Armut im 19. Jahrhundert. Über ’Mémoires sur le paupérisme’ Von Alexis de Tocqueville

Besprochenvon Michael Tillmann

  • TOCQUEVILLE, Alexis de: Mémoire sur le paupérisme. Éditions Allia, Paris 1999 [dt. Das Elend der Armut. über den Pauperismus, Berlin, Avinus Verlag, 2007, übers. von Michael Tillmann, ISBN 978-3-930064-75-5].
Ein in Deutschland weithin unbekannter Klassiker der Armutsforschung ist Alexis de Tocquevilles Pauperismus-Studie. In den beiden Gedenkschriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht Tocqueville als einer der Begründer des vergleichenden soziologischen Denkens wie gewohnt von einer erklärungsbedürftigen Beobachtung aus: Wie kommt es, dass es in den rückständigsten Ländern und Gebieten so wenig Arme gibt, während die Armut in den reichsten Gegenden so unübersehbar präsent ist? Damit begründet er, wie nicht zuletzt Serge Paugam (2005) betont, die moderne Armutsforschung, der ein vergleichender Ansatz zugrunde liegt und die Armut folglich nur relational zu definieren vermag. Darüber hinaus entwickelt Tocqueville hier einen Rahmen zur Analyse des Armutsphänomens, der mit scharfem Gespür für soziologische und psychologische Zusammenhänge alle gesellschaftlich relevanten Implikationen präzise beschreibt, die sich aus der Armut und den verschiedenen Möglichkeiten ihrer Bekämpfung ableiten lassen. Dabei deckt Tocqueville schonungslos die Fehlanreize auf, die von einer „staatlichen Armenhilfe“ ausgehen, verweist aber auch auf die stigmatisierende Wirkung einer staatlichen Leistungsbewilligung, wenn es etwa heißt: „Den Menschen werden die gewöhnlichen Rechte aufgrund einer persönlichen Leistung eingeräumt, die sie gegenüber ihren Mitmenschen auszeichnet. Besagtes Recht auf Unterstützung dagegen wird aufgrund einer anerkannten Minderwertigkeit gewährt […] und schreibt diese gesetzlich fest.“ Diese und andere Stellen beweisen, dass Tocquevilles analytische Schärfe auch zwei Jahrhunderte später nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil: Der Umbau des Sozialstaates, der in allen entwickelten Ländern auf der politischen Agenda steht, bedarf gerade einer langfristigen Perspektive, die bei Tocqueville bedenkenswerte Überlegungen findet.

©passerelle.de, Sommer 2005

 

Armut in Europa. Über ‘Les formes élémentaires de la pauvreté’ Von Serge Paugam

Besprochenvon Michael Tillmann

Während in Deutschland in der Politik und auch in weiten Teilen der Bevölkerung lange Zeit der Eindruck vorherrschte, das Armenproblem sei endgültig gelöst, haben die letzten Jahre und Jahrzehnte gezeigt, wie verwundbar auch der deutsche Wohlfahrtsstaat ist. Wenn man die Typologie zugrunde legt, die der französische Soziologe Serge Paugam in einer theoretisch fundierten und empirisch überprüften internationalen Vergleichsstudie des Armutsphänomens entwickelt, so lässt sich demgegenüber die Vermutung äußern, dass Deutschland gerade am Scheideweg zweier Modelle der gesellschaftlichen Verarbeitung von Armut steht. Dem Autor zufolge können drei Idealtypen unterschieden werden, die er als integrierte, marginale bzw. disqualifizierende Armut bezeichnet. Die integrierte Armut betrifft in erster Linie wirtschaftlich schwach entwickelte Länder bzw. Regionen, in denen ganze Bevölkerungsschichten – oft über mehrere Generationen hinweg – mit sozialer Not konfrontiert sind, das Sozialversicherungssystem nur rudimentär ausgebildet ist und die Betroffenen sich mit familiärer Unterstützung und Einkünften aus der Schattenwirtschaft durchschlagen. Das idealtypische Modell der marginalen Armut betrachtet die soziale Notlage bestimmter Bevölkerungsgruppen als residual, da der ausgebaute Sozialstaat die Einkommensarmut stark reduziert und die Zahl der Betroffenen derart klein ist, dass das Problem zugunsten einer öffentlichen Debatte um die Verteilung erwirtschafteter Gewinne in den Hintergrund tritt. Diesem Modell wurde lange Zeit auch Deutschland zugerechnet, das sich damit in guter Gesellschaft befand, da hier vor allem die traditionell als Vorbild gehandelten skandinavischen Länder beheimatet sind. Daneben entwickelte sich im Zuge einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit aber auch das Modell der disqualifizierenden Armut, in dessen Richtung sich derzeit auch Deutschland bewegen könnte. Dabei handelt es sich um eine Prekarisierung von Beschäftigungs- und Lebenslagen, die bis hinein in die Mittelschicht reicht und damit in weiten Teilen der Bevölkerung die Sorge vor sozialen Exklusionsprozessen weckt.

passerelle.de, 2006

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