Die Ungleichheitsdebatte in Frankreich. Sammelrezension

BesprochenSammelrezension von Michael Tillmann

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft nimmt das Wortgefecht um die Ungleichheit im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen heftig zu. Michael Tillmann fasst die Hauptansätze der Forschung in einer Sammelrezension zusammen.

 

Die Gerechtigkeitsdebatte in Frankreich ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit den anstehenden Präsidentschaftswahlen neu entbrannt. In welche Richtung sich die französische Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln wird, beschäftigt nicht nur die Politiker aller Couleur, sondern auch die Wissenschaft. Der Armutsforscher Serge Paugam hat gerade ein fast 1000-seitiges Werk zur Zukunft gesellschaftlicher Solidarität herausgegeben. Darin erhellen 50 Forscher den sozialwissenschaftlichen Beitrag zur Analyse solidarischer Vergesellschaftungsprozesse, die – einer weit verbreiteten Meinung nach – allzu oft unter dem verengenden Blick wirtschaftswissenschaftlich begründeter, rein ökonomischer Rentabilität betrachtet wird. Dass es dabei nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch um eine öffentliche Einflussnahme auf die politischen Entscheidungsträger geht, legt nicht zuletzt die damit einhergehende Unterschriftenkampagne nahe, mit der das Thema soziale Ungleichheit, Ausgrenzung, Segregation in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden soll. Vielleicht wird also der pessimistische Schlusssatz aus Louis Chauvels Mittelschichtenstudie doch Lügen gestraft: „Seit langem schon sind Wahljahre leider Gottes selten der richtige Augenblick, um allzu ernsthafte Fragen zu stellen.“

In dieselbe Richtung wie Paugams Solidaritätsappell geht eine andere Publikation, ebenfalls in der Reihe Le lien social, bei den Presses universitaires de France erschienen, die unter dem Titel L’épreuve des inégalités mehrere Beiträge von Sozialwissenschaftlern aus dem Umfeld des Observatoire sociologique du changement vereint. Darin wird den Ungleichheitsprozessen sowohl in einem nationalen als auch international vergleichenden Rahmen nachgegangen. Dass die aktuellen Ungleichheitsstatistiken, soweit sie vorwiegend die Einkommensverteilung im Blick haben, die ganze Dimension der Ungleichheitsproblematik nur bruchstückhaft wiedergeben und etwa generationenspezifische oder sozialräumliche Ungleichheiten und die – aufgrund des Sprengelprinzips – auch schulisch bedingten unterschiedlichen Bildungs- und damit letztlich auch Lebenschancen statistisch nur unzureichend erfassen, ist kein Novum. Schwieriger fällt allerdings schon die Antwort auf die Frage, wie man die intuitiven Ungleichheitswahrnehmung statistisch untermauern kann (vgl. dazu etwa den Internetauftritt des Centre national de l’information statistique und speziell das PDF-Dokument mit dem Titel Niveau de vie et inégalités sociales).

Dass Handlungsbedarf besteht, scheint aber unter Soziologen weitgehend unbestritten. Selten jedoch wird dies so selbstbewusst formuliert wie von dem Wirtschaftsprofessor Jean Gadrey in seinem letzten Buch En finir aves les inégalités sociales. Jean Gadrey, der 2005 für eine Ablehnung des europäischen Verfassungsprojekts geworben hatte, stützt sich dabei vor allem auf den gebündelten Inegalitätsindikator des BIP40, d.h. des Baromètre des inégalités et de la pauvreté aus dem links-alternativen Gewerkschaftsmilieu, der seit den 80er Jahren eine zunehmende soziale Schieflage konstatiert. Aus dem kämpferischen Engagement des Wirtschaftsprofessors spricht aber auch die Überzeugung, dass Ungleichheiten, sofern man sie bekämpfen möchte, keine Fatalität darstellen.

Nicht minder konkrete Lösungsvorschläge – allerdings mit einer eher sozialdemokratischen Stoßrichtung – legt das deutsch-österreichische Gespann Peter Auer und Bernard Gazier in L’introuvable sécurité de l’emploi vor. Bernard Gazier hatte schon in einer jüngeren Schrift für das Konzept der flexicurity und eine systematische Erprobung der so genannten Übergangsarbeitsmärkte geworben. Auch in seinem neuen Buch plädiert er zusammen mit dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler Peter Auer für einen modernisierten Sozialstaat, der – wie vor allem Dänemark – zeigt, immer noch einen wertvollen Beitrag zu gesellschaftlichem Frieden und Wohlstand zu leisten vermag.

Damit knüpft dieses Buch an eine Diskussion an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft an, die seit einiger Zeit intensiv geführt wird. Alain Lefebvre und Dominique Méda hatten in Faut-il brûler le modèle social français? Anfang letzten Jahres die Übertragbarkeit des reformierten nordeuropäischen Sozialstaatsmodells auf französische Verhältnisse untersucht.

Eine angenehm konzise Darstellung der wesentlichen Charakteristika der dänischen flexicurity findet sich in einem fünfzigseitigen Büchlein von Robert Boyer, La flexicurité danoise. Quels enseignements pour la France?, das im Rahmen der publizistischen Tätigkeit des CEPREMAP, Centre pour la recherche économique et ses applications, unter der Leitung des auch hierzulande bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Daniel Cohen veröffentlicht wurde.

 

© passerelle.de, Januar 2007

 

 

Abstiegsangst der Mittelschicht. Über ‚Abstiegsangst der Mittelschicht‘ von Louis Cauvel

Besprochenvon Michael Tillmann

Deutschland hat seine Unterschichtendebatte. Frankreich diskutiert über die Zukunft seiner Mittelschicht. Dass eine solche öffentliche Auseinandersetzung zwangsläufig ihre Unschärfen hat, liegt nicht zuletzt an der Schwammigkeit des Begriffs selber. Allein schon der Umstand, dass der französische Terminus gewöhnlich im Plural gebraucht wird, deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Bevölkerungskategorie nicht um einen einheitlichen, monolithischen Block handelt. Dabei rechnen sich einer neueren Umfrage zufolge spontan immerhin 75% aller Franzosen der bzw. den Mittelschichten zu. Zur näheren Bestimmung dieses mittleren Gliedes im gesellschaftlichen Schichtungsgefüge stützt sich Louis Chauvel[1] in diesem neuen Band der République des Idées auf eine aus drei Kriterien bestehende Definition. Demnach gehören all jene zur Mittelschicht, die über ein durchschnittliches Einkommen verfügen, die zu den Berufsgruppen mit mittlerem Qualifikations- bzw. Kompetenzniveau zählen (d.h. im Großen und Ganzen die von dem französischen Statistikamt als professions intermédiaires eingestuften Berufe) und die sich gleichzeitig in dem für diese Schichten spezifischen Fortschrittsglauben wieder erkennen und ihr Schicksal bzw. das ihrer Kinder mit dieser Klasse identifizieren.

Gerade in diesem letzten Punkt unterscheiden sich Louis Chauvel zufolge die französischen Mittelschichten von ähnlichen Klassen in anderen entwickelten Ländern. Letztlich ist die französische Mittelschicht eine im definitorischen Detail sicherlich bestreitbare Realität. Vor allem aber ist sie ein Gesellschaftsprojekt, insofern sie sich selbst gewissermaßen als Inkarnation des Fortschrittsgedankens und der Modernität schlechthin versteht. Die Epoche des rasanten Wirtschaftswachstums in den drei Nachkriegsjahrzehnten jedenfalls vermochte die gesellschaftlichen Kräfte in einer Art und Weise zu binden, dass manche – ähnlich wie in Deutschland – den Traum von einer moyennisation, einer dauerhaften „Vermittelschichtung“ der Gesellschaft nähren konnten. Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft französischen Zuschnitts steht nun allerdings vor dem Dilemma, dass nach den „glorreichen“ Wachstumsjahren der Trente glorieuses, die ihre innere Einheit zementierten, die „kargen“ Wachstumsjahre der Trente piteuses – wie es nur halb spaßhaft heißt – den Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl der Mittelschichten auf eine schwere Belastungsprobe stellen. Die nachwachsenden Generationen haben im Vergleich mit der Wirtschaftswundergeneration durchschnittlich zwar ein höheres Ausbildungsniveau und könnten so zu tatkräftigen Mitstreitern der Mittelschicht heranwachsen. In Wahrheit jedoch erleben sie einen schmerzhaften Prozess der generationenspezifischen Deklassierung – und das in einer Gesellschaft, die lange Zeit felsenfest dem Glauben eines stetigen Fortschritts anhing. Dieser Fluch der späten Geburt nährt soziale Abstiegsängste, die auch politischen Sprengstoff in sich bergen. Während die Mittelschicht mit ihrem „humanistischen Individualismus“ als Erbe der 68er Bewegung für darunter liegende Schichten eine ideologische Leitfunktion haben konnte, solange die wirtschaftliche Entwicklung einen stetigen Wohlstandsgewinn verhieß, geht als Folge der weit verbreiteten Deklassierungsängste innerhalb der Mittelschicht, begleitet von sozialräumlichen Abschottungstendenzen wie sie etwa Éric Maurin beschrieben hat, auch deren ideologische Attraktivität verloren – und damit ein den demokratischen Prozess in Frankreich stabilisierendes Element.

© www.passerelle.de, Dezember 2006

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  1. Louis Chauvel hat sich vor allem mit seiner erstmals 1998 erschienenen Studie zur generationenspezifischen Entwicklungsdynamik, Le destin des générations. Structure sociale et cohortes en France au XXe siècle, in Frankreich einen Namen gemacht, in der er das Geburtsjahr als weithin unterschätzten Ungleichheitsfaktor ausmacht und anhand umfangreicher Zahlenreihen anschaulich darstellt. Inzwischen hat sich das Augenmerk der Öffentlichkeit, nicht zuletzt infolge der Ausschreitungen in den französischen Banlieues Ende 2005 und den Studentenprotesten gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes für Jungarbeitnehmer einige Wochen später, zu einem Allgemeinplatz der öffentlichen Debatte entwickelt. Einige seiner kleineren Schriften sind frei zugänglich (vgl. dazu den Internetauftritt von Louis Chauvel).

Müde Manager. Über ‚La fatigue des élites‘ von François Dupuy

Besprochenvon Michael Tillmann

Seit einigen Jahren schon ist das Schlagwort der précarité in Frankreich in aller Munde. In zahlreichen Publikationen wurde der Befund einer wachsenden beruflichen Unsicherheit, die sich allein schon an den Arbeitslosenzahlen ablesen lässt, immer wieder aufs Neue bekräftigt.

Diese Unsicherheit betrifft natürlich – ähnlich wie in Deutschland – vor allem gering Qualifizierte, die der internationalen Lohnkonkurrenz in besonderem Maße ausgesetzt sind. Höher Qualifizierte dagegen scheinen gegen die Gefahren einer Deklassierung unter verschärften internationalen Konkurrenzbedingungen deutlich besser gewappnet zu sein.

Dieses im Kern sicherlich zutreffende Urteil muss gleichwohl in gewissen Punkten nuanciert werden, sobald man den Begriff der Prekarität eben nicht ausschließlich auf die (fehlende) Sicherheit des Arbeitsverhältnisses bezieht, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsorganisation. Éric Maurin (2002) hatte bereits darauf hingewiesen, dass die berufliche Unsicherheit nicht nur gering qualifizierte Arbeitnehmer trifft und im Grunde – natürlich mit mehr oder weniger schwer wiegenden Folgen – quer zu den verschiedenen Berufsgruppen verläuft. Der französische Organisationssoziologe François Dupuy nun ist eben dieser Frage vertiefend nachgegangen. Sein Interesse gilt vor allem den cadres supérieurs, d.h. der französischen Wirtschaftselite, die sich von den eigentlichen Führungs- und Entscheidungsgremien innerhalb der Unternehmen im Stich gelassen fühlt. Insofern lässt sich Robert Castels (2003) Einsicht, wonach manche Gruppen, deren Arbeitsbedingungen sich kollektiv verschlechtern, mit einer Situation des sozialen Abstiegs konfrontiert sind und einen Nährboden bilden, auf dem ein Gefühl der Unsicherheit wächst, auch auf die Berufsgruppe der leitenden Angestellten übertragen.
Während die Managerklasse in Frankreich lange einen Sonderstatus genoss, weil sie eben eine Mittlerfunktion im hierarchisch organisierten Unternehmensgefüge einnahm, sich gleichzeitig aber in die Entscheidungsfindungsstrukturen mit eingebunden fühlte, hat sich die Situation in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Das ausschlaggebende Moment für diesen langsamen Entfremdungsprozess zwischen betrieblichen Führungsinstanzen und mittlerer bis gehobener Managementebene verortet François Dupuy in der Revolution der Organisationsformen als Folge einer Umkehrung wirtschaftlicher Knappheitsverhältnisse. Zugespitzt lautet die These: „Bis zum Ende des Wirtschaftswunders herrschte in Bezug auf die täglichen Arbeitsprozesse das stillschweigende Übereinkommen, dass die Unternehmen in erster Linie für ihre Angestellten da seien. Kunden bzw. Aktionäre waren im Grunde zweitrangig. Diese Selbstbezogenheit hatte mit einem spezifischen wirtschaftlichen Umfeld zu tun, das letztlich den Produktions- bzw. Vertriebseinheiten anstatt den Konsumenten die Macht in die Hände legte“ (Dupuy 2005: 11). Diese für die Managerebene in den Unternehmen komfortable Situation hat sich nun in ihr Gegenteil verkehrt. Im Zuge der Globalisierung und der Liberalisierung der (internationalen) Handelsbeziehungen sind nicht mehr so sehr die Produkte knapp als die Kunden, denen man sie verkaufen könnte. Dadurch aber gaben die Kunden (und darüber hinaus auch die Aktionäre) zunehmend den Ton an. Die Unternehmen mussten sich diesem Kundendiktat beugen und die sequenziell organisierten Unternehmensstrukturen (Planung, industrielle Organisation, Produktion und innerhalb der Produktion, beispielsweise in der Automobilindustrie, zwischen Maschinen- und Karosseriebau, zwischen Karosserieherstellung und -montage usw.) aufbrechen. Aus organisationstheoretischer Sichtweise hatten diese sequenziellen Unternehmensstrukturen jedoch auch eine Schutzfunktion, weil dadurch eine gewisse Arbeitsautonomie jedes einzelnen dieser Bereiche gegenüber allen anderen gewahrt wurde. Das war vor allem für die betroffene Leitungsebene eine recht bequeme Situation, zumal sie dadurch innerhalb ihrer Organisation gewissermaßen eine Monopolstellung innehatte und die Arbeitsprozesse auf die unternehmensinternen Bedürfnisse abstimmen konnte. Unterdessen haben jedoch die Kunden die Macht an sich gerissen. Sie sind nicht länger bereit, die Kosten für schwerfällige Organisationen zu tragen. Angesichts dieser Situation wurden Reformen notwendig, die diese monopolartigen Strukturen aufbrechen und für eine stärkere horizontale Kooperation und Verflechtung sorgen (Beispiel: Anschlussflüge ohne längere Wartezeiten). Kooperation bedeutet aber eben immer auch Konflikt, so dass die seit einiger Zeit in Gang befindliche Revolution der unternehmensinternen Organisationsformen letztlich dazu führt, dass auch die leitenden Angestellten einem wachsenden Druck ausgesetzt sind. Da die strategischen, unternehmensrelevanten Entscheidungen in höheren Sphären getroffen wurden, zu denen sie im Regelfall keinen Zugang haben, die Arbeitsbelastung bei rückläufiger Gehaltsentwicklung jedoch gleich bleibend hoch ist, lassen sich Rückzugsstrategien erkennen, die zeigen, dass das Arbeitsengagement und die Identifikation mit dem Unternehmen nachzulassen drohen. Die cadres, die sich bisher trotz ihres Angestelltenstatus stets stärker der Unternehmensdirektion verbunden fühlten als den anderen Arbeitnehmern des Betriebs, scheinen sich – wie sich einigen Umfragen speziell zu der Frage der 35-Stunden-Woche in Frankreich entnehmen lässt – tendenziell den „gewöhnlichen“ Angestellten anzunähern: Auch die Führungskräfte zählen nun ihre Arbeitsstunden, und wie alle anderen Arbeitnehmer wünschen auch sie keine Lockerung der 35-Stunden-Woche, die unter der sozialistischen Koalition verabschiedet worden war und vor kurzem von der bürgerlichen Regierung neuerlich in Frage gestellt wurde. Der Kapitalismus allerdings – das haben Boltanski/ Chiapello (1999) eindrucksvoll gezeigt – braucht einen Geist. Er braucht das Engagement seiner Führungskräfte und damit überzeugende und glaubwürdige Werte, die diese langfristig binden und motivieren.[1]

 

Wie es in der Reihe der République des Idées üblich ist, begnügt sich der Verfasser jedoch nicht mit einem negativen Befund. In einem abschließenden Kapitel werden drei sich kreuzende Wege aus der Krise aufgezeigt. Zum einen sollte an die Stelle des Spezialistentums eine horizontale Integration verschiedener Unternehmensbereiche in der Person des Managers treten, die auch auf das mittlere Leitungsniveau auszudehnen wäre. Darüber hinaus sollte auch das Laufbahnmanagement umgestaltet werden, so dass nicht mehr allein ein Aufstieg in der Unternehmenshierarchie mit einer Gehaltserhöhung verbunden ist, sondern eventuell auch horizontal verlaufende Karrieren möglich werden. Dabei geht es jedoch im Kern darum, dass der Karriereverlauf den Führungskräften nicht einfach aufgezwungen, sondern vielmehr ausgehandelt wird. Drittens schließlich muss dieses horizontale Karrieremanagement die Möglichkeit bieten, neue Kenntnisse zu erwerben, so dass die leitenden Angestellten ihre employability weiter ausbauen können.

© passerelle.de, Juni 2005

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  1. Es sei darauf hingewiesen, dass François Dupuy, ohne die Autoren namentlich zu erwähnen, von Boltanskis und Chiapellos Versuch nicht viel hält, die Veränderungen des kapitalistischen Geistes und letztlich auch der kapitalistischen Organisationsformen (Stichwort: Vernetzung, Projekt usw.) als Reaktion auf die Herausforderungen der 68er Bewegung zu interpretieren (Dupuy 2005: 58). In seinen Augen sind die Veränderungen der unternehmerischen Organisationsformen ausschließlich der Globalisierung und der Öffnung der Märkte zuzuschreiben.

Frankreich im Wandel. Über ‚L’égalité des possibles. La nouvelle société française‘ von Eric Maurin

Besprochenvon Michael Tillmann

  • MAURIN, Eric: L’égalité des possibles. La nouvelle société française. République des Idées, Paris 2002. ISBN 978-2020545082.

In den letzten Jahren ist in Frankreich die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt der Öffentlichen Auseinandersetzung gerückt, wobei die Begriffe der précarité und der précarisation, d.h. der zunehmend unsicher werdenden Beschäftigungsverhältnisse, und die Gleichheitsproblematik neben einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit die Debatte bestimmen. Von diesem Topos der politischen Auseinandersetzung ausgehend, unterzieht der Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Eric Maurin die französische Gesellschaft einer genaueren Betrachtung, um die Natur und tatsächliche Tragweite der Wandlungsprozesse zu ergründen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die zunehmende Instabilität der Berufswelt nicht allein spezifische Berufsgruppen belastet. Selbst wenn höher Qualifizierte natürlich weniger gefährdet sind als gering Qualifizierte und ältere Erwerbstätige seltener arbeitslos werden als Jungarbeitnehmer, hat die berufliche Unsicherheit für alle Beschäftigungskategorien in vergleichbarem Maße zugenommen. Diese Entwicklung führt der Autor in letzter Konsequenz weniger auf institutionelle Rahmenbedingungen (Stichwort: Liberalisierung des Arbeitsmarktes) zurück als auf technologische Innovationen, d.h. auf die Möglichkeit, Arbeits- und Erfahrungswissen, das zuvor allein ältere Arbeitnehmer im Laufe ihrer Berufskarriere haben ansammeln können, durch neuartige Produktionsmethoden zu ersetzen (Kapitel I: La fragilisation des relations d’emplois).

Parallel dazu beobachtet Eric Maurin, dass die Kategorien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur statistischen und damit auch ideologischen Erfassung der Berufswelt entwickelt wurden, an Prägnanz verlieren. Auch wenn entgegen weithin zu vernehmender Unkenrufe das Konzept der Arbeiterklasse nichts von seiner heuristischen Kraft verloren hat, hat sich doch die Identität dieser Kategorie verändert. Das hat damit zu tun, dass die Kategorie der Arbeiter, die sich immer schon aus heterogenen Elementen zusammensetzte, gerade bei den angelernten Hilfsarbeiten (ouvriers spécialisés) im Zuge des Zusammenbruchs traditioneller Industriebastionen hat Verluste verzeichnen müssen. Parallel dazu konnten die dienstleistungsnahen Arbeiterkategorien und die Angestelltenkategorie zulegen. Letztere weist allerdings dieselben Wandlungsprozesse auf wie die Kategorie der Arbeiter, weil auch hier die klassische Figur des Angestellten im Verwaltungsbereich eines Großbetriebes zugunsten der Angestellten im direkten Kundenkontakt (Haushaltshilfe, Betreuungs- und Pflegepersonal usw.) an Gewicht verloren hat.

Der gemeinsame Nenner all dieser Verschiebungsprozesse besteht dem Autor zufolge darin, dass der Arbeitsalltag dieser im Wachsen befindlichen Kategorien stärker die Persönlichkeit der jeweiligen Arbeitnehmer anspricht und mobilisiert. Damit empfinden diese jedoch weniger das Gemeinsame einer ähnlichen Berufslage, so dass auch die Ausbildung einer gemeinsamen Klassen- bzw. kategorialen Identität schwerer fällt. Ganz im Gegenteil: Gerade das „Scheitern“ in der Arbeitswelt wird als eigene Unzulänglichkeit und persönlicher Kompetenzmangel empfunden. Das unter solchen Bedingungen ein Klassenbewusstsein bzw. das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität nur schwer zu wachsen vermag, ist nicht weiter verwunderlich (Kapitel II: La nouvelle condition salariale).

Als dritten Aspekt der Entwicklung der französischen Gesellschaft und Wirtschaft neben allgemeiner Prekarisierung und unschärfer werdenden Kategorien verweist Eric Maurin auf weiter bestehende soziale Ungleichheiten. Diese Ungleichheiten macht er zum Beispiel daran fest, dass die Armutswahrscheinlichkeit für sozial schwache Familien immer noch deutlich höher ist als für andere, dass die gesellschaftlichen Beharrungskräfte gegen soziale Mobilität nach wie vor eine große Wirkungskraft haben und das Haushaltseinkommen den schulischen Erfolg der Kinder stark vorprägt (Kapitel III: Inégalités de fait et inégalités des possibles).

Daran anschließend – und das ist das eigentliche Ziel dieses kurzen Überblicks über markante Aspekte der französischen Gesellschaftsentwicklung – zeigt der Autor im Schlusswort (Redéfinir les priorités des politiques sociales: pour une égalité des possibles) Wege auf, wie auf diese neue Ausgangsbasis politisch reagiert werden könnte. Dabei stechen vor allem zwei Vorschläge ins Auge: Die Vorschläge, die gerade am linken Spektrum Frankreichs oftmals einer stärkeren Reglementierung der Arbeitsverhältnisse das Wort reden, lehnt Maurin angesichts der Tatsache ab, dass der Prekarisierungsprozess offensichtlich unabhängig von institutionellen Rahmungen erfolgt. Demgegenüber favorisiert er einen Umbau des betrieblichen Fortbildungssystems, das nicht nur jenen Mitarbeitern offen stehen dürfe, die ohnehin bereits die besten Beschäftigungsfähigkeiten besitzen.

Darüber hinaus wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, wollte man das Schulsystem, das ja stets als Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher Mobilität betrachtet wurde, ein weiteres Mal von innen heraus reformieren. Vielmehr gehe es darum, die bestehenden sozialen Ungleichheit über eine Umverteilungspolitik insofern auszugleichen, als dadurch die schulischen Erfolgsaussichten von Kindern aus schwachen Einkommensschichten verbessert würden.

 

© passerelle.de, Frühjahr 2003

 

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Armut in Europa. Über ‘Les formes élémentaires de la pauvreté’ Von Serge Paugam

Besprochenvon Michael Tillmann

Während in Deutschland in der Politik und auch in weiten Teilen der Bevölkerung lange Zeit der Eindruck vorherrschte, das Armenproblem sei endgültig gelöst, haben die letzten Jahre und Jahrzehnte gezeigt, wie verwundbar auch der deutsche Wohlfahrtsstaat ist. Wenn man die Typologie zugrunde legt, die der französische Soziologe Serge Paugam in einer theoretisch fundierten und empirisch überprüften internationalen Vergleichsstudie des Armutsphänomens entwickelt, so lässt sich demgegenüber die Vermutung äußern, dass Deutschland gerade am Scheideweg zweier Modelle der gesellschaftlichen Verarbeitung von Armut steht. Dem Autor zufolge können drei Idealtypen unterschieden werden, die er als integrierte, marginale bzw. disqualifizierende Armut bezeichnet. Die integrierte Armut betrifft in erster Linie wirtschaftlich schwach entwickelte Länder bzw. Regionen, in denen ganze Bevölkerungsschichten – oft über mehrere Generationen hinweg – mit sozialer Not konfrontiert sind, das Sozialversicherungssystem nur rudimentär ausgebildet ist und die Betroffenen sich mit familiärer Unterstützung und Einkünften aus der Schattenwirtschaft durchschlagen. Das idealtypische Modell der marginalen Armut betrachtet die soziale Notlage bestimmter Bevölkerungsgruppen als residual, da der ausgebaute Sozialstaat die Einkommensarmut stark reduziert und die Zahl der Betroffenen derart klein ist, dass das Problem zugunsten einer öffentlichen Debatte um die Verteilung erwirtschafteter Gewinne in den Hintergrund tritt. Diesem Modell wurde lange Zeit auch Deutschland zugerechnet, das sich damit in guter Gesellschaft befand, da hier vor allem die traditionell als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder beheimatet sind. Daneben entwickelte sich im Zuge einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit aber auch das Modell der disqualifizierenden Armut, in dessen Richtung sich derzeit auch Deutschland bewegen könnte. Dabei handelt es sich um eine Prekarisierung von Beschäftigungs- und Lebenslagen, die bis hinein in die Mittelschicht reicht und damit in weiten Teilen der Bevölkerung die Sorge vor sozialen Exklusionsprozessen weckt.

passerelle.de, 2006

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