlich von ihnen gesteuert wird, weil doch vom Autor häufiger betont wird, dass Männer eher einfach gestrickt und leicht zu durchschauen sind. Übrigens werden Frauen, die auf das betrügerische, sadistische Verhalten solcher Typen hereinfallen, vom Autor verständnisvoll als Opfer bezeichnet – analog zur Rechtsterminologie in Fällen von „seelischer Grausamkeit“.

Sicher mag es all diese Fälle geben, dennoch kann wohl niemand behaupten, dass Affären und Liebesbeziehungen allein aus permanenten Machtspielchen, Unterdrückung, Manipulation und Betrügereien bestehen. Gerade in den mittleren Kapiteln verliert das Buch diesbezüglich nämlich jegliche Komik und Ironie. Stattdessen werden ernst gemeinte Erklärungen in der Kindheit und der Erziehung gesucht. So seien beziehungsmissratenen Männern als Kind einfach keine Grenzen gesetzt worden. Und Frauen hätten in ihren Beziehungen noch immer unter Aufmerksamkeitsdefiziten und Verlustängsten zu leiden, wenn sie vom Vater nicht genügend beachtet wurden. Aha, so simpel ist das also. Und die passende Lösung hält der „Experte“ in seinem „Ratschlag-Katalog“ im Anhang unter der Nummer 17 auch bereit: Da helfe nämlich nur noch der Gang zum Psychologen.

War es nun wirklich nötig, dieses Buch zu schreiben? Sobald man sich in einer der darin geschilderten Situationen befindet, bestimmt meist sowieso das Herz über den Kopf. Man wird sich kaum an die Tipps in diesem Ratgeber erinnern, geschweige denn nach ihnen handeln.
Der Autor hat es sich etwas leicht gemacht: Er hat lediglich sämtliche Klischees, Vorurteile, Enttäuschungen, die jeder kennt und denen man täglich begegnet, gesammelt. Die verbitterten Reaktionen der von ihm interviewten Frauen auf seine Belehrungen hat er in teils gewollt lustige, teils schönsprachige Sätze verpackt. Hin und wieder findet man einen intelligent formulierten Satz, was aber nichts am mäßigen Gesamteindruck dieses Buches ändert. Man gewinnt keinerlei Mehrwert bei der Lektüre dieses Buches, außer vielleicht, der Leser ist ein Mann, der Nachhilfe in dem bekommen möchte, was seine Geschlechtsgenossen nach Meinung des Autors naturgemäß am besten können …

 

PRO
von Leif Allendorf

Es wird wohl kaum einen Leser geben, dem beim Lesen dieses Buches nicht auf Anhieb drei Personen im Bekanntenkreis einfallen, die exakt dem von Roman Maria Koidl beschriebenen Muster entsprechen. Gute Freundinnen, die an einem Partner festhalten, über dessen Benehmen ein halbwegs vernünftiger Mensch nur den Kopf schütteln kann, Bekannte, die verzweifelt darauf warten, „dass er sich noch meldet…“. Doch der Autor beschränkt sich glücklicherweise nicht darauf, einen Missstand zu thematisieren und zu beschreiben. Stattdessen geht er minutiös den Verhaltensstrukturen auf den Grund, die es möglich machen, dass kluge attraktive Frauen Mitte dreißig wertvolle Zeit, manchmal sogar Jahre damit verschwenden, einem Mann nachzulaufen, der dies offenbar nicht verdient.

Liebesbeziehungen rühren an den empfindlichsten und verletzlichsten Teil unseres Selbst. Eine Enttäuschung ist hier notwendig eine Katastrophe, ein Scheitern die totale persönliche Niederlage. Eine Bindung aufzubauen dauert Jahre, sie zu zerstören kann eine Sache von Minuten sein. Außerdem hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Zusammenleben nur zum kleineren Teil aus romantischen Momenten besteht – und beiderseits großer Geduld bedarf. Ist es da nicht angemessen, an einer Partnerschaft festzuhalten, auch wenn sie einer längeren Krise unterworfen wird?
Im Prinzip ja. Die Sache wird nur problematisch, wenn hier mit falschen Karten gespielt wird, wenn beispielsweise wie in Koidls Fallstudie die Frau ihrem Partner (oder Verehrer, oder verheiratetem Liebhaber) einen Vertrauenskredit einräumt, den dieser nicht im Traum zurückzuzahlen gedenkt, sondern im Gegenteil vorhat, das Konto so weit wie möglich zu überziehen und sich mit dem Gewinn aus dem Staub zu machen. Diese persönlichen Dramen nachvollziehbar zu machen, in diesen individuellen Schicksalen ganz simple objektiv nachvollziehbare Verdachtsmomente, Indizien und Beweise aufzuzeigen, mit Koidls Worten „Spiele aufdecken und sie beenden“: das ist das große Verdienst von „Scheißkerle“, einem Ratgeber, für den besonders spricht, dass er sich sehr skeptisch zu Ratgeberbüchern äußert.

Über weite Strecken gibt der Autor wider, welche Geschichten er sich von Frauen aus seinem Bekanntenkreis anhören musste und wie die Betroffenen ganz offensichtlich schreckliche Beziehungen schönredeten und auf eindeutig hoffnungslose Fälle setzten. Es folgt die Schilderung vergeblicher Versuche, mit logischen Argumenten das Netz aus Selbstbetrug zu zerreißen. Abschließend versucht Roman Maria Koidl, Erklärungen dafür zu finden, dass kritische Frauen ihre Kritikfähigkeit verlieren, vernünftige Menschen sich in völlig illusorischen Hoffnungen ergehen und Personen, die sich im Leben sonst sehr gut durchzusetzen wissen, sich plötzlich hin- und herschubsen lassen. Da ist der jedem Menschen innewohnende Wunsch, geliebt zu werden und die Angst, einsam zu werden und zu bleiben. In extremen Fällen hat eine verkorkste Beziehung zum Vater die Tochter so sehr geschädigt, dass sie sich unbewusst in aussichtslose Partnerschaften einlässt, um sich in ihrer Verbitterung bestätigt zu sehen.

Natürlich hat Koidls Sammlung von Fallstudien auch Schwächen. So gehört die Vorstellung, dass Männer nur „das eine“ wollen, während es Frauen nur um „das Gefühl“ geht, in die Mottenkiste. Auch die wiederholte Beteuerung, Frauen seien eh die besseren Menschen, bewegt sich irgendwo zwischen Galanterie und Schleimerei. Entscheidend ist, dass Koidl ein nobles Ziel verfolgt: Die Tricks und Kniffe der „Scheißkerle“ kann er als Mann unbefangen öffentlich machen. Würde eine Frau dies tun, so hätte es einen faden Beigeschmack. Und damit erweist Koidl sich wirklich als Kavalier.

 

Rendezvous statt Kampf der Kulturen?

Besprochenvon Hans W. Giessen

  • COURBAGE, Youssef/ TODD, Emmanuel: Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. Piper, München 2008. ISBN 978-3492051316 Pick It!

Der französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist natürlich eine Reaktion auf Samuel Huntingtons vielbeschworenen „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996, dessen vieldiskutierte These besagt, dass die Konfliktlinien auf der Welt entlang kultureller – eigentlich: religiös-ideologischer – Großräume verlaufen. Der 11. September 2001 wurde vielfach als dramatischer Beleg für Huntingtons Szenario empfunden.

Youssef Courbage und Emmanuel Todd leugnen den Einfluss Huntingtons auf die öffentliche Meinung im ,Westen‘ natürlich nicht, und ebensowenig, dass die islamischen Länder einen speziellen Kulturraum darstellen – ansonsten hätten sie ihren Titel anders wählen beziehungsweise ihr Thema anders einkreisen müssen. Natürlich streiten sie auch nicht den ideologisch begründeten Hass vieler junger Muslime auf den Westen ab. Allerdings gehen die Autoren davon aus, dass die Kultur nur eine unter mehreren Variablen ist, die menschliches Verhalten prägt – in ihren Augen ist sie nicht einmal die wichtigste Variable. Soziale und insbesondere demographische Variablen seien letztlich wichtiger. In ihrer Analyse sozialdemographischer Daten finden Courbage und Todd nun Hinweise, die Huntington (zumindest) die Brisanz nehmen: Auch der islamische Kulturkreis werde von den Kräften der modernen Welt erfasst; dies führe auch dort zu mehr Rationalität – die Globalisierung ist stärker als der Kampf der Kulturen.

Youssef Courbage ist gebürtiger Syrer und arbeitet heute als Forschungsdirektor am Institut National d’Études Démographiques in Paris. Emmanuel Todd, Urgroßcousin des Anthropologen Claude Lévy-Strauss, ist am selben Institut tätig. Ihre demographischen Daten sind eindrucksvoll. Zunächst stellen sie eine Wechselwirkung zwischen Bildung und Geburtenraten fest. Sie können zeigen, dass überall, wo Frauen Lesen und Schreiben lernen konnten, die Geburtenzahl rückläufig ist. Analphabetismus nimmt (auch) in der arabischen Welt deutlich ab; gleichzeitig sinken die Geburten pro Frau vom hohen einstelligen Bereich (sechs bis acht, in vielen Fällen über zehn Kinder) auf durchschnittlich rund zwei Kinder. Die Geburtenraten der islamischen Länder nähert sich also rapide denjenigen an, die wir seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus anderen Kulturkreisen kennen: natürlich aus Europa, aber beispielsweise auch aus Ostasien.

Das Buch ist wichtig, weil es strukturelle Variablen aufwertet, die in kulturwissenschaftlichen Diskussionen häufig übersehen werden – Huntington, um ein letztes Mal seinen Namen zu nennen, berücksichtigte eben nur kulturell-religiös-ideologische Parameter und kommt so nach meinem Dafürhalten zu einer Überbewertung scheinbar unüberwindlicher Gegensätze. (Im Übrigen: Courbage und Todd führen die Auseinandersetzung mit Huntington nicht explizit; vielleicht geht der Titel vom „rendez-vous des civilisations“ lediglich auf Marketingüberlegungen des Verlags zurück.).

Dass gerade demographische Variablen von großer Bedeutung sein können, zeigen komparatistische Beobachtungen zum „youth bulge“, wonach ein überproportionaler Anteil von jugendlichen Männern ohne ökonomische oder auch nur karrieremäßige Perspektive in auffälliger Häufigkeit mit Unruhen, Kriegen, Eroberungen, aber auch Bürgerkriegen und chiliastischen Bewegungen korreliert. Das war im Europa der frühen Neuzeit nicht anders als heute in der islamischen Welt. Wenn also die Demographie eine Abschwächung dieses „youth bulge“ andeutet, ist dies vermutlich ebenfalls nicht ohne Konsequenzen. Ich vermute, dass es doch zu simplifizierend ist, daraus eine kulturelle Konvergenzentwicklung abzuleiten – dass dieses Faktum aber ebenfalls kulturell wirksam ist, scheint ebenso einleuchtend. Darauf hingewiesen und es mit eindrucksvollem Zahlenmaterial illustriert zu haben ist das große Verdienst dieses Buches.

Allerdings scheinen mir Autoren in ihrem Bemühen, durch Aufwertung der früher allzu oft vernachlässigten sozialstrukturellen Variablen die globalen Entwicklungen besser zu verstehen, mitunter ins Gegenteil zu verfallen und kulturell-religiös-ideologische Parameter (oder auch nur den Wechselwirkungen zwischen Kultur und Struktur) zu wenig Bedeutung beizumessen. Ein Beispiel für diese einseitige Überbewertung ist die Annahme, die Alphabetisierung führe quasi zwangsläufig zu einer rationaleren Gesellschaft. Ein simples Gegenbespiel dazu wären die Irrationalismen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts Deutschland beherrscht hatten, ein alphabetisiertes Land, das „Land der Dichter und Denker“. Solche Über- und Fehlbewertungen ändert jedoch nichts daran, dass die Mitberücksichtigung struktureller (soziodemographischer) Variablen eine Erweiterung unseres Verständnisses menschlichen Verhaltens ermöglicht.

 

Gedächtnismedium Film: Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945

Besprochen von Victor Nono

Ausgehend von den Arbeiten von Harald Welzer wendet sich Christoph Vatter einem in den letzten Jahren gewachsenen Interesse an der Mediatisierung von Erinnerung, insbesondere an den Holocaust und den Nationalsozialismus zu. Anders als Welzer interessiert er sich jedoch weniger für die Rückwirkung der filmischen Darstellung auf die Zeitzeugen als vielmehr auf den Beitrag von filmischen Darstellungen für die Diskursgeschichte des Dritten Reiches bzw. Frankreichs unter deutscher Besatzung. „Medien können nach dieser Auffassung ein Erinnerungsangebot darstellen“, schreibt Vatter,  „das – wenn es entsprechend breit rezipiert wird – zum Kommunikationsanlass werden und in einer bestehende Erinnerungskultur integriert werden kann. Das Zusammenspiel mehrerer Medien, d.h. die transmediale Darstellung eines Ereignisses oder Themas, könnte – in Analogie zu kognitiven Lerntheorien – zu einer tieferen Verarbeitung und damit auch zu produktiven Aneignungsprozessen der Rezipienten beitragen […] Die Erinnerungskultur einer Gesellschaft umfasst demnach nicht nur das erinnerte historische Geschehen, sondern auch die Summe all seiner medialer Verarbeitungen, die Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikation waren und sind.“ (S. 37)

Diese an aktuelle Forschungsdiskussionen anknüpfende Reflexion ist für Vatter Anlass, sich der Bedeutung filmischer Darstellungen für die Erinnerungskulturen in Frankreich und Deutschland zuzuwenden. Dabei gelingt ihm zunächst eine kleine Miniatur: die knappe und übersichtliche Zusammenfassung der wesentlichen Etappen deutscher und französischer Diskurse im Vergleich, die tatsächlich einen wertvollen Überblick gerade der in Deutschland wenig bekannten französischen Entwicklungen bietet.

Das Hauptaugenmerk von Vatters Arbeit liegt indes auf der Beobachtung der filmischen Entwicklung, die mit eindrucksvollen Analysen glänzt. Dabei wählt Vatter jeweils exemplarisch für eine historische Phase Filme aus, die in besonderem Maße die Debatte prägten: Angefangen bei René Clement, Wolfgang Staudte, Helmut Käutner, Julien Duvivier, Kurt Hoffmann und Claude Berri bis hin zu Louis Malle, Rainer Werner Fassbinder, Gérard Jugnot und Roland Suso Richter reicht eine breite Palette hochkarätiger Filmemacher, die die Entwicklung bis 2002 verfolgt.  Auch wenn sich die Systematik der Auswahl der Filme nicht immer erschließt, überzeugen die Einzelanalysen durch die pointierten Analysen, die filmanalytische und diskursanalytische Ergebnisse miteinander in Verbindung setzen.  Vatters Buch bietet damit erstmals einen vergleichenden Überblick über die „Filmgeschichte des Diskurses“ über Holocaust und Nationalsozialismus in Deutschland und Frankreich.

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Geschichte – Erinnerungen – Ästhetik

Besprochen von Victor Nono

Dass Erinnerungskultur schon immer schon durch Medien geprägt war und ist, hat sich in der Forschung der letzten Jahren mehr als durchgesetzt. In dieser Linie, die Medien der Erinnerungskultur zu beschreiben, liegt auch eine der neuesten Publikationen, der von Kirsten Dickhaut und Stephanie Wodianka herausgegebene Band Geschichte – Erinnerung – Ästhetik, der sich der Beziehung zwischen diesen drei Begriffen widmet, wobei vor allem auf die Figur der Medialität referiert wird, die sich auf die von den Autorinnen gebrauchten Chiffre des „Ästhetischen“ verkürzt. So wird die Idee der Geschichte selbst als etwas Kontextabhängiges erfahren, als etwas, dass nach dem jeweiligen Stand der Ästhetik in einem „spezifischen kulturhistorischen Kontext wie ‚Geschichte‘ erinnert wird“ (Dichhaut/Wodianka 2010, S. XVII). Medienerfahrungen zeigen sich ferner in der Form der Ästhetik oder der Ästhetisierung von Geschichte. „In einer generelleren Hinsicht begründet die Historizität von Formen und Konzepten des Ästhetischen aber auch ein stets kulturhistorisch zu verortendes Verhältnis zwischen ästhetischer Präformierung von Geschichtswahrnehmung und Ästhetisierung von Geschichte“, heißt es bei den Autorinnen. Und schließlich könne Ästhetik die Deutung von Geschichte verändern oder selbst in Geschichte eingreife oder – als Medienereignis – „selbst zum erinnerungswürdigen Ereignis werden“ (Dickhaut/Wodianka, S. XVIII). Die in dem Band visierte Medialität konzentriert sich auf das Spannungsfeld zwischen Geschichtsschreibung (Nora, Bloch, etc.) und Literatur mit einem klarem Schwerpunkt auf romanische Autoren. Dabei versucht das Projekt Brücken zu schlagen zwischen Geschichtswissenschaft, Erinnerungsforschung und Literaturwissenschaft – so der disziplinäre Leitfaden. Leider fehlt es – nimmt man Ansgar Nünnings Beitrag zu theoretischen Modellen literarischer Geschichtsschreibung einmal aus – weitgehend an konzeptionellen Reflexionen, die den Anspruch hätten, modellbildend das Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Ästhetik zu skizzieren und dabei auch deren Medialität zu berücksichtigen, gerade auch weil der Band mehrere Jahrhunderte – vom Mittelalter bis in die Gegenwart – umfasst. Gelungen ist dem Werk hingegen eine eindrucksvolle Sammlung qualitativ hochwertiger Einzelbeiträge, die sich mit vielfältigen (vor allem für Romanisten interessanten) Phänomenen der Geschichtsschreibung und der Literaturgeschichte beschäftigen, die unter dem Aspekt der Gedächtnis- und Erinnerungsproblematik gegen den Strich gelesen wurden.

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