We don’t let the memory freeze. „Unfreeze“. Ein Film über das Kunstprojekt ‚Social Bookmarking‘ in Hamburg.

von Maria Kotylevskaja, Stefanie Schulz und Xin Tong

Unfreeze beschäftigt sich mit dem Kunstprojekt ‚Social Bookmarking‘, das sich mit partizipativen Erinnerungsformen befasst und an eine fast vergessene Geschichte erinnern will: an die chinesischen Zwangsarbeiter im nationalsozialistischen Hamburg und ein verlorenes Chinatown mitten in St. Pauli.

Unfreeze, D 2016, Regie und Konzeption: Maria Kotylevskaja, Stefanie Schulz und Xin Tong, Kamera: Maria Kotylevskaja, Schnitt: Stefanie Schulz, Xin Tong und Maria Kotylevskaja, Ton: Stefanie Schulz, Organisation und Übersetzung: Xin Tong, Mit: Dagmar Rauwald: Deutsche Künstlerin und Organisatorin des Projekts, Noga Stiassny: Mitorganisatorin, Ding Liu: Chinesischer Künstler. Laufzeit: 7:37 min.

Künstler und Künstlerinnen aus Deutschland und China schlossen sich zusammen, um vom 25.11.- 27.11.2016 im Rahmen unterschiedlicher künstlerischer Projekte an die Verbrechen der Nationalsozialisten an chinesischen Migranten in Hamburg St. Pauli zu erinnern.

Es wurde ein Ausstellung im Gängeviertel zu dem Thema organisiert und eine Installation direkt an der Schmuckstraße sowie andere Aktionen durchgeführt: eine Tanzperformance, ein chinesisches Essritual und eine geschichtsorientierte Diskussionsrunde am letzten Tag.

Der Film befasst sich vor allem mit der Aktion des chinesischen Künstlers Liu Ding an dem Platz des ehemaligen Arbeitslagers “Langer Morgen“ in Wilhelmsburg. Liu Ding ist ein in China bekannter Künstler, der sich unterschiedlicher Medien bedient, um seine Ideen zu vermitteln. Auf Einladung der Organisatorin und Künstlerin Dagmar Rauwald, wählte er eine partizipative Form, in der die Menschen selbst Teil der Performance wurden. Unter dem Namen ‚Social Bookmarking‘ entsteht ein Projekt, das einen historischen Ort und dessen Bedeutung in Verbindung setzt mit einem lebendigen kulturellen Austausch. Das Lesezeichen aus dem virtuellen Raum wird so auf den analogen Stadtraum übertragen und durch eine künstlerische Setzung durch die Teilnehmer realisiert.

Weitere Informationen zum Projekt ‚Social Bookmarking‘ gibt es auf der Webseite des Gängeviertels.

„Davon wird es sicherlich mehr geben!“. Julia Leyda zum Begriff „Cli-Fi” im Interview mit Annette Diegel und Nadine Eder, 05.11.2016

von Annette Diegel und Nadine Eder

Auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck hielt die Filmwissenschaftlerin Julia Leyda am 05.11.2016 während des Lübeck Film Studies Colloquiums den Vortrag „Occupied: Cli-Fi and Contemporary TV“. Hierbei stellte sie den Begriff „Cli-Fi” – Climate Fiction anhand narrativer Strategien der norwegischen Serie Occupied aus dem Jahr 2015 vor. Dabei rechtfertigte sie die Etablierung des Begriffes durch vermehrt aufkommende Filme und Serien, die den Klimawandel und seine Folgen thematisieren.

Das Lübeck Film Studies Colloquium ist eine Kooperation der Nordischen Filmtage mit dem Journal of Scandinavian Cinema und richtet sich an Wissenschaftler und Studierende. Der Schwerpunkt lag 2016 auf dem Thema „Intercultural Meeting and Documentary Cinema“, innerhalb dessen Leyda ihren Vortrag im Rahmen der Kategorie „Environmental Issues in Nordic Film and Television“ hielt.

Annette Diegel/ Nadine Eder: Frau Leyda, Ihre Präsentation drehte sich rund um den Begriff „Cli-Fi“. Können Sie erklären, wie dieser Begriff entstand und wie er sich weiterentwickelte? Gab es denn z. B. einen ausschlaggebenden Film, durch den sich der Begriff anfänglich etablierte?

Julia Leyda: Meines Wissens nach gibt es den Begriff „Cli-Fi“ seit beinahe zehn Jahren und zunächst wurde er online verwendet. Dan Bloom gibt an, den Begriff in erster Linie erfunden zu haben und setzt sich sehr engagiert, für die Verbreitung von „Cli-Fi“ als neuem Begriff oder als Kategorie ein. Der Begriff hat sich allerdings gewissermaßen verselbstständigt: Es wurden diverse Artikel, beispielsweise in Magazinen, veröffentlicht, die den Begriff definieren und weiterhin erläutern. „Cli-Fi“ entstand im Rahmen von Fiction, sowohl innerhalb von Romanen als auch von Filmen, wie z. B. The Day After Tomorrow (2004), bei dem der Begriff „Cli-Fi“ das erste Mal aufzufinden war.

Ist der Begriff „Cli-Fi“ tendenziell eher ein Begriff, den Forscher verwenden? Oder benutzen auch Filmemacher den Begriff, um ihrem Publikum dieses Thema näherzubringen bzw. würden sie ihre Filme selbst als „Cli-Fi-Filme kategorisieren?

JL: Das variiert und führt insbesondere innerhalb der Literatur zu verschiedenen Meinungen. Margaret Atwood z. B. hat diesen Begriff gerne angenommen und benutzt ihn häufig in ihren Arbeiten zum Klimawandel. Andere Autoren hingegen lehnen den Begriff ab und sind der Meinung, diese neue Kategorie sei nicht nötig. Journalisten sind oft daran interessiert, weil es ein neuer Begriff ist, der sich ‚strange‘ anhört. Ich habe z. B. erst vor Kurzem ein Interview mit einer Reporterin vom rbb geführt. Sie schien an dem Begriff interessiert und wollte, dass ich diesen genauer erläutere.

Inwiefern können Serien oder Filme als „Cli-Fi“ kategorisiert werden bzw. gibt es gewisse Eigenschaften, die erfüllt werden müssen, um in das Schema von „Cli-Fi“ zu passen?

JL: Da es ein relativ neuer Begriff ist, ist das noch ziemlich offengestellt. Ich benutzte ihn z. B. für jegliche [fiktionale, Anm. d. Autors] Art von Texten, die mit dem Klimawandel zu tun haben. In der norwegischen Serie Occupied geht es beispielsweise nicht um die Folgen des Klimawandels – so wie es normalerweise in einem ‚Katastrophen-Film‘ der Fall wäre. Der Klimawandel wird hier hingegen als eine Art Katalysator für die Story verwendet. Es gibt außerdem viele Filme, die den Begriff als eine Form von dystopischem Ansatz verwenden. So wird beispielsweise eine Welt dargestellt, in der nicht genügend Wasser vorhanden ist und zudem das Wetter zu heiß ist, sodass man nicht lange in der Sonne stehen kann, da die Haut zu brennen anfangen würde. Ein Szenario etwa dieser Form wurde im deutschen Film Hell (2011) aufgegriffen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es verschiedene Ansichtsweisen und Verwendungen für den Begriff „Cli-Fi“ gibt.

Da der Fokus des heutigen Colloquiums u. a. auf Dokumentationen liegt, scheint ebenso die Frage interessant, ob bzw. inwiefern dem Begriff „Cli-Fi“, der eigentlich aus dem Fiction-Bereich stammt, ebenso ein dokumentarischer Charakter zugeordnet werden kann?

JL: Viele Leute innerhalb der Sustainability Studies suchen in „Cli-Fi“ eine spezifische ‚Message‘ für die Rezipienten. Diese gibt es jedoch nicht, denn „Cli-Fi“ ist lediglich Fiktion. Filme und Bücher, die „Cli-Fi“ aufgreifen, stammen aus dem Bereich Fiction und Fantasy. Sie können zwar den Effekt haben, uns über den Klimawandel nachdenken zu lassen, allerdings vermitteln diese keine objektiven Daten. „Cli-Fi“ entfernt sich somit ziemlich vom Dokumentarfilm, obwohl es hingegen in der Tat zahlreiche Dokumentationen über den Klimawandel gibt. Ich möchte jedoch mit meinen Arbeiten einen Blick auf diverse Vorstellungen zum Klimawandel werfen.

Würden Sie demnach sagen, dass ausgehend von „Cli-Fi“-Filmen oder -Serien nicht zwingenderweise bestimmte Schlüsse gezogen werden müssen?  Oder ist es hingegen die Absicht bestimmter Filme und Serien, das Bewusstsein für den Klimawandel zu stärken?

JL: Das hängt natürlich von dem Film oder der Serie ab. Es gibt immer wieder Reviews über einen bestimmten Film, in dem Fragen auftauchen, inwiefern das Dargestellte denn akkurat oder möglich ist. Dies sind zwar wichtige Fragen, allerdings ist für mich hierbei die wichtigste Frage, wie diese Filme uns über den Klimawandel nachdenken lassen und uns motivieren. Nicht im intellektuellen Sinne, sondern auf emotionaler Ebene und folglich auf diese Weise unser Denken und Verhalten beeinflussen. Das geschieht natürlich nicht nur anhand eines einzigen Filmes. Das Anschauen mehrerer Filme steigert jedoch das Potenzial, unsere Gefühle und Eindrücke zu intensivieren. Es wird somit eher eine emotionale Wirkung hervorgerufen als eine bestimmte ‚Message‘.

Glauben Sie, dass es zukünftig vermehrt Filme geben wird, die sich dem „Cli-Fi“ Genre zuordnen lassen?

JL: Definitiv! Es ist ein immer mehr an Bedeutung gewinnendes Thema, das in den Nachrichten und in unserer Welt stets präsent ist. Es könnte derzeit kaum weniger TV-Serien über dieses Thema geben… Occupied und Incorporated sind bislang zwei der wenigen Serien, die dieses Thema wirklich aufgreifen. Davon wird es sicherlich mehr geben!

Dieses Interview wurde in englischer Sprache geführt und nachträglich übersetzt.

Julia Leyda war 2016 als Senior Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam tätig und forschte an dem Projekt „Cultural Affordances of Cli-Fi: 21st-Century Scenarios of Climate Futures”. Des Weiteren doziert sie an der Norwegian University of Science and Technology (NTNU) im Fachbereich Kunst- und Medienwissenschaften in Trondheim. Derzeit forscht sie intensiv zum Thema „Climate Fiction” („Cli-Fi“) in Film und Fernsehen. Siehe dazu auch das Paper The Dystopian Impulse of Contemporary Cli-Fi.

„Rehumanize refugees“. Regisseur Michael Graversen im Interview über seinen Film „Dreaming of Denmark“, 04.11.2016

von Hannah Doll, Gesa Hinterlang und Naika König

Bei den 58. Nordischen Filmtagen in Lübeck (02.-06.11.2016) wurde unter anderem der Dokumentarfilm Dreaming of Denmark (2015) von Michael Graversen gezeigt. Für die Verwirklichung seines Dokumentarfilms folgte Graversen dreieinhalb Jahre lang dem Leben des afghanischen Flüchtlings Wasiullah. Der Film wurde unter anderem mit dem Amnesty Award des Giffoni International Film Festivals ausgezeichnet.
Hannah Doll, Gesa Hinterlang und Naika König haben Michael Graversen am 04.11.2016 interviewt.

Dreaming of Denmark (Drømmen om Danmark), DK 2015,
Regie: Michael Graversen, Kamera: Michael Graversen, Schnitt: Rebekka Jørgensen und Sofie Steenberger, Ton: Raoul Brand, Produktionsfirma: Klassefilm v/ Lise Saxtrup, Laufzeit: 62 min.

Zur Filmhandlung: Wasiullah floh mit 15 Jahren alleine aus Afghanistan und verbrachte die Zeit bis zu seiner Volljährigkeit in einem Asylcenter für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Dänemark. Dort lernte Graversen den Jungen beim Dreh seines Dokumentarfilms No Man’s Land (2013) kennen. Graversen wird von Wasiullah kontaktiert, als dessen Asylantrag abgelehnt wird und ihm mit Vollendung seines 18. Lebensjahres die Abschiebung droht. Er entschließt sich nach Italien zu fliehen um dort eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen – immer mit dem Ziel am Ende in seine neue Heimat Dänemark zurückkehren zu können.

Hißnauer, Christian: Episodischer Variationsreichtum: Innovative Krimiserien abseits des ‚Quality TV‘, 18.08.2016

Episodischer Variationsreichtum: Innovative Krimiserien abseits des ‚Quality-TV‘.
Boomtown, Motive, Accused, Countdown und Krimiprinzipien jenseits ‚klassischer‘ Whodunit– und Howcatchem-Dramaturgien

Christian Hißnauer[1]

Der Mörder war wieder der Gärtner
Und der plant schon den nächsten Coup
Der Mörder ist immer der Gärtner
Und der schlägt erbarmungslos zu

Reinhard Mey: Der Mörder ist immer der Gärtner (1971)

Die Originalität liegt in anderem. Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau.
Bertolt Brecht[2]

Auch abseits des vielgerühmten, zuweilen überbewerteten, ‚Quality-TV‘ finden sich innovative – zumindest unkonventionelle – Serienproduktionen; oft übersehen und unterschätzt.[3] Das gilt auch für den immer noch (bzw. immer wieder) boomenden Bereich der Krimiserien.

Shilik, Maria: Der Dokumentarfilm als Showbühne – Der Versuch eines Helge Schneider-Porträts, 24.07.2015

Besprochen von Maria Shilik

  • Mülheim – Texas: Helge Schneider hier und dort, Regie: Andrea Roggon, Produktion: Deutschland, Laufzeit: 93 Min.

 

Ein Dokumentarfilm über den Künstler Helge Schneider – ist das überhaupt ohne Inszenierung möglich? Wie kann man hinter die verschiedenen Masken eines Menschen blicken, der sein Hauptkapital aus anarchischem Humor und Rollenwechseln schlägt? Die Filmemacherin Andrea Roggon bekommt die Chance, Schneider mit einer Kamera vier Jahre lang zu begleiten und einen Blick hinter die Kulissen des Multitalents zu riskieren. Herausgekommen ist ein Portrait, das sich laufend selbst dekonstruiert und mit erzählerischen Konventionen bricht.

Collagenartig verbindet der Film die unterschiedlichen Aspekte und Bereiche aus Schneiders Leben. Dabei erzählt Roggon keine Biographie oder abgeschlossene Geschichte von Helge Schneider. Vielmehr gibt sie episodenhaft Einblicke in sein kreatives Schaffen, seine Arbeitsweise, seine wilden Gedankengänge. Sei es kostümiert in einer wie Texas anmutenden Landschaft, in einer gesetzten Interviewsituation im Studio oder bei den Proben auf der Bühne – Schneider behält die Kamera stets im Blick und im Hinterkopf. Zuweilen lässt er sich aber auch bei der ernsthaften Reflexion über sein Leben ertappen.

Wir begleiten ihn dabei, wie er der Filmemacherin Anweisungen gibt und mit ihr in ständige Verhandlungen tritt, um sich selbst in Szene zu setzen. Es mutet an wie ein Machtkampf, der hier zwischen Regisseurin und Protagonist ausgetragen wird. Und es ist eine merkliche Herausforderung für die recht junge Filmemacherin, dieses Showtalent im Zaum zu halten. Soll er von rechts oder links kommen, oder nicht lieber doch schon im Bild sein? Soll er wirklich diese langweilige Frage, die keinen interessiert, beantworten? Und was kommt denn nun als Nächstes? Immer wieder torpediert er die Aufnahmen oder bricht sie auch einfach ab. Roggon muss auf Zack sein, um nicht die Kontrolle über den Film vollends abzugeben oder gar von Schneider vorgeführt zu werden. Wie zu einem Ruhepol kehrt hier der Film wiederholt zu dem gesetzten Interview zurück, in dem Roggon scheinbar über Stunden versucht, an Schneiders Kern zu kratzen, und verleiht ihm damit die Ernsthaftigkeit, die ihm in den theaterhaften und klamaukigen Szenen fehlt.

Spannend sind vor allem die wenigen beobachtenden Momente des Films, in denen Schneider mit anderen Menschen zusammenarbeitet: Mit den Kollegen am Filmset von „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“ oder zu Hause, bei der Besprechung der bald erscheinenden CD. Hier muss er mit Menschen kommunizieren, die nicht Teil dieser besonderen Verbindung zwischen Protagonist und Regisseurin sind. Menschen, mit denen er aus Gründen der Professionalität keine Spielchen treiben kann. Wir bekommen eine Vorstellung davon, wie Schneider funktioniert, wenn er arbeitet oder wie es ist, ein konstruktives Gespräch mit ihm zu führen. Doch wer behauptet denn, dass die Momente der klar markierten Inszenierung, mit Kostüm und Trompete weniger für die Arbeit und die Kraft des Schaffens von Helge Schneider stehen als die beobachteten? Schließlich sehen wir auch da, wie sein Gehirn auf Hochtouren an Ideen arbeitet, wie Aktionen geplant und wieder verworfen werden und mit welchem Nachdruck er seine Vorstellungen umsetzen will.

Wie wahrhaftig ist also ein Portrait über jemanden, der stets versucht, die Kontrolle über dieses Machwerk zu behalten und seine eigene Show daraus zu machen? Ist das, was wir über Schneider sehen, weniger authentisch nur weil er sich der Kamera stets bewusst ist oder sie für seine Zwecke nutzt? Der Film beantwortet zwar nicht die klassischen Fragen über einen Künstler, wie es eine Biographie tut. Auch verlangt er von seinem Zuschauer gewisse Vorkenntnisse über Schneider, um die Filmsituationen richtig einordnen zu können. Doch liefert er ein spannendes Bild von dem Portraitierten, regt zum Nachdenken über den Entstehungsprozess dieses Dokumentarfilms an und vergisst darüber nicht, eins zu sein: Sehr kurzweilig und unterhaltsam.

Karl, Alexander: Erfolg in der Nische? Die Webserie „Hunting Season“ über schwules Großstadtleben, 7.11.2014

Männer haben es schwer im Fernsehen. Zumindest, wenn es sich um homosexuelle Männer handelt und deren Beziehungsleben dargestellt werden soll.

Auch wenn in deutschen Soaps wie „Lindenstraße“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ sowie in amerikanischen Serienhits wie „Six Feet Under“ oder „Glee“ homosexuelle Beziehungen von Männern existieren, wird die Körperlichkeit oftmals verhaltener dargestellt. Wo bei heterosexuellen Paaren ein Abschiedskuss ausgetauscht wird, ist es bei homosexuellen manchmal nur eine Umarmung. Ähnlich verhält es sich mit Sexszenen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Die Showtime-Serie „Queer as Folk“ etwa, die Anfang der 2000er das Leben einer schwulen Männerclique abbilden wollte und dies oftmals explizit (und leicht bekleidet) tat. Mit der HBO-Serie „Looking“ folgte zuletzt ein thematisch ähnliches gelagertes TV-Projekt. Doch es scheint so, als wäre die Nische der männlichen Homosexualität zumindest fürs traditionelle Fernsehen zu klein, als dass eine Vielzahl von Formaten angeboten werden könnte.

Doch längst ist die lineare TV-Ausstrahlung mit entsprechenden Produktionen nicht mehr der einzige Weg, um bewegte Bilder mit bewegenden Geschichten an den Rezipienten zu bringen. Anbieter wie Netflix oder Amazon bieten nicht nur für das Fernsehen produzierte Formate zum Streamen an, sondern auch eigene Produktionen wie die Politikerserien „House of Cards“ (Netflix) und „Alpha House“ (Amazon). Darüber hinaus bevölkern das Internet aber auch Webserien, die unabhängig von den großen Onlineanbietern entwickelt und erstellt werden. Die Vorteile unabhängiger Produktionen sind klar: Kreativität und Freiheiten. Die Nachteile: Oftmals fehlende finanzielle Mittel für Produktion und Marketing. Könnte hier die Besetzung von Nischen eine Lösung sein? „Hunting Season“ lässt das vermuten. Die Webserie begleitet den schwulen New Yorker Alex durch sein Leben mit Kumpels und (Sex-) Dates; in der ersten Staffel wurde das alles verpackt in acht Episoden mit einer Länge von neun bis zwölf Minuten. Das Besondere: Die Episoden gibt es zwei Versionen – mit gepixelt und ungepixelt Nacktszenen. Während die gepixelte Version auf LogoTV.com veröffentlicht wurde und mittlerweile frei zugänglich ist, müssen die ungepixelten Episoden gekauft werden. 20,99 Dollar werden für die erste Staffel fällig, um die Schauspieler gänzlich im Adams Kostüm zu sehen.

Für die zweite Staffel wurde aber ein anderes Finanzierungsmodell gewählt – die Crowdfunding-Plattform Kickstarter. Bis zum 6. Dezember 2013 wurde dort Geld eingesammelt, wobei im Spendenaufruf die Beweggründe für diesen Schritt geschildert werden: „Jon Marcus, the creator of the show, paid for Season One out of his own savings, and then he borrowed the money to finish to [sic!] show. […] We made a successful licensing deal with the gay cable network Logo to launch season 1, but they were not able to find sponsorship to pay for more episodes. We have been knocking on doors for a year in the traditional, old-media financing style, but the time has come to embrace new models and we come to you on Kickstarter to ask for help.”

Dieser Hilferuf via Kickstarter war erfolgreich, die Unterstützer steuerten sogar mehr als die erbetenen 150.000 Dollar bei. Gleichzeitig wird aber auch deutlich: Webserien können in Nischen, die vielleicht zu eng für das traditionelle Fernsehen sind, erfolgreich ein Publikum ansprechen. Mehr noch: Das Publikum ist sogar bereit dazu, ein Format finanziell zu unterstützen. Dies trägt zur Diversifizierung des medialen Spektrums bei und ermöglicht gleichzeitig zielgruppenspezifische Produkte, die für das traditionelle Fernsehen aufgrund ihrer Thematik und expliziter Inhalte untauglich erscheinen. Denn so scheint sicher: Nicht in jedem Format umarmen sich homosexuelle Paare zum Abschied. In manchen Formaten dürfen sie sich sogar küssen.

 

Weitere Informationen zu „Hunting Season“ und weiteren Webserien bietet auch der WebserienBlog.

Dokumentarfilmisch arbeiten – Begleittext zum aufgezeichneten Vortrag des Dokumentarfilmers Christoph Hübner von Henrik Wehmeier, 19.05.2014

Christoph Hübner gilt als einer der stilprägendsten Dokumentaristen unserer Zeit, und zugleich als einer der Vordenker zur Theorie des Dokumentarfilms. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich in seinem Vortrag vom 19.05.2014 im Rahmen der Ringvorlesung „Medienkulturen des Dokumentarischen“ die autobiographische Werkschau wie von selbst mit Fragen zum Status quo des Dokumentarfilms vermischt.

Christoph Hübner, geboren 1948, erregte gleich mit seinem ersten Dokumentarfilm 1978 großes Aufsehen: Direkt nach seinem Studienabschluss ging er in das damals noch stigmatisierte Ruhrgebiet und begann, sich in den Alltag einer örtlichen Kleinstadt einzuleben und diesen filmisch festzuhalten. Diese Direktheit des Filmens blieb stilprägend für seine weiteren Arbeiten, etwa die zusammen mit Gabriele Voss realisierte achtteilige Dokumentation „Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“. 1980 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet besticht dieses biographische Interview durch seinen radikalen Ansatz: Ohne Schnitte besteht der Film lediglich aus einer einzigen Halbnahen-Einstellung auf Alfons S., der auf unnachahmliche Weise seine Lebensgeschichte – und damit zugleich die Geschichte Deutschlands – erzählt.

Und auch die folgenden Werke blieben experimentell. So konfrontierte er Briefe von Vincent van Gogh mit Aufnahmen aus einem Landwirtschaftsbetrieb („Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“) oder vermischte fiktionale wie dokumentarische Elemente („Anna Zeit Land“). Den vorzeitigen Höhepunkt dieser experimentellen Versuche stellt sein Film „Schnitte in Raum und Zeit“ dar. Gleichzeitig ließ ihn das Ruhrgebiet nie los, es entstanden die mehrteiligen „Emscher-Skizzen“ sowie eine (noch unvollendete) Fußballtriologie („Die Champions“, „HalbZeit – Vom Traum ins Leben“).

Neben diesen künstlerischen Tätigkeiten setzte er sich zugleich umfassend theoretisch mit dem Dokumentarfilm auseinander. So etwa als Dozent an der Filmklasse der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (HfbK) oder zuletzt als Autor zusammen mit Gabriele Voss („Dokumentarisch arbeiten“, Berlin 1996.). Für das gleichnamige Projekt bat er zugleich über 13 Filmer wie Volker Koepp und Klaus Wildehahn vor die Kamera, um mit ihnen über ihre Arbeit sowie ihre Ansichten zum Dokumentarfilm zu sprechen. Der Vortrag „Dokumentarisch arbeiten“ stellt nun eine Art autobiographische Werkschau dar, die zugleich zeitgenössische, abstrakte Überlegungen zum Dokumentarfilm präsentiert:

Dokumentarfilmisch arbeiten – Aufgezeichneter Vortrag des Dokumentarfilmers Christoph Hübner, 19.05.2014

Alles auf Anfang – Reboots im Hollywood-Film. Dr. Oliver Schmidt im Interview mit Alexander Karl, 29.07.2014

Was haben die aktuellen Filme über „Transformers“, „James Bond“ und „Batman“ gemeinsam? Sie sind erfolgreiche Reboots bereits existierender narrativer Welten und Franchises, sagt der Medienwissenschaftler Dr. Oliver Schmidt. Der Begriff Reboot, so Schmidt, tauchte etwa 2008 in der filmjournalistischen Presse auf und findet seit kurzem auch seinen Weg in den filmwissenschaftlichen Diskurs.
Im Rahmen der Tagung „The Cinematic Space: Experience, Knowledge, Technology“, die zugleich die Abschlusskonferenz des Forschernetzwerks „Erfahrungsraum Kino“ war, referierte Schmidt über „Hollywood Reboots – Zur Transformation medialer Erfahrungswelten“. Im Interview mit Alexander Karl spricht er über die Besonderheiten des Reboots, den Unterschied zum Remake und die Bedeutung des Zeitgeists.

Alexander Karl: Herr Schmidt, was macht ein filmisches Reboot zu einem Reboot?

Oliver Schmidt: Reboots im strengen Sinne sind Neustarts von Film- oder TV-Serien. Diese werden jedoch nicht einfach weitererzählt, sondern die Macher gehen zurück an den Nullpunkt des narrativen Universums und rollen die Geschichte von vorne auf. Und dieser Neubeginn beim Reboot ist in der Regel auch verbunden mit einer Aktualisierung der Ästhetik. Das sieht man sehr schön in den „Batman“-Filmen unter der Regie von Christopher Nolan, den „Transformers“-Filmen, die auf der Zeichentrick-Serie aus den 1980er Jahren basieren, oder bei den „James Bond“-Filmen mit Daniel Craig in der Hauptrolle.

Welche Merkmale des Reboots erkennen Sie beispielsweise in den neueren „James Bond“-Filmen?

Der erste „James Bond“-Film mit Daniel Craig heißt „Casino Royale“, was auch der Titel des ersten Bond-Romans von Ian Fleming war – da ist der Schritt zurück zum Anfang also programmatisch. Ästhetische Neuerungen werden schon zu Beginn an einer Schwarz-weiß-Sequenz deutlich, einem Blick zurück in die „berufliche Frühphase“ von James Bond, als er seinen ersten Auftragsmord begeht. Gleichzeitig ist der von Craig dargestellte James Bond körperlich athletischer, brutaler, was an die frühen Filme mit Sean Connery erinnert, etwa unter Roger Moore aber verloren gegangen war. Auf der anderen Seite wird Bond aber verletzlicher, er wird tatsächlich gefoltert und nur durch fremde Hand befreit. James Bond ist plötzlich hilflos, sowas haben wir in dieser Form bisher nicht gesehen. Früher konnte der Zuschauer davon ausgehen, dass Bond gewinnt. Das gilt heute also nur noch mit Einschränkungen.

Was sagen solche Neuerungen über den Zeitgeist aus?

Motivisch wird deutlich auf die Anschläge vom 11. September und die gesellschaftliche Atmosphäre danach verwiesen – etwa das bereits angesprochene Motiv der Folterung, das etwa in der medialen Berichterstattung über den Irak-Krieg sehr präsent war. Hinzu kommt, dass die Figur James Bond deutlich komplexere Züge aufweist: Bond bekommt eine Geschichte als rekrutierter Waisenjunge, verliebt sich, beginnt zu „saufen“ und verliert in „Skyfall“ auch seine Mutterfigur M. Die Bond-Welt wird also deutlich härter, gleichzeitig wird Bond als Figur psychologisiert, was ganz neue Anknüpfungspunkte für die Zuschauer bietet.

Wie reagiert der Zuschauer auf die neuen Thematiken des Reboots?

Auf der einen Seite werden die Zuschauer in ihren Erwartungen erschüttert. Damit spiegelt die Erzählung der aktuellen „James Bond“-Filme auch gesellschaftliche Traumata wider, die noch nicht verarbeitet sind. Diesen Aspekt betont auch der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser immer wieder, nicht nur bezogen auf Reboots. Dies findet sich auch in einer ganzen Reihe anderer Filme. Auf der anderen Seite bieten die neuen Bond-Film den Zuschauern über die Form der Erzählung und die doch sehr starke Bond-Figur gleichzeitig die Möglichkeit, diese filmischen Traumata – und möglicherweise auch die gesellschaftlichen Traumata, die die Filme aufgreifen – zu verarbeiten.

Wie unterscheidet sich aber nun das Reboot von Remake?

Beim Remake existiert im Normalfall eine filmische Vorlage, die möglicherweise erfolgreich war und die zum Beispiel für den US-amerikanischen Markt adaptiert werden soll. So ein Remake wird auch meist nur einmal gemacht. Anders ist das bei Reboots: Hier wird meist implizit an den Start einer neuen filmischen Serie gedacht, auch an einen erneuten Start, also ein Re-Reboot, wie wir es zum Beispiel schon mit „The Amazing Spider-Man“ gesehen haben. Daher nutzt man dafür auch mediale Ikonen, die im Gedächtnis breiter Zuschauerschichten fest verankert sind. Auch wenn es sich bei Reboots in der Regel um Blockbuster-Produktionen handelt, können sie durchaus eine eigene Handschrift tragen, sie lassen sich also durchaus als Vertreter der Autorenkinos verstehen wie etwa bei den „Batman“-Filmen von Christopher Nolan, der in der Presse auch als „Blockbuster-Auteur“ bezeichnet wird.

Auch den Machern einiger Quality-TV-Serien wird eine eigene Handschrift bescheinigt. Lässt sich das Kino bei Reboots vom Fernsehen inspirieren?

Nein, ich würde sagen, dass Reboots einer der wenigen Bereiche sind, die nicht so sehr von der Quality-TV-Entwicklung der vergangenen zehn Jahre abhängen. Das Reboot ist vielmehr ein Phänomen, das in beiden Medien gleichzeitig und gleichberechtigt stattzufinden scheint, im TV etwa mit den Reboots „Battlestar Galactica“ oder den von der BBC produzierten Serien „Jekyll“ und „Sherlock“.

Was ist Ihre Prognose: Wie lange hält der Trend des Reboots noch an?

Es hält auf jeden Fall so lange an, wie Hollywood damit Geld verdienen kann und der Zuschauer darin einen Mehrwert für sich sieht. Aktuell lässt sich bei filmischen Reboots eine kleine Flaute bemerken. Interessant wird sicher die bereits angekündigte „Star Wars“-Triologie sein, die dem Reboot-Trend einen erneuten Schub geben oder ihren Niedergang einläuten könnte. Aber Hollywood hat es noch in jeder Krise verstanden, sich selbst neu zu erfinden, sodass die eigentlich spannende Frage ist, was nach dem Boom von Reboots und Comic-Verfilmung das nächste große Ding in Hollywood sein wird.

 

Zur Person: Dr. Oliver Schmidt promovierte 2011 an der Universität Bremen, arbeitet seitdem u.a. in Bremen und Hamburg. 2008 erschien seine Monografie über David Lynch „Leben in gestörten Welten“ und im Jahr 2013 seine Dissertation „Hybride Räume – Filmwelten im Hollywood-Kino der Jahrtausendwende“. Zudem ist er Mitherausgeber von Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung.

 

Bei Märchen gibt es kein Copy-Paste. Prof. Susanne Marschall im Interview mit Alexander Karl, 19.10.2013

Die Tübinger Professorin Dr. Susanne Marschall ist nicht nur Expertin für Filme und Serien, sondern auch für Mythen und Märchen. Sie selbst ist ein großer Fan von Jean Cocteaus Die Schöne und das Biest. Mit Alexander Karl sprach sie über den Subtext in Märchen, die Rückbesinnung auf die Düsternis und das Frauenbild in Twilight.

Alexander Karl: Frau Marschall, sind Märchen Kinderkram?

Susanne Marschall: Nein, ganz im Gegenteil. Zwar wurden die bekannten Märchen der Gebrüder Grimm überwiegend als Kinderliteratur rezipiert, doch wenn man genauer hinsieht, entdeckt man viele „erwachsene“ Themen und zwar gerade in den bekannten Märchenstoffen. Tod, Einsamkeit, Ausgrenzung und schließlich Sexualität sind wichtige Themen des Märchens.

Wo denn zum Beispiel?

Etwa in Rotkäppchen: Die Begegnung mit dem Wolf wurde häufig als sexuelle Initiation interpretiert. Aber auch das Abschneiden der Ferse bei Aschenputtel kann als pervertierte Form der Sexualität verstanden werden. Viele Märchen sind durch solche Subtexte geprägt. Zum Beispiel das Leitmotiv der Verwandlung – etwa vom Mensch zum Wolf – lässt sich als Metapher für die wilde Seite der menschlichen Existenz verstehen. Symbolisch werden Tiere mit unkontrollierten Trieben in Verbindung gebracht, wobei dies natürlich nur die menschliche Sicht der Dinge ist.

Die Gebrüder Grimm sind in Deutschland die bekanntesten Märchenerzähler, obwohl ihre Werke vom Anfang des 19. Jahrhunderts stammen. Woher kommt das?

Die Sammlung und Bearbeitung von oral tradierten Märchen durch die Gebrüder Grimm im frühen 19. Jahrhundert begründete die wissenschaftliche Märchenkunde. Das war ein immenses Projekt und hat dazu geführt, dass in der Folge ein riesiger Fundus an Stoffen gedruckt zur Verfügung stand. Dazu kamen dann zum Beispiel noch die orientalischen Märchen usw. Es warteten plötzlich so viele Plots auf weitere künstlerische Auseinandersetzungen, dass es wahrscheinlich sehr schwer war und ist, etwas grundsätzlich Neues zu erfinden.

Auch die Gebrüder Grimm haben bekannte Erzählungen adaptiert und teilweise verändert. Begann die Copy-Paste-Kultur dann nicht schon vor dem Internetzeitalter?

Nein, bei Märchen würde ich das nicht Copy-Paste nennen, sondern eine „Arbeit am Märchen“ in Anlehnung an Hans Blumenbergs großartiges Buch „Arbeit am Mythos“. Blumenberg stellt die These auf, dass Menschen Mythen brauchen, um ihre Erfahrungen mit der oft unverständlichen Umwelt zu verarbeiten. Mythen sind für Blumenberg Geschichten mit einem starken narrativen Kern und vielfältigen Variationsmöglichkeiten. Sie sind dazu da, weiter erzählt, verändert und neu gelesen zu werden. Ob man das nun im Buch, auf der Theaterbühne, im Film oder sogar im Comic tut, ist in diesem Kontext erst einmal zweitrangig. Wichtig ist die Offenheit des mythischen bzw. des märchenhaften Textes für das Neue, also auch für die neuen Themen der Gegenwart. Exemplarisch kann man dies am Mythos des Prometheus sehen, der den Menschen erschaffen hat, und an Pygmalion, der sich eine künstliche Frau gebastelt hat. Aus diesen griechischen Sagen gingen romantische Schauergeschichten wie Mary Shelleys Frankenstein und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann hervor. Das Kino machte den Cyborg, den Maschinenmenschen, zur populären Denkfigur, die sich mit jeder technischen Innovation verbinden lässt.

Gilt das dann auch für Märchen?

Ja, auch Märchen haben einen narrativen Kern. Der Mensch arbeitet an seinen Märchen, um mit den Fragen, die er für sich nicht beantworten kann, fertig zu werden. Er entmachtet sozusagen die Alltagserfahrung, indem er sie in Erzählungen verpackt – und er personalisiert tradierte Stoffe durch Abwandlungen. Auch bei Märchen findet sich diese Dynamik zwischen symbolischen Kern und Variation. Darum sind sie wie die Mythen unsterblich.

Das Düstere gehört zum Märchen

In diesem Jahr erschien der Film Snow White and the Huntsman mit Charlize Theron und Kirsten Stewart, der eine düsterte Version der Geschichte von Schneewittchen erzählt. Ist das ein Beispiel für die Rückbesinnung auf die Ursprünge der Märchen?

Das Düstere gehört zum Märchen und insofern ist das wirklich eine Rückbesinnung. Schneewittchen ist dafür ein gutes Beispiel: Aus Eifersucht auf Schneewittchens Schönheit trachtet die Stiefmutter schon dem kleinen Mädchen nach dem Leben. Das ist eine sehr brutale Geschichte. In der Pädagogik wurde und wird diskutiert, ob Märchen überhaupt für Kinder tauglich sind, weil sie oft so abgründig sind.

Gibt es auch bei Märchen einen idealen Aufbau?

Ja, ein Märchen fängt mit einer Formel an und endet auch so. „Es war einmal … und wenn sie nicht gestorben sind…“ Märchen und Mythen folgen festen Mustern, die vor allem für die mündliche Tradierung wichtig sind: Dramaturgie hilft der Erinnerung. Die Geschichten brauchten den festen Rahmen, damit man sie sich merken konnte. Zum Märchen gehören aber auch Motive wie Verwandlungen oder die Reise der Figuren ins Ungewisse. Überhaupt sind Landschaften wichtig. „Das kalte Herz“ des schwäbischen Romantikers Wilhelm Hauff – er hat übrigens in Tübingen studiert – ist ohne seinen Ort, den Schwarzwald, nicht denkbar. In diesem dunklen, geheimnisvollen Wald können ein Glasmännlein und ein Holländer-Michel ihr Unwesen treiben – das kann man sich gut vorstellen.

Wichtig für Märchen sind auch die Antagonisten. Bei Schneewittchen, aber auch bei Hänsel und Gretel, ist es die böse Stiefmutter. Ist es Zufall, dass es oft Frauen sind?

Es sind ja nicht immer Frauen. Aber die Thematisierung der bösen Stiefmutter spielt mit Sicherheit auch auf früher existierende familiäre Problemfelder an, zu Zeiten, als der Blutsverwandtschaft ein großes Gewicht gegeben wurde. Heute leben wir zum Glück in diesem Sinne freier, unsere Vorstellung von Familie hat sich stark gewandelt. Märchen wurden und werden durch den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel geprägt. Darum ist ein Märchenfilm wie der aktuelle Blockbuster Spieglein, Spieglein, bei dem der Inder Tarsem Singh Regie geführt hat, besonders interessant. Das Märchen wird global und stilistisch hybrid.

Das Wiki „TV Tropes“ nennt die Rückbesinnung auf die düsteren Wurzeln „Grimmification“. Wie sieht die Wissenschaft das? Gibt es einen Trend?

Es gibt sicher diesen Trend, aber auch Vorreiter der „Grimmification“. Etwa die Rotkäppchen-Adaption Die Zeit der Wölfe von Neil Jordan aus dem Jahr 1984, der das Märchen als böses Pubertätsdrama inszeniert und fast wie ein Horrorfilm daherkommt. Generell aber lässt sich ein zunehmendes Interesse der Filmemacher an Märchenstoffen beobachten.

Woran liegt das?

Das liegt vielleicht an dem Fantasy-Boom der letzten Jahre, dem keine wirklich großen Würfe in den Dimensionen von Herr der Ringe und Harry Potter mehr gelingen. Von Fantasy zum Märchen ist es dann filmisch oft nur ein Katzensprung, weil viele Filme das in beiden Genres beliebte Spektakel in den Mittelpunkt stellen. Eigentlich unterscheiden sich Fantasy und Märchen nämlich deutlich. Aber Tricks, groteske Masken und opulente Kostüme passen zu beiden. Twilight als hybride romantische Vampirsoap steigert diesen Attraktivitätsgrad des Plots sogar noch durch ein zweites Monster, die Werwölfe. Das ist eine klare Tendenz unseres globalen Mainstream-Films: Aus der vollen Schatztruhe der Märchen und Mythen werden narrative Elemente und Bausteine kunterbunt gemischt und zu einem Mega-Fantasy-Märchen-Event verschmolzen.

Der Reiz an Vampiren: Angst vorm Tod und Sehnsucht vor Unsterblichkeit

Auch im TV wird derzeit gerne mit Übersinnlichem gearbeitet: Vampire Diaries, True Blood oder auch Grimm sind Beispiele dafür. Kommt es bald zu einer Überdosis am Übersinnlichen?

Gefährlich und langweilig wird es dann, wenn die Neubelebung eines Stoffs nicht auf einer originellen Idee beruht. Wenn es nur noch um die Schauwerte fantastischer Welten und nicht mehr um Inhalte geht, sind die Ergebnisse traurig. Ein positives Beispiel ist die Serie True Blood: Die Welt wird von Vampiren bevölkert, die sich zum großen Teil in die menschliche Gemeinschaft integrieren wollen, sie trinken sogar nur noch künstliches Blut. Dennoch werden die Vampire ausgegrenzt und verachtet. True Blood handelt von Rassismus und zieht damit einen Subtext des Vampirmythos ans Licht, der zwar immer schon da war, aber selten so stark betont wurde.

Aber warum interessiert sich der Mensch für Werwölfe oder Vampire? Neigt er dazu, an das Übersinnliche zu glauben?

Eine allgemein gültige Antwort gibt es da wohl nicht. Doch eines sticht hervor. Der Vampirmythos bringt die menschliche Angst vor dem Tod und zugleich die Sehnsucht nach Unsterblichkeit zum Ausdruck. Vor der Unsterblichkeit haben wir aber eigentlich auch alle Angst. Und darum ist die unsterbliche Figur des Vampirs so ambivalent. Einerseits faszinierend, andererseits abschreckend. Seltsam ist, dass diese mythische Horrorgestalt heutzutage ein echter Trendsetter ist.

In Twilight erhalten Vampire ein neues Gewand: Sie glitzern in der Sonne und können Vegetarier werden. Ein gutes Beispiel für die Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten?

Absolut! Die Frage muss aber immer sein: Was wird damit erzählt? Welcher Funktion dient es? Und dort sticht Twilight heraus: Twilight träumt von einer elitären Welt der vampirischen Übermenschen, die schön und makellos sind. Ewige Gewinner, die in die Schule gehen und in jeder Klassenarbeit triumphieren, immer sexy sind und natürlich super cool. Die Filme sind ideologisch äußerst fragwürdig, aber sehr populär.

Twilight zeigt ja auch ein interessantes Frauenbild.

Interessant? Nein, anachronistisch! Aber das ist nichts Neues bei Vampirgeschichten, in denen Frauen meist als passives Opfer inszeniert werden, die von einem männlichen Blutsauger in Besitz genommen werden. Und doch gab es sogar schon im 19. Jahrhundert Gegenentwürfe, zum Beispiel in der Vampirgeschichte Camilla von Sheridan Le Fanu, die ziemlich deutlich von lesbischer Vampirliebe handelt. Um zum Schluss auf das Märchen zurückzukommen: Dessen Heldinnen sind oft wehrhafter als die weiblichen Figuren in den Horrorfilmen. Schneewittchen, Aschenputtel, Rotkäppchen und auch Schneeweißchen und Rosenrot rebellieren – und sind erfolgreich damit.

 

Das Interview erschien zuerst am 21. Juli 2012 auf media-bubble.de.

Karl, Alexander: Große Filmkunst einer nahezu Unbekannten – Lotte Reiniger, 19.10.2013

Sie ist die große Unbekannte des deutschen Films: Lotte Reiniger. Und doch war sie es, die mit ihren Scherenschnitten Filme schuf, die eine unnachahmliche Eleganz ausstrahlen und Kinofilme bis heute beeinflussen. Wer bei Scherenschnitt an Basteleien aus dem Kindergarten denkt, hat noch keinen Film von Lotte Reiniger gesehen. Nun entführt der Tübinger Dokumentarfilm “Lotte Reiniger – Tanz der Schatten” in die Welt der Schöpferin und des Scherenschnitts – und das Kino Museum zeigt den Film sogar von Donnerstag, 2.8.2012 bis Sonntag, 5.8. 2012, um 17:15 Uhr.

Lotte… wer?

Donnerstag, 26. Juli 2012: Im Tübinger Kino “Museum” feierte der Dokumentarfilm “Lotte Reiniger – Tanz der Schatten” Premiere, den die Masterstudenten der Medienwissenschaft in Tübingen gemeinsam mit den Autoren Prof. Susanne Marschall, Dr. Rada Bieberstein und M.A. Kurt Schneider geschaffen haben. Kooperiert wurde mit EIKON SÜDWEST und ARTE, zudem wurde das Projekt durch das Land und die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg gefördert.

Eine Stunde wurden die zahlreichen Zuschauer in die große Kunst des Scherenschnitts entführt. Nichts für Kindergartengruppen, was Lotte Reiniger bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffen hat: Sie war es, die 1926 mit “Die Abenteuer des Prinzen Achmed” den ersten abendfüllenden Animationsfilm schuf – nicht etwa Walt Disney. Die von ihr geschaffenen Figuren wurden mit viel Liebe zum Detail aus einem Pappe-Blei-Gemisch zusammengebastelt, mit Scharnieren verbunden – und ermöglichten es ihr so, die Figuren zu bewegen und ihnen Leben einzuhauchen. 24 einzelne Bilder machte Reiniger, um eine Sekunde Filmmaterial herstellen zu können. Tausendfach zog sie an einer Kordel, um den Auslöser zu betätigen, bewegte dabei die auf einer Glasplatte befindlichen Figuren nur minimal – bis nach vielen Tagen, Wochen und Jahren harter Abend endlich ein Film entstanden war. Wie eben der Stummfilm “Die Abenteuer des Prinzen Achmet”, der drei Jahre Produktionszeit kostete. Doch warum ist etwa Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem 1937 wesentlich bekannter als Reinigers Werke? “Disney ist von vornherein auf den kommerziellen Massenerfolg aus gewesen und hat auch Schneewittchen genau daraufhin kalkuliert. Lotte Reiniger und ihr Mann Carl Koch waren ein Familienunternehmen, das im zusammen mit Freunden Filme aus Liebe zur Kunst anfertigte. “Das kommerzielle Interesse stand hier eher im Hintergrund”, sagt Kurt Schneider, geschäftsführender Leiter des Zentrums für Medienkompetenz (ZFM) an der Universität Tübingen und Autor des Dokumentarfilms.

Reinigers Erbe

Was kaum einer weiß: Reiniger inspirierte bis in die heutige Zeit. Wer die Filme zu Harry Potter und die Heiligtümer des Todes gesehen hat, kennt die dortige Darstellung des Märchens von den drei Brüdern: Es interpretiert die Scherenschnittkunst Reinigers neu, animiert sie digital – und doch zeugt die Filmsequenz von Reinigers Schattenspiel.

Auch im Video “Earth Intruders” von Björk lassen sich Anspielungen auf Reinigers Arbeit finden. Und trotz allem ist Reiniger in Deutschland nahezu unbekannt. Wie kam man im Institut auf die Idee, einen Dokumentarfilm über die Schattenspielkünstlerin zu drehen? “Susanne Marschall ist über die Dauerausstellung im Tübinger Stadtmuseum auf das Thema gekommen. Und weil der gesamte Nachlass von Frau Reiniger in Tübingen liegt, da sie in Dettenhausen verstorben ist”, so Schneider gegenüber media-bubble.de. Da Reiniger bereits 1981 starb, musste auf Archivmaterial zurückgegriffen werden, was das Team aber trotzdem in den Bann zog: “Auch wenn man Filme über Personen dreht, die man nur aus dem Fremdmaterial heraus kennen lernt, entsteht im Laufe der Beschäftigung mit diesen Personen eine Art Vertrautheit, eine emotionale Vorstellung davon, wie dieser Mensch wohl gewesen sein muss. Genauso ging es uns mit Lotte Reiniger. Sie ist jetzt quasi wie eine enge Freundin für uns.”

Doch noch etwas anderes zeigt das Beispiel des Dokumentarfilms “Lotte Reiniger – Tanz der Schatten”: Es ist möglich, in Kooperation von Studenten und dem Institut einen 60-minütigen Film auf die Beine zu stellen, der wohl in der ersten Jahreshälfte 2013 bei Arte gezeigt werden soll.

Folgen jetzt weitere Projekte der Güteklasse Lotte Reiniger? Kurt Schneider dazu: “Aber sicher. Ideen haben wir genug. Und wir haben mit diesem Projekt erfolgreich gezeigt, dass wir Filme aus dem Lehrbetrieb heraus produzieren können.”

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 01.08.2013 auf media-bubble.de.