Armut in Europa. Über ‘Les formes élémentaires de la pauvreté’ Von Serge Paugam

Besprochenvon Michael Tillmann

Während in Deutschland in der Politik und auch in weiten Teilen der Bevölkerung lange Zeit der Eindruck vorherrschte, das Armenproblem sei endgültig gelöst, haben die letzten Jahre und Jahrzehnte gezeigt, wie verwundbar auch der deutsche Wohlfahrtsstaat ist. Wenn man die Typologie zugrunde legt, die der französische Soziologe Serge Paugam in einer theoretisch fundierten und empirisch überprüften internationalen Vergleichsstudie des Armutsphänomens entwickelt, so lässt sich demgegenüber die Vermutung äußern, dass Deutschland gerade am Scheideweg zweier Modelle der gesellschaftlichen Verarbeitung von Armut steht. Dem Autor zufolge können drei Idealtypen unterschieden werden, die er als integrierte, marginale bzw. disqualifizierende Armut bezeichnet. Die integrierte Armut betrifft in erster Linie wirtschaftlich schwach entwickelte Länder bzw. Regionen, in denen ganze Bevölkerungsschichten – oft über mehrere Generationen hinweg – mit sozialer Not konfrontiert sind, das Sozialversicherungssystem nur rudimentär ausgebildet ist und die Betroffenen sich mit familiärer Unterstützung und Einkünften aus der Schattenwirtschaft durchschlagen. Das idealtypische Modell der marginalen Armut betrachtet die soziale Notlage bestimmter Bevölkerungsgruppen als residual, da der ausgebaute Sozialstaat die Einkommensarmut stark reduziert und die Zahl der Betroffenen derart klein ist, dass das Problem zugunsten einer öffentlichen Debatte um die Verteilung erwirtschafteter Gewinne in den Hintergrund tritt. Diesem Modell wurde lange Zeit auch Deutschland zugerechnet, das sich damit in guter Gesellschaft befand, da hier vor allem die traditionell als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder beheimatet sind. Daneben entwickelte sich im Zuge einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit aber auch das Modell der disqualifizierenden Armut, in dessen Richtung sich derzeit auch Deutschland bewegen könnte. Dabei handelt es sich um eine Prekarisierung von Beschäftigungs- und Lebenslagen, die bis hinein in die Mittelschicht reicht und damit in weiten Teilen der Bevölkerung die Sorge vor sozialen Exklusionsprozessen weckt.

passerelle.de, 2006

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