von Michael Tillmann
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PINÇON, Michel/ PINÇON-CHARLOT, Monique: Voyage en grande bourgeoisie.
PUF, Paris 2002 (Erstausgabe 1997). ISBN 978-2130554202.
Großbürgertum und Aristokratie sind keine gewöhnlichen Untersuchungsobjekte einer Soziologie, die sich von Anbeginn an dem gesellschaftlichen Fortschritt verschrieben hat. So geraten die ehemals dominanten Klassen nur selten ins Blickfeld einer soziologischen Betrachtungsweise, da der Geist der Geschichte in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ohnehin anderswo zu wehen pflegt und die großbürgerlichen, veraltet anmutenden Lebensformen der besseren Gesellschaft bestenfalls freundlich belächelt werden. Kaum mehr weiß eine Soziologie, die weniger geschichtsphilosophisch daherkommt und sich stärker einem sozialen Engineering verpflichtet fühlt, mit den oberen Zehntausend anzufangen. Als Machteliten im politischen Sinne werden sie schon längst nicht mehr wahrgenommen, und verglichen mit drängenden Problemen der Gegenwart (Gewalt in den Vororten großer Ballungszentren, soziale Ausgrenzung, Langzeitarbeitslosigkeit, Integration der Arbeitsmigranten usw.) ist ihre gesellschaftspolitische Brisanz eher gering. Insofern sehen die diversen staatlichen oder privaten Förderinstitutionen auch keine dringende Notwendigkeit, eine Soziologie des Großbürgertums finanziell zu unterstützen. Der direkte politische Gewinn scheint in keinem Verhältnis zu den finanziellen Aufwendungen zu stehen.
Angesichts dieser Situation bilden die beiden französischen Soziologen Michel Pinçon und Monique Pinçon-Charlot eine löbliche Ausnahme. In zahlreichen Werken haben sie seit Ende der 80er Jahre diverse Aspekte des Großbürgertums unter die Lupe genommen. Ausgangspunkt für das Interesse an diesem zahlenmäßig kleinen, an diversen (sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen) Kapitalformen jedoch reich gesegneten Milieu war die Beschäftigung der beiden Autoren mit städtischen Segregations- und Aggregationsphänomenen (Pinçon/Pinçon-Charlot 1989). Gerade in einer Stadt wie Paris kommt man um die Erkenntnis nicht herum, dass sich eine soziale Schichtung eben auch urbanistisch niederschlägt. Im Pariser Osten lebt es sich eben anders als in den betuchten Vierteln des 16. Arrondissements und dem angrenzenden Luxusvorort Neuilly. Insofern ist es zur Erfassung städtischer Entwicklungsdynamik eben auch erforderlich, jene zahlenmäßige Minderheit in den Blick zu nehmen, die einer anderen Welt verhaftet scheint.[1] Im Anschluss an dieses ursprünglich stadtsoziologische Interesse untersuchten die beiden Autoren die Strategien der Bildung und der Bewahrung diverser (aber eben nicht nur wirtschaftlicher) Kapitalformen in den oberen Klassen (vor allem Pinçon/Pinçon-Charlot 1998), interessierten sich jedoch auch für so scheinbar anekdotische Themen wie die Treibjagd (Pinçon/Pinçon-Charlot 1996). Hierbei mag – wie es den beiden Autoren häufig vorgeworfen wurde – eine gewisse kleinbürgerliche Faszination fürs Großbürgerliche eine Rolle spielen. Gleichzeitig verlieren sie jedoch nie den Blick für Gesamtzusammenhänge.
Dafür ist vor allem auch das Forschungstagebuch zur Reise durch die Großbourgeoisie Frankreichs (Pinçon/Pinçon-Charlot 2002), wie die wörtliche Übersetzung des französischen Titels lautet, ein schöner Beleg. Auch wenn die Autoren keinen solchen Anspruch erheben, handelt es sich durchaus um so etwas wie ein methodologisches Lehrbuch soziologischer Feldarbeit. Von der Konstruktion des Forschungsobjekts und dokumentarischer Vorarbeiten bis hin zur schriftlichen Abfassung, Veröffentlichung und medialen Verwertung der Forschungsergebnisse werden hier alle Etappen des soziologischen Arbeitens (mit ihren je spezifischen Schwierigkeiten) abgeschritten. Besonderes Augenmerk verdienen hierbei die Probleme, die mit der Kontaktaufnahme und der Durchführung von Interviews verbunden sind. Ohne Empfehlung von Mitgliedern aus diesem Sozialmilieu erweist sich die Kontaktaufnahme nämlich als nahezu aussichtslos. Und auch die Situation des Interviews in diesen gehobenen Kreisen ist selbst für erfahrene Sozialwissenschaftler mit zahlreichen Fallstricken verbunden. Das liegt vor allem daran, dass sich der Soziologe hier – anders als in den meisten Interviewsituationen – jemandem gegenüber findet, der auf einer höheren Stufe der sozialen Leiter beheimatet ist und dessen ganze Erziehung und Lebensumstände ihn auf derartige Bewährungssituationen vorbereiten. Habitus und Hexis der Befragten, in der sich das Bewusstsein der eigenen sozialen Stellung körperlich äußert, sind für den Sozialforscher insofern problematisch, als sie sich dadurch ihrer eigenen Position als sozial Beherrschte bewusst werden.[2] Im Laufe der sozialen Interaktionsformen sind die Positionen und Lebenswege der Akteure stets präsent. Daher ist es während eines Interviews stets möglich, dass eine Dominanzsituation des Befragten gegenüber dem Fragesteller (oder umgekehrt) eintritt. Detailliert beschreiben die beiden Autoren, wie sich durch dezente Kleidung, eine gezielte Vorbereitung des Interviews (da hier auch der Fragesteller Rede und Antwort stehen muss), die klare Vermittlung des Forschungsanliegens, bei dem es keinesfalls um die ironische, herablassende Kritik scheinbar veralteter Lebensformen geht, diese Schwierigkeiten umgehen oder doch zumindest abschwächen lassen. Wie sensibel dieses Milieu auf Takt- bzw. Normverletzungen (z.B. das Tragen von verschlissenen Jeans) reagiert, veranschaulichen die beiden Autoren immer wieder an zahlreichen Beispielen. In diesem Fall besteht stets die Gefahr, dass sich der Befragte auf eine rein konventionelle Position zurückzieht, um den verdächtig erscheinenden Fragesteller mit ausgesuchter Höflichkeit und der „angeborenen“ Selbstsicherheit, die die Mitglieder in diesen gesellschaftlichen Gruppen kennzeichnet, auf seinen Platz zu verweisen. So zitieren sie das Beispiel von Journalisten, die es nicht für nötig befunden hatten, sich dem normalen Erscheinungsbild in diesem Milieu anzupassen, und die prompt einen konventionellen Diskurs serviert bekamen, der kaum etwas mit den wahren Interessen und Motivationen der Befragten zu tun hatten. Neben diesem methodologischen Aspekt erfährt der Leser in kondensierter Form wesentliche Ergebnisse der einzelnen Forschungsprojekte. Dazu gehört nicht zuletzt, dass sich an diesem oberen Ende des gesellschaftlichen Spektrums eben nicht nur wirtschaftliches, sondern auch soziales, symbolisches und – einem weit verbreiteten Vorurteil zum Trotz – kulturelles Kapital akkumuliert. Insofern lässt sich von diesem Befund aus eine Brücke zu der aktuellen Debatte um die fortbestehenden Ungleichheiten in der Gesellschaft schlagen: „Ein besseres Verständnis der Ungleichheiten und der Lebensgewohnheiten der herrschenden Klassen ist an sich schon ein politischer Akt, da die Privilegien sich zunehmend den Blicken entziehen, sobald die Vermögensverhältnisse in einer älteren Vergangenheit wurzeln. Die Höhe der Vermögensverhältnisse, die vielförmige Zusammensetzung des Kapitals, das Verhältnis zu Kultur und Schule sind Aspekte, mit denen ein breiteres Publikum vertraut gemacht werden sollte. Während die Armut keine Geheimnisse mehr hat, erforscht und inventarisiert ist, entziehen sich die großen Familien der wissenschaftlichen Kenntnis. Insofern ist es mehr als legitim, sich für sie zu interessieren.“
© http://www.passerelle.de, Sommer 2003