„Der Duft von Lavendel“

Besprochenvon Camille Buscot

  • Der Duft von Lavendel, Regie und Buch: Charles Dance. Produktion: Großbritannien 2004, Laufzeit: ca. 100 Minuten.

Ein älterer Mann verliebt sich in eine junge Frau. Nichts Untypisches. Doch was, wenn sich eine in die Jahre gekommene Frau in eine jungen Mann verliebt?

Die zwei alten Schwestern, Ursula und Janet (gespielt von Judi Dench und Maggie Smith) leben in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in einem idyllischen Haus direkt an der Küste von Cornwall. Nach einem Sturm wird ein junger Pole namens Andrzej an den Strand gespült. Die beiden Damen nehmen sich seiner an und pflegen ihn. Trotz der anfänglichen Verständigungsprobleme entwickelt sich eine tiefe familiäre Beziehung zwischen Andrzej und den Schwestern. Der junge Mann bringt Leben in den Alltag der alten Damen, Ursula verliebt sich sogar in Andrzej.
Nach und nach erinnert sich Andrzej an seine Liebe zur Musik und zum Geigenspiel. Als die junge attraktive Malerin Olga von dem Talent Andrzejs hört und ihn fördern möchte, wird Ursula eifersüchtig.

Diese Geschichte, die auf einer Kurzgeschichte von William John Locke beruht, könnte an sich sehr interessant sein, denn die Liebe einer älteren Frau zu einem jungen Mann wird sonst nur selten in Filmen angesprochen.
Doch bleibt in dieser Darstellung das Dramaturgische hinter dem Visuellen zurück. Wie so oft bei britischen Filmen ist der Film geprägt von schönen Landschaftsaufnahmen in weichen Farben und schöner (jedoch nicht besonders origineller) Musik, die der prominente Geiger Joshua Bell eigens für diesen Film komponiert hat. Die Handlung bleibt inhaltlich ziemlich flach und zieht sich in die Länge. Dies liegt leider auch an Daniel Brühl, der hier den begabten Gestrandeten lustlos an der Grenze zum Klischee spielt.
Zum Glück können die anderen Schauspieler das wiedergutmachen. Allen voran die beiden berühmten britischen Schauspielerinnen Judi Dench und Maggie Smith, die durch ihre sensible und facettenreiche Spielweise die Beziehung der beiden Schwestern und den Umgang mit der Eifersucht Ursulas sehr gut darstellen und damit den Film aufwerten. Die energische Haushälterin (sehr gut gespielt von Miriam Margolyes, bekannt aus Harry Potter) sorgt für eine Prise des berühmten britischen schwarzen Humors.

Der Duft von Lavendel ist die erste Regie- und Drehbucharbeit von Charles Dance, der bis dahin nur als Schauspieler tätig war (unter anderem Nebenrollen in „James Bond“-Filmen, „Phantom der Oper“ und „Swimming Pool“). Doch leider schafft er es trotz sehr guter Schauspielern nicht, die Geschichte mit ausreichend Tiefe zu erzählen.

Es ist wunderbar, Maggie Smith und Judi Dench zusammen in einem Film zu sehen, doch wird ihnen „Der Duft von Lavendel“ leider nicht gerecht.

 

Hierlwimmer, Heike Anna: Großes Erbe und kleine Überraschungen. Thematische Tendenzen des britischen Kinos nach 1980, 11.01.08

Wenn es um britisches Kino nach 1980 geht, ist zunächst einmal dessen viel beschworene Renaissance zu nennen, die sich zu Beginn der 1980er Jahre vor allem an internationalen Festival- und Kritiker-Erfolgen (wie zum Beispiel den Oscar-Auszeichnungen für Chariots of Fire 1982) festmacht, sowie an steigenden Besucherzahlen, die sich Ende des Jahrzehnts wieder der 100 Millionen-Grenze nähern.[1] Dass diese Besucherzahlen bzw. die Spielpläne britischer Kinos per se zunächst noch nichts über die Produktion oder Rezeption britischer Filme aussagen, wurde im Beitrag von Thomas Weber bereits ausführlich erläutert.

Die Voraussetzungen, unter denen Kinofilme produziert werden, die staatlichen Rahmenbedingungen, Finanzquellen, Studiostrukturen usw., bestimmen das Aussehen, den Inhalt und die Zahl der Filme, die – in Großbritannien oder anderswo – tatsächlich gemacht werden, selbstverständlich in ganz entscheidender Weise. Die überwältigende Dominanz Hollywoods, die Subventionskürzungen unter der Torie-Regierung, aber auch die positiven Impulse von Channel 4 wurden in diesem Zusammenhang bereits von Herrn Weber erwähnt. Nach der Frage, welche Filme wann, warum, von wem, und mit welchen Geldern produziert werden, sollte aber immer auch die Frage gestellt werden, welche Filme wann von wem besonders gerne gesehen werden, und woran das wohl liegen könnte.

Das Publikum besitzt noch immer die größte Macht in der Filmindustrie – ohne Publikumserfolge haben Studios oder Independent-Producer keine Aussicht auf eine Amortisierung ihrer Kosten, keine Rücklagen für neue, evtl. riskantere Projekte, keine Gelder für aufwendige Marketing-Kampagnen usw. Im schlimmsten Fall kann eine einzige gefloppte Big-Budget-Produktion einem Studio bereits die Existenzgrundlage rauben. Leider – oder zum Glück – ist der Geschmack des Publikums im Filmgeschäft von jeher eine nahezu unkalkulierbare Größe, die den Filmproduzenten sowohl gigantische Pleiten als auch unverhoffte Mega-Erfolge bescheren kann. Bei meinen Ausführungen zum British Cinema liegt das Hauptinteresse daher auf denjenigen Filmen, die von einem Kinopublikum irgendwo auf der Welt als „typisch britisch“ oder „typisch englisch“ wahrgenommen und rezipiert werden. Die Frage, die sich hier konkret stellt, ist also nicht, ob es überhaupt ein britisches Kino gibt, sondern die, anhand welcher Kriterien verschiedenes Kinopublikum zu dem Schluß kommen können, einen „britischen Film“ gesehen zu haben. Entscheidend ist dabei nicht, ob diese Kriterien von „Britishness“ einer wie auch immer nachprüfbaren politischen, historischen oder filmindustriellen „Realität“ oder Faktenlage entsprechen, sondern die Tatsache, dass die Masse der Zuschauer einen Film subjektiv als britisch wahrnimmt und auch ohne jede kritische Relativierung von seiner (quasi „naturgegebenen“) „Britishness“ sprechen würde.

Die beliebtesten Genres beim britischen Kinopublikum sind in den 1980er und 1990er Jahren Komödien, Sozialdramen und Literaturverfilmungen – wobei letztere eine enorm große und extrem heterogene Gruppe bezeichnen, denn hierzu gehören streng genommen historische Heritage Filme ebenso wie ein radikal moderner Film à la Trainspotting, der auf einer Romanvorlage von Irvine Welsh basiert). Keines dieser Genres ist zu Beginn der 1980er wirklich neu. Komödien waren in Großbritannien (und anderswo) immer schon sehr populär und oftmals besonders national gefärbt,[2] die Literatur des klassischen Kanons wurde ebenfalls immer schon gerne verfilmt, und Filme mit sozialkritischen Themen sind spätestens seit den „kitchen sink dramas“ der 1950er und 1960er Jahre und dem Einfluß der „angry young men“ aus der Literaturszene[3] ebenfalls keine revolutionäre Neuheit mehr. Etwas salopp formuliert, könnte man die inhaltliche Entwicklung des jüngeren British Cinema insofern als eine Mischung aus dem „Glanz der Vergangenheit“ und ein paar Überraschungserfolgen bezeichnen.

Das Genre mit dem größten bleibenden Einfluß im britischen Kino und zugleich das Aushängeschild schlechthin zum Thema „Glanz der Vergangenheit“ ist dabei sicherlich das Heritage Cinema.[4] Es handelt sich hierbei um eine Reihe von „quality historical films“[5] oder aufwendigen Literaturverfilmungen, die häufig auf Romanvorlagen, besonders von E. M. Forster, basieren.[6] Einige Kritiker haben diese Filme (Chariots of Fire, A Passage to India, A Room with a View, Howard’s End, The Remains of the Day u.a.) als symptomatische Auswüchse des Thatcherism betrachtet – sie seien geprägt von der Flucht in eine idealisierte Vergangenheit und einer Ignoranz aktueller Probleme, verbunden mit einer konservativen Beschwörung eines glanzvollen gemeinsamen Erbes. Auffällig ist in jedem Fall, dass die Heritage Filme parallel zum Boom der britischen Heritage Kultur entstehen, in deren Rahmen Landsitze, Parks und Kunstsammlungen als nationale Kulturgüter bewahrt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.[7]

Genauso viele Kritiker haben allerdings durchaus kritische Untertöne in Heritage Filmen entdeckt oder darauf hingewiesen, dass diverse, auch subversive Lesarten ein und desselben Films oder Themas möglich sind.[8] Insbesondere der Umgang der Filme mit Sexualität und vor allem mit Andeutungen von Homosexualität wurde im Bereich der Queer Studies oft positiv bewertet. Interessant ist hierbei auch die These, dass die vernichtende Kritik am „seichten“, bei Frauen besonders beliebten Heritage Cinema fast ausschließlich von heterosexuellen Männern geäußert wurde, und zwar deshalb, weil die Filme – ähnlich wie der ‚woman’s film’ und das Melodrama der 1930er und 1940er Jahre – eine spezifisch weibliche Sichtweise instrumentalisierten und „feminine reading competence“ erforderten.[9]

Doch was macht diese Filme „typisch britisch“ (in dem Fall sogar typisch englisch) oder unterscheidet sie zumindest von herkömmlichen Hollywood-Produktionen? Die am häufigsten genannten Merkmale sind die folgenden:[10] Heritage Filme beziehen ihre Stoffe aus historischen oder literarischen Vorlagen, die dezidiert als wertvolles nationales Kulturerbe inszeniert werden und eine Nähe zur Kunst und zum „guten Geschmack“ suchen. Sie arbeiten oft mit einem wiederkehrenden Ensemble renommierter britischer Schauspieler (zunächst waren dies Helena Bonham Carter, James Wilby, Anthony Hopkins, Hugh Grant; später kamen u.a. Emma Thompson, Kate Winslet, Judi Dench, Maggie Smith, Colin Firth hinzu), bei denen eine Affinität zum Theater, zum hochwertigen Schauspiel, und nicht zuletzt eine gehobene englische Diktion hervorgehoben wird. Dennoch stehen selten einzelne Schauspieler als Stars im Mittelpunkt – die Betonung liegt auf der Qualität und dem perfekten Zusammenspiel des gesamten Ensembles. Inhaltlich sind komplexe soziale Beziehungen mindestens ebenso wichtig wie Einzelschicksale; Dialoge und Charakterstudien sind wichtiger als Tempo, Action und spektakuläre Effekte; mis-en-scène und Visualität sind wichtiger als eine straffe, spannungsbetonte Narration (Sarah Street spricht sehr anschaulich von einer „display of history as spectacle via a pictorialist camera style“, 103); und meist wird versucht, die Literaturvorlage möglichst „original“ und authentisch umzusetzen (Ausnahmen bestätigen die Regel, z.B. Eingriffe am Plot). Die enorme historische Detailtreue – im Gegensatz etwa zu vielen Historienfilmen – in puncto Kostüme, Requisite, Set Design etc. wird dem Heritage Cinema oft sogar zum Vorwurf gemacht.

Alle Heritage Filme sind geprägt von einem Gefühl der Nostalgie, also der Sehnsucht nach einer irgendwie „schöneren“, besseren Vergangenheit.[11] Diese Nostalgie, die oft als Hauptanklagepunkt gegen die Filme erhoben wird, muß allerdings deutlich differenziert betrachtet werden: Erstens ist sie nicht Teil der persönlichen Erfahrung des Publikums (oder auch der am Film Beteiligten), sondern eine Vergangenheit, die von späteren Generationen konstruiert wird – oftmals im Gegensatz zum Blickwinkel des Autors, der die Originalvorlagen ja als zeitgenössische Szenen schilderte. Zweitens ist die Lust an prachtvollen Bildern, vergangener Schönheit und Eleganz auch gemischt mit kritischen Blicken auf soziale Ungerechtigkeiten (z.B. Frauenemanzipation, Homosexualität etc.), wodurch im Nebeneffekt zugleich die selbst erlebte Gegenwart aufgewertet wird. Drittens ist der Blick nicht auf eine „Gesamtschau“ vergangener Epochen gerichtet, sondern nur auf bestimmte Ausschnitte, und zwar immer auf das Leben der Eliten, der ‚upper middle’ bis ‚upper class’ bzw. Aristokratie. Die Masse der Zuschauer, die diese Filme lieben, ist also nicht nur historisch, sondern auch in ihrer persönlichen sozialen Situierung buchstäblich Welten vom Filmsetting entfernt – wodurch eine interessante Verquickung von „solidarischer“ Identifizierung mit den englischen Vorfahren einerseits und Bewunderung oder Verachtung sozial Höhergestellter andererseits entsteht.

Ein ganz ähnliches Phänomen erklärt womöglich auch den enormen Erfolg dieser Filme (dies gilt auch für neuere britische Produktionen, auf die ich noch kommen werde) in den USA, die dort oft sogar weit besser abschneiden als beim heimischen Publikum.[12] Dieses Phänomen ist die Faszination der US-Amerikaner für alles Europäische, besonders Britische, das den Nimbus von elitärer Vergangenheit, gewachsener, jahrhundertealter Kultur und Tradition besitzt und das in den USA entweder gar nicht vorhanden ist, oder zumindest nicht in dieser Ausprägung. Die Filme genießen beim US-Publikum damit einen beinahe „exotischen“ Reiz und appellieren zudem an die tief verwurzelte Haßliebe der Amerikaner zu ihrer europäischen Schwesternation.[13]

Nach dem ersten Heritage Boom starteten dann in den 1990er Jahren Emma Thompson und Kenneth Branagh eine weitere „Nostalgiewelle“, die vor allem Shakespeare-Dramen adaptierte (Henry V 1989, Much Ado About Nothing 1993, Othello 1995, Hamlet 1996). Auch diese „very british“ anmutenden Filme waren in den USA sehr erfolgreich. Die Verfilmung des englischen Literaturkanons von Shakespeare über Austen, Bronte, Dickens und Thackeray bis zu einer Reihe neuerer Oscar-Wilde-Adaptionen bleibt ganz offensichtlich ein Dauerbrenner – sowohl in Form von „rein“ amerikanischen Big-Budget-Produktionen der Hollywood Majors, als auch mit stärkerer britischer Beteiligung, und sei es nur durch das Schauspieler-Ensemble. Insbesondere Sense and Sensibility (1995) knüpft wieder kommerziell erfolgreich und in puncto Ästhetik, Ensemble und einer Mischung aus historischer Authentizität und mitfühlend-kritischer Ironie künstlerisch sehr gelungen an die Heritage Filme an;[14] selbiges gilt auch für die jüngste Austen-Verfilmung Pride and Prejudice (2005).

Neben diesen filmischen Anknüpfungspunkten an den Glanz der britischen Vergangenheit gab und gibt es aber, wie bereits angedeutet, immer wieder Überraschungserfolge des jüngeren britischen Kinos. Zwei ganz unterschiedliche, aber beide auf ihre Weise sehr britische Filme, sind Four Weddings and a Funeral (1994) und Billy Elliot (2000).

Der Channel 4/Working Title/Polygram-Produktion Four Weddings gelang das schier unmögliche, nämlich Publikum, Kritiker und Festivaljurys weltweit zu begeistern und einen ungeheuren finanziellen Erfolg zu erzielen (die Einspielsumme liegt über 244 Mio $) – und das mit einem vergleichsweise minimalen Budget von ca. 6 Mio $ und einem Ensemble ohne wirkliche „Kassenmagnete“, sprich Superstars. Der lose, episodenhafte Plot des Films handelt von einer Gruppe Freunde aus der britischen ‚upper-middle class’, die im Laufe eines Sommers bei vier Hochzeiten und einer Beerdigung zusammen kommen; der im Titel genannte Todesfall hatte sich bei einer der Hochzeiten ereignet. Im Wechsel zwischen beißender Ironie, schreiender Komik und tief bewegender Tragik verfolgt der Film die Irrungen und Wirrungen sämtlicher Filmfiguren bei ihrer Suche nach der großen Liebe, oder wenigstens nach einer soliden Partnerschaft oder einer standesgemäßen Beziehung. Der Protagonist Charles (alias Hugh Grant) und die Amerikanerin Carrie finden erst zueinander, nachdem sie bereits geschieden ist und er in letzter Sekunde vor der Trauung mit einer anderen geflohen war; nach ihren traumatischen Eheerfahrungen versprechen sie feierlich, einander nicht zu heiraten, und zwar für den Rest ihres Lebens.

Obschon der Film in der Gegenwart spielt, steht Four Weddings deutlich in der Tradition der Heritage Filme.[15] Hauptdarsteller Hugh Grant wurde durch den Heritage Film Maurice bekannt, es gibt ein exzellentes britisches Ensemble, britische Settings und die bekannte Faszination für die englische ‚upper class’, diesmal allerdings weitgehend frei von kritischen Untertönen bzw. Blicken auf andere Teile des sozialen Spektrums. Interessanterweise wurde der Film gerade auch in den USA zum Kassenschlager, obschon inhaltlich mit den uralten Konflikten zwischen „peinlichen“ Amerikanern und vermeintlich kulturell überlegenen Engländern gespielt wird, die dem Klischee der blasierten Snobs stellenweise vollauf gerecht werden. Neben solchen „alten“ Themen gibt es aber auch einen sehr modernen Umgang mit dem Thema Homosexualität, der in früheren Filmen so nicht denkbar gewesen wäre. Denn allem Mainstream-tauglichen, in Hochglanzoptik gefilmten Hochzeitsfieber zum Trotz, besteht das glücklichste Paar des Films lange Zeit aus den beiden (logischerweise unverheirateten) Männern Matthew und Gareth, deren tiefe und aufrichtige Liebe spätestens bei Gareths Beerdigung allen Anwesenden und Zuschauern deutlich wird.

Persönliche und partnerschaftliche Erfüllung wird hier also definitiv nicht zwangsläufig mit Heterosexualität, kirchlicher Trauung und der Institution Ehe gleichgesetzt. Allerdings werden im Abspann alle Figuren auf Schnappschüssen oder Hochzeitsfotos glücklich vereint mit ihren alten oder neuen Partnern gezeigt (nur die vom Schicksal gebeutelte Fiona ist lediglich in einer Montage mit Prince Charles (!) zu sehen). Der Tenor des Films – wahre Liebe kennt keine Grenzen, und es lohnt sich immer, auf die eine, große Liebe zu warten – ist also aus Hollywood-Liebeskomödien hinlänglich bekannt.

Wirklich „britisch“ wird Four Weddings aber (neben den genannten Heritage-Attributen) durch Anklänge an landeseigene Komödientraditionen im Film wie im Theater. Gemeint ist hier zum einen ein „typisch britischer“ Humor (nicht nur wegen des Gastspiels von Rowan Atkinson als chaotischem Pfarrer), und zwar eine Mischung aus Slapstick, „Schusseligkeit“, geschliffenen Dialogen voller Schlagfertigkeit, Wortwitz und trockener Ironie. Zusammen mit dem ‚upper class-setting’ und dem zentralen Thema des ‚match-making’ und des Geschlechterkampfes, zitiert der Film somit ganz deutlich Elemente der englischen Comedy of Manners, einer Theaterliteratur also, die von Noel Coward über Oscar Wilde bis zum Restoration Theatre am Ende des 17. Jahrhunderts zurückreicht.

An der Produktion von Billy Elliot waren u.a. die BBC, der Arts Council of England und, wie schon bei Four Weddings, Working Title beteiligt. Wieder handelt es sich um einen gigantischen Kassenerfolg (ca. 5 Mio $ Budget brachten in den USA knapp 22 Mio $, in Großbritannien knapp 17 Mio. Pfund Einspielsumme), und wieder wurde der Film mit Kritikerlob und Preisen förmlich überschüttet. Im Gegensatz zu Four Weddings spielt er jedoch am völlig anderen Ende des sozialen Spektrums, nämlich vor dem Hintergund eines Bergarbeiterstreiks in Nordengland im Jahr 1984. Billy Elliot zeigt soziale, kulturelle und politische Themen im Großbritannien der 1980er Jahre buchstäblich in ihrer ganzen Bandbreite, von der nordenglischen Bergarbeiter-Tristesse bis zur Elite-Tanzschule, vom schmutzigen Hinterhof bis zum angestrahlten Portal des Haymarket Theatre. Denn der Protagonist bricht aus seiner deprimierenden ‚working-class’ Herkunft aus und bekommt – anstatt wie sein Vater zu boxen – eine klassische Tanzausbildung an der Royal Ballet School.

Der Plot besitzt mehrere Nebenstränge, die im Gegensatz zu Billys Schicksal alle mehr oder weniger tragische Qualitäten besitzen. Billys Oma hängt, von Altersdemenz und anderen Gebrechen geplagt, ihren Jugendträumen nach, Tänzerin zu werden; sein Vater kämpft, nach dem frühen Tod seiner Frau verbittert, permanent gegen die finanzielle Katastrophe und die persönliche Demütigung an, als Bergarbeiter, Vater und Mann zu versagen bzw. schlicht überflüssig zu sein; und Billys Bruder versucht sich erfolglos mal als „angry young man“, mal als Macho oder heimliches Familienoberhaupt. Für die kettenrauchende Ballettlehrerin Mrs. Wilkinson ist Billy die erste (und vermutlich auch die vorerst letzte) positive Unterbrechung ihrer beruflichen und familiären Stagnation und Desillusionierung. Die Kinder in Billys Schule und Ballettklasse, die weniger Talent, Mut, Ehrgeiz und Förderung haben, werden, so suggeriert der Film, vermutlich die wenig erfreulichen Schicksale ihrer Eltern wiederholen. Nur für seinen besten Freund Michael, dessen Liebe zu Billy unerfüllt bleibt, gibt es ein echtes Happy-End, als er nach offensichtlich geglücktem Coming-out, mit schwulem Partner und Travestie-tauglichem Outfit in London Billys Schwanensee-Premiere erlebt.

Billy befreit sich aus dem väterlichen Arbeitermilieu, aus traditionellen Männerrollen, und aus der emotionalen Unterversorgung, die nach dem Tod seiner (ebenfalls musisch begabten) Mutter entstanden war. Wenn er tanze, so erzählt Billy dem Aufnahmekomitee an der Royal Ballet School, dann verschwinde er einfach: „I kind of disappear“. In dieser „Auflösung“ seiner bisherigen Persönlichkeit steckt jedoch eine Art „Neuentdeckung“, die Billy als beglückend und sehr intensiv erlebt, „like electricity“. Seine Entwicklung vom prädestinierten Underdog zu einem selbstbewußten, optimistischen jungen Künstler zeigt sich im Film häufig mit Bildern von Mauern oder verschlossenen Türen, gegen die Billy zunächst buchstäblich prallt, und die nach und nach von sich öffnenden Wegen, Ausblicken und Billys ersten Reiseerfahrungen abgelöst werden.

Besonders eindrucksvoll ist die (evtl. typisch britische?) Mischung aus bitterstem Sozialdrama und geradezu klassischer Tragik auf der einen Seite und einem komischen Spektrum auf der anderen Seite, das von Slapstick und Klamauk bis zu anrührenden und tragikomischen Momenten reicht.

Andere britische Filme, die ich als Komödien mit Mischcharakter bezeichnen würde, die aber zum Teil (aus welchen Gründen auch immer) nicht denselben Erfolg hatten, sind beispielsweise Little Voice (1998), The Full Monty (1997) und Love Actually (2003). So unterschiedlich diese drei Filme im einzelnen auch sind, zeichnen sie sich doch durch eine Reihe gemeinsamer Elemente aus, die in der Tradition des britischen Kinos und der britischen Kultur eine wichtige Rolle spielen: Erstens spielen hier britische Schauspieler mit dezidiert britischer Diktion (sei es nun Oxford English oder nordenglischer Arbeiterslang), viele davon sind aus Heritage Filmen bekannt. Zweitens haben die Filme oftmals eine episodenhafte narrative Struktur; in jedem Fall aber eine tendentiell langsamere, „entschleunigte“ Erzählweise, die ohne allzu viele Spezialeffekte, Action und Stunts auskommt. Drittens gibt es britische Settings (ob Kleinstadt, Landschaft oder Metropole) und britische (Populär-)Kultur von Pubs, Karaoke und britischen Popmusik-Klassikern im Soundtrack bis hin zu Zentren politischer Macht und royalistischer Prachtentfaltung, die mal ironisch gebrochen, mal explizit schwärmerisch zur Schau gestellt werden. Viertens ist in wirklich sämtlichen Filmen ein extrem geschärftes Bewußtsein für das immer noch intakte britische Klassensystem spürbar – und mitunter auch ein Aufbegehren dagegen. Fünftens leben alle Filme von einer möglicherweise typisch britischen Komik, die von lakonischer Ironie bis zu schwarzem Humor reicht. Sechstens und letztens gibt es wieder das bereits erwähnte Nebeneinander von tragischen und komischen, sozialkritisch-realistischen und romantisch bis märchenhaften Elementen. Alles zusammen ergibt eine besondere Genremixtur, die sicherlich nicht einfach zu klassifizieren ist, als eben solche für mich aber „typisch britisch“ zu sein scheint.

Literatur:

  • Helbig, Jörg. Geschichte des britischen Films. Stuttgart: Metzler, 1999.
  • Higson, Andrew. “British Cinema.” The Oxford Guide to Film Studies. Ed. John Hill and Pamela Church Gibson. Oxford UP, 1998: 501-509.Hill, John. British Cinema in the 1980s: Issues and Themes. Oxford: Clarendon Press, 1999.Street, Sarah. British National Cinema. London and N.Y.: Routledge, 1997.

Statistische Angaben zu Einspielergebnissen u.ä. sind den entsprechenden Sites zum jeweiligen Filmtitel in der Filmdatenbank www.imdb.com entnommen.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. vgl. Helbig, S. 270 ff.
  2. vgl. Street, S.  46-59.
  3. vgl. Street, S. 79 f.
  4. vgl. Helbig, S. 276 ff.
  5. Street, S. 103
  6. vgl. Hill, S. 78
  7. vgl. Hill 73 ff.
  8. vgl. Street, S. 104 f.
  9. vgl. Hill 97 f.
  10. vgl. hierzu z.B. Hill, S. 78-82; Street, S. 103 f.
  11. vgl. Hill 84 ff.
  12. vgl. Hill, S. 79
  13. Eine wunderbare Sentenz zum Thema USA und Großbritannien spricht von „two nations, divided by a common language“.
  14. vgl. Street 111 f.
  15. vgl. Street, S. 110

Weber, Thomas: Das britisches Kino als postnationale Medienkultur, 21.06.06

Vorbemerkung

Eine Analyse der institutionellen und ökonomischen Strukturbedingungen des „britischen“ Kinos muss zunächst bei einer Frage ansetzen, die kaum hinreichend zu klären ist: was soll in einer zunehmend globalisierten Welt und insbesondere in einer international organisierten Filmindustrie überhaupt noch unter einem national­spezifischen Kino verstanden werden? International verbindliche Kriterien für die nationale Attribuierung eines Films fehlen; jedes Land und hier auch wiederum verschiedene Institutionen legen unterschiedliche Maßstäbe an, wenn sie einen Film einer bestimmten Nation zuschreiben.

Wenn hier dennoch mit nationalen Zuordnungen argumentiert wird, dann weil sie im Sinne der Cultural Studies wirtschaftliche und kulturelle Machtverhältnisse erkennen lassen. Wenn im folgenden insbesondere von amerikanischer Dominanz gesprochen wird, dann ist dies jedoch weniger als undifferenzierter Anti-Amerikanismus zu werten als vielmehr als kritische Anmerkung gegenüber bestimmten Verhaltensweisen der Europäer, die diese Dominanz begünstigen.

Der Boom der letzten Jahre

Ein erster Blick auf das „britische“ Kino beschert uns eine angenehme Überraschung. Offenbar ist es in den 90er Jahren in Großbritannien gelungen, einen regelrechten Kinoboom auszulösen. Filme wie Four Weddings and A Funeral, Notting Hill, The English Patient oder The Full Monty haben international ein großes Publikum gefunden und bieten eine breite Palette vom ART HOUSE – Film bis zum großen Multiplex-Melodram.

Auch die Zahlen scheinen für sich zu sprechen: Die Zuschauer gehen wieder ins Kino. Von ca. 54 Millionen Besuchen im Jahr 1984 stiegen die Besuchszahlen auf 167 Millionen im Jahr 2003. Und die Anzahl der Kinoleinwände erhöhte sich von 1559 im Jahr 1989 auf 2954 im Jahr 2000, wovon allerdings mit 1660 mehr als die Hälfte zu Multiplex-Kinos gehörte (siehe Jäckel 2003, 123). Auch die Anzahl der produzierten Spielfilme stieg von 30 im Jahr 1989 auf 90 im Jahr 2000 (siehe Jäckel 2003). Kurzum, man hat es auf den ersten Blick innerhalb einer guten Dekade mit einer Verdreifachung von Produktion und Umsatz zu tun.

Doch ist die jüngere Geschichte des britischen Kinos wirklich eine Erfolgsstory?

Schon bei Helbig, der die bisher einzige, deutschsprachige Geschichte des britischen Kinos vorlegte, deuten sich Zweifel an, wenn er schreibt: „In den 90er Jahren erfuhr die britische Filmindustrie eine überwiegend positive Entwicklung. Der vielbeschworene Niedergang des Kinos oder gar dessen Verdrängung durch andere Zweige der Unterhaltungsindustrie ist nicht eingetreten.“ (Helbig 1999, 298)

Tatsächlich ist eine differenzierte Betrachtung angebracht, die nicht allein nur konjunkturelle Schwankungen visiert, wie sie die britische Filmindustrie immer wieder erlebte, sondern eine, die die strukturellen Bedingungen des britischen Kinos zum Vorschein bringt. Performance­schwankungen lassen sich in der Tat kaum durch mangelnde künstlerische Ambitionen oder Talente erklären und auch der Hinweis auf die offensichtliche Übermacht Hollywoods hätte kaum Erkenntniswert, wenn nicht auch deutlich würde, was dies eigentlich bedeutet.

Zum Strukturwandel der europäischen Filmindustrien

Zunächst fällt auf, dass alle europäischen Filmindustrien seit den 80er Jahren einen tiefgreifenden Strukturwandel durchlaufen haben, der vor allem durch folgende Faktoren geprägt ist:

  1. Die folgende Grafik zeigt recht eindringlich einen Ihnen in groben Zügen sicher vertrauten Prozess: das Schrumpfen des Kinomarktes in den letzten 50 Jahren. Wenn Sie sich die Kurven für die europäischen Filmmärkte anschauen, dann sehen sie – etwa für Deutschland – zwei charakteristische Rückgänge der Zuschauerzahlen: 1) In den 60er Jahren muss von rund 7000 Kinos etwa die Hälfte schließen, Grund bekannt: das Fernsehen. 2) In den 80er Jahren kommt es zu einem weiteren Einbruch. Dieser ist schon schwerer zu interpretieren: Mögliche Gründe sind die Priva­tisierung der staatlichen Fernsehsysteme oder eine veränderte Strategie der US-Majors (also der großen Filmproduktions- und –verleihgesellschaften wie z.B. Paramount, Disney bzw. Buena Vista etc). Fakt ist jedenfalls, dass für die Finanzierung der Filme ein insgesamt deutlich zurückgegangener Anteil an Zuschauern zur Verfügung steht

  2. Die Verwertungskette des Films verlängert sich, d.h. die Auswertung eines Films erfolgt nicht mehr allein nur im Kino, sondern im Idealfall bereits auf dem Buchmarkt, dann als Kinofilm, anschließend im PAY TV, danach in einem offenen Kanal und schließlich auf Video bzw. DVD. Das Kino reicht als Amortisations­basis ebenso wenig aus, wie der Markt eines einzigen europäischen Landes. Daher werden Fernseh- und DVD- Rechte schon vorab möglichst in zahlreiche Länder verkauft und die Erlöse fließen implizit schon in die Finanzierung der aktuellen Produktion mit ein. Das Kino ist häufig nur noch das Schaufenster, das die öffentliche Aufmerksamkeit bringt, Geld wird an anderer Stelle mit dem Film verdient.

  3. Das US-Kino besitzt auf allen europäischen Märkten einen mehr oder weniger starken, immer aber dominanten Marktanteil, der je nach Land zwischen 60 Prozent (Frankreich) und knapp 90 Prozent (Deutschland) schwankt.

  4. Die Europäer versuchen, den amerikanischen Einfluss einzuschränken und haben eine Fülle von staatlichen Schutzmaßnahmen etabliert, die von einer gesetzlich vorgeschriebenen Quotierung für Fernsehsendungen bis hin zu verschiedenen Formen der direkten Subventionierung reichen. Über den Erfolg kann gestritten werden, denn:

  5. Auch die US-Majors verfolgen seit den 80er Jahren eine Strategie, die die gerade erwähnten Maßnahmen zum Teil wirkungslos werden lässt. Dazu gehört:

a.die Erhöhung der Produktionsbudgets, mit denen die technischen Standards der Produktion nach oben geschraubt werden (Special Effects, Post-Production, Sound etc. etc.) und Filme entstehen lassen, die für ihre optimale Rezeption entsprechend ausgestattete Multiplex-Kinos benötigen.

b.die Erhöhung der Marketing-Budgets: Von einem durchschnittlichen US-Film fließen inzwischen knapp 30% des Gesamtbudgets ins Marketing. D.h. von einer im Durchschnitt 76 Mio. US$ teuren Produktion, stehen 21 Mio. US$ für das Marketing zur Verfügung (siehe Jäckel 2003, 43). Zum Vergleich: In Europa kostet ein durchschnittlicher Film je nach Land zwischen 3 – 8 Mio. EUR, wovon häufig nur ca. 10% für das Marketing abgezweigt werden können.

c.die Anzahl der (nur teuer zu ziehenden) Kopien stieg in den 90er Jahren exponentiell an und damit auch die Marketingkosten. Ziel dieser Strategie ist es, den Film in möglichst kurzer Zeit in möglichst vielen Kinos auszuwerten; entsprechend werden auch andere Marketing-Mittel konzentriert, um das Publikum auf den Filmstart einzustimmen. Zudem wird mit dieser Strategie jene Konkurrenz marginalisiert, die nicht über die gleichen Kapitalreserven verfügt. Nicht mehr die Qualität der Produktion ist für den Erfolg entscheidend, sondern die zur Verfügung stehenden Ausgangsbudgets.

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Abb.1: Entwicklung der Zuschauerzahlen in Mio. pro Jahr in den wichtigsten industrialisierten Ländern

Zur neueren Geschichte des britischen Kinos

Das britische Kino war in den 70er Jahren schon einmal in einer strukturellen Krise, in der einige Kritiker schon durch die Ausweitung des Fernsehsystems um weitere Kanäle ein rasches Ende der Kinokultur prophezeiten. „Die Zahl der britischen Kinos nimmt weiter ab Studios werden geschlossen. Viele der Tausende von Kinotechnikern sind arbeitslos. Die Mittel für die Herstellung neuer Filme zu finden, ist nicht das einzige, aber das Hauptproblem.“ (NZZ, 12.01.1974)

Doch die Befürchtungen erwiesen sich als übertrieben. Auf der Suche nach sendefähigen Formaten, mit denen sich ein Publikum vor dem Fernsehschirm versammeln und d.h. für die Werbewirtschaft nutzbar machen ließ, erwiesen sich gerade Kinofilme als probates Mittel. Und die für die Sender günstigste Methode, an den begehrten Stoff heranzukommen, war die Beteiligung an der Produktion.

Die oben beschriebene Verlängerung der Auswertungskette wirkte sich unter den gegebenen Umständen nicht nur negativ auf die Filmindustrie aus, sondern etablierte eine neue Form der Filmfinanzierung, die die Kinoproduktion sogar stabilisierte. Durch die Einbeziehung der Fernseh- (und später Video- bzw. DVD-) Auswertung in die Produktionsplanung konnten neue Geldquellen erschlossen werden, die die Produktion auch etwas unabhängiger machte von einem unmittelbaren Erfolg an der Kinokasse. Als Ko-Produzenten beteiligen sich praktisch alle britischen Fernsehsender, insbesondere aber Channel 4.

Der 1982 gegründete Sender hatte zunächst ein in Europa einmaliges Statut. Obwohl als staatliche Fernsehanstalt organisiert, finanzierte sie sich durch das Anrecht auf 14% der Werbeeinnahmen, die bislang von dem privaten Senderverbund ITV allein vereinnahmt worden waren. Damit war nicht nur die Finanzierung gesichert, sondern auch eine gewisse Unabhängigkeit von konkreten Einschaltquoten, da Channel 4 nicht direkt mit Werbekunden verhandeln musste.

Auch wenn Channel 4 sicher nicht mit einem Kultursender wie ARTE zu vergleichen ist und auch von der Größe her nicht mit einem Sender wie etwa Canal Plus in Frankreich, ist doch hervorzuheben, dass allein von 1982 bis 1987 rund 100 Kinofilme von Channel 4 koproduziert wurden und er sich damit als wichtigster britischer Fernsehkanal etablierte, der in die Kinoproduktion investiert. Zwar übernimmt Channel 4 meist nur einen Teil der Produktionskosten – der andere Teil wird von anderen, meist ausländischen und insbesondere amerikanischen Produktionsgesellschaften getragen – doch kann der Erfolg sich durchaus sehen lassen; es finden sich darunter Filme wie Wetherby, A Room with a View, Prick up your Ears, Dance with a Stranger, Wish you were here, A Month in the Country, Mona Lisa, Letter to Breshnev oder The Draughtmans Contract. (Vgl. Waser, Georges: NZZ 04.08.1988) Auch wenn nach einer Statut-Änderung seit 1993 Channel 4 sich selbst um die Vermarktung der Werbezeiten kümmern muss, führte dies nicht zu einem damals befürchteten wesentlichen Rückgang der Investitionen in Kino-Filme.

Kritiker beklagten zwar den Einzug von Fernsehdramaturgien ins Kino (vgl. Wegener, Horst E.: Tagesspiegel, 10.07.1987), doch konnte man dieser Strategie die Achtungserfolge kaum absprechen, denen es jedoch nicht gelang, den allgemeinen Abwärtstrend zu stoppen. Die Zuschauerzahlen sanken rapide, ähnlich fast wie in den 70er Jahren. Und der Staat zog sich unter der Torie-Regierung schrittweise aus der Filmförderung zurück.

Die ‚NFFC’ wurde aufgelöst und die Nachfolge-Bank ‚British Screen’ privatisiert und von vier privaten Gesellschaften getragen: Rank, Cannon, Channel 4 und Granada. Die 1979 eingeführten Steuervorteile für Filminvestitionen, die die Renaissance des britischen Kinos mitinitiierten, wurden 1986 abgeschafft. „Nebenbei kappte die Regentin“, wie Thomas Langhoff anmerkte, „noch den 12,5 prozentigen Aufschlag auf die Kinotickets“, von denen 10 Millionen Mark jährlich von den Kinobesitzern in die Produktion geschleust wurden (Langhoff, Thomas: taz, 12.12.1991).

British Screen gibt nur 25% der Finanzierung dazu unter der Kondition, dass mindestens ebensoviel Mittel privat aufgebracht werden. Die direkten staatlichen Mittel via BFI sind sehr bescheiden, nur ca. 450.000 Pfund per anno stehen in den 80er Jahren für künstlerisch besonders wertvolle oder auch experimentelle Filme zur Verfügung.

Hinzukommen lediglich noch jene Gelder, die aus EU-Programmen stammen wie Eurimage (oder später Media) -aus denen die Torie-Regierung auch noch erwog, sich zurückzuziehen -, obwohl diese insgesamt in ganz Europa jedoch kaum an die Subventionen für die europäischen Tabakbauern heranreichen.

Das Ergebnis war ernüchternd: die Zahl der Zuschauer erreichte 1984 mit rund 54 Mio. Eintritten einen Tiefpunkt. 1986 sackte die Zahl der produzierten Spielfilme auf unter 40, 1992 wurden wahrscheinlich nicht einmal mehr 30 Spielfilme gedreht. Der Kritiker H.G. Pflaum stellte 1993 lakonisch in der Süddeutschen Zeitung fest: „Großbritannien hat praktisch aufgehört, Kinofilme zu produzieren.“ (Pflaum, H.G.: SZ, 09.03.1993). Schon wenige Jahre zuvor konstatierte der Regisseur Stephen Frears: „Es gibt kein British Cinema. Es existiert nicht, es ist weg“. (Zitiert nach Fischer, Nina: Tagesspiegel, 28.12.1998)

Der Niedergang der heimischen Produktion musste um so deprimierender auf die britischen Filmemacher wirken, je mehr sie mit ansehen mussten, dass die Zuschauerzahlen seit Ende der 80er Jahre ebenso wieder anstiegen wie die Anzahl der Kinos. Doch ganz offensichtlich kam dies dem britischen Film nicht zu Gute. Das Publikum schaute sich lieber in den neu gebauten Multiplex-Kinos amerikanische Filme an.

Die Situation war derart dramatisch, dass sogar die konservative Torie-Regierung über einen Kurswechsel in ihrer bisherigen Filmpolitik nachdachte und Gegenmaßnahmen einleitete. Hiervon profitierte freilich erst die Labour-Regierung, die Mitte der 90er Jahre ernten konnten, was die Vorgänger gesät hatten.

Der Umschwung wurde rein äußerlich von einem Film markiert, der von diesen Maßnahmen noch gar nicht profitierte, sich aber als kleine Channel 4–Produktion als Glückstreffer erwies: Four Weddings and A Funeral.

Der Film wurde deswegen so erfolgreich, weil er sowohl in Nordamerika als auch Europa sein Publikum fand und damit eine extrem hohe Gewinnspanne aufwies.

In Großbritannien entschloss sich der Staat in den 90er Jahren wieder zu intervenieren. Das Budget von 450.000 Pfund per anno des BFI für Filmproduktionen wurde verdreifacht, ein Steuerabschreibungsmodell wurde wieder eingeführt und zudem servierte man noch ein ganz besonderes Bonbon:

Abb. 2: Chris Smith, Britischer Kulturminister

Chris Smith, damaliger Kulturminister, hatte das Vergnügen, den Beschluss umsetzen zu dürfen, dass ab 1997 92 Mio. britische Pfund (verteilt auf sechs Jahre), d.h. ein Teil der britischen Lotterie-Einnahmen, an die Filmindustrie ausgeschüttet werden sollte. Zunächst oblag diese Aufgabe dem Art Council, doch schon bald richtete man dafür eine eigene organisatorische Einheit ein: den British Film Council.

Seither schien es aufwärts zu gehen mit der britischen Filmindustrie.

Die Lottomillionen wurden drei Firmenkonsortien gegeben, die sich zusammengetan hatten mit der Verpflichtung, in den Folgejahren jeweils ca. 30 – 40 Filme zu produzieren: Pathé Productions (bestehend aus Pathé Films, Murdochs Satellitensender BSKyB, einer Investmentbank und der Produktionsfirma von Mike Leigh), The Film Consortium (u.a. zusammengesetzt aus der Virgin-Kinokette und vier britischen Produktionsfirmen, die u.a. auch Filme von Ken Loach und Neil Jordan produzieren) und DNA Film.

Doch die Konsortien ließen sich Zeit. Und da ihnen das Geld sicher war, wurde es nicht immer effizient eingesetzt.

Von den 103 im Jahr 1999 gedrehten britischen Filmen hat es knapp zwei Jahre später nicht einmal die Hälfte auf die Kinoleinwand geschafft. Dies lag zum einen vielleicht daran, dass durch die finanzielle Eigenständigkeit auch ungewöhnliche, mutige Filme entstanden sind, die in das in Großbritannien von den US-Majors dominierte Verleih- und Vertriebssystem nicht hineinpassten. Zum anderen steht zu befürchten, wie der Kritiker Georges Waser zu bedenken gab, dass die Regierung Blair mit den Lottomillionen „ein ganzes Heer von Leuten ohne jegliches Talent zum Filmemachen ermuntert“ hat. (Waser, Georges: NZZ, 28.03.2002)

Doch es sollten hier nicht nur die negativen Folgen geschildert werden. Von den Subventionen profitierten durchaus auch unabhängige, britische Filmemacher, die interessante, ungewöhnliche Filme drehten, häufig zu sozialen Problemen wie etwa Trainspotting oder mit komplexen Dramaturgien, die sich für ein amerikanisches Publikum kaum eignen wie etwa Billy Elliot oder auch verstärkt rein europäische Ko-Produktionen wie etwa der deutsch-britische Film Bend it like Beckham. Das unabhängige Kino, das im Hinblick auf die Marktanteile zwar nur eine Nischenposition besetzt und häufig inGroßbritannien gar nicht in die von den Amerikanern dominierten Verleih und Kinos gelangt, erwies sich jedoch in den letzten Jahren als stabilisierender Faktor der britischen Filmindustrie und verringerte die Abhängigkeit zumindest geringfügig dadurch, das sich ein Tor nach Europa öffnete. Davon profitieren letzthin auch kommerziellere Produktionen wie etwa in jüngster Zeit die Jane Austen-Verfilmung Pride and Prejudice (Stolz und Vorurteil), bei der die Einnahmen auf den europäischen Märkten erstmals die in Nordamerika übertrafen.

Dieses Tor könnte sich allerdings aus zwei Gründen wieder schließen: Zum einen, weil es nicht genügend qualifizierten Nachwuchs gibt. Zwar unterhält Großbritannien verschiedene Filmhochschulen und insbesondere die traditionsreiche National Film and Television School, doch die qualifiziertesten Absolventen ziehen es vor, sich entweder gleich auf das leichter zu finanzierende Fernsehen zu konzentrieren oder in die USA auszuwandern, wo sie für ihre Arbeit besser bezahlt werden. Selbst ein Stephen Frears ging in die USA, weil er dort seinen Film Gefährliche Liebschaften leichter finanzieren konnte, zog sich dann aber an die oben genannte Filmhochschule als Dozent zurück. Nicht alle haben das Durchhaltevermögen z.B. eines Terence Davies, der nach seinem gelungenen Film Distant Voices Still Lives Jahre brauchte, um seinen nächsten Film The Long Day Closes zu finanzieren.

Amerikanische Dominanz

Doch haben die Independence Ansätze überhaupt eine Chance gegenüber der amerikanischen Konkurrenz bzw. welches Ausmaß hat eigentlich die amerikanische Dominanz? Man kann dies an vier Punkten festmachen:

  1. Zunächst einmal bedeutet amerikanische Dominanz, dass die US-Majors mit hren Produktionen den Löwenanteil der Zuschauer für sich gewinnen können, d.h. sie verfügen regelmäßig seit Jahrzehnten über einen Marktanteil von ca. 80% in Großbritannien. Dies betrifft nicht allein nur die großen Multiplex-Ketten, sondern eben auch unabhängige Abspielstätten. Der britische Film hat auf dem heimischen Markt nur einen Anteil von durchschnittlich ca. 10 – 15% (vgl. Jäckel 2003, 69), andere europäische Filme spielen nur eine untergeordnete, zu vernachlässigende Rolle.

  2. Die Vertriebsstrukturen sind in Großbritannien ein besonderer Schwachpunkt. Traditionell wird der Markt aufgeteilt zwischen den Kinokettenbetreibern Rank und Cannon, in die sich inzwischen aber auch US-Majors eingekauft haben, so sie nicht eigene Vertriebsstrukturen unterhalten. Außerhalb dieser Ketten gibt es kaum unabhängige Kinos, in London nur eine handvoll und außerhalb von London ca. 35 regionale Kinos (siehe Wetzel, Kraft: FAZ, 11.01.1997). Selbst Universitätskinos sind durchaus als alternative Abspielstätten begehrt. So verwundert es nicht, wenn kaum Gelder aus den Kinoeintritten im Land verbleiben. H.G. Pflaum bemerkt dazu: „1991 waren zwar noch 16,5 Prozent aller im Inland aufgeführten Filme mit britischer Beteiligung (in welcher Höhe auch immer) entstanden, dann aber nur mit sechs Prozent am Kino-Einspiel beteiligt.“ (Pflaum, H.G.: SZ, 09.03.1993)

  3. Großbritannien ist weithin bekannt für den hohen Qualitätsstandard seiner Filmindustrie und für eine ganze Reihe traditionsreicher Filmstudios wie z.B. die in Pinewood. Immer wieder entstanden und entstehen in England auch internationale Superproduktionen, angefangen bei James Bond bis hin zu Star Wars. Doch ohne amerikanische Produktionen, die lieber in Großbritannien drehen, weil es durch den Wechselkurs oder fehlende gewerkschaftliche Bestimmungen billiger für sie als in den USA zu drehen, wären die Studios kaum ausgelastet und könntet allein nur mit britischen Filmen nicht kostendeckend arbeiten. Georges Waser merkt dazu an: „Die britische Filmindustrie ist weniger das Rückgrat der landeseigenen Produktion als vielmehr Gastgeberin für ausländische Filmemacher.“ (Waser, Georges: NZZ, 28.03.2002)

  4. Doch die Gäste aus Übersee drehen nicht nur gerne immer mal wieder in britischen Filmstudios, auch sonst investiert man großzügig in Filme, d.h. genauer gesagt, ist man oft genug der Mehrheitsfinanzier. Oder um es in Zahlen auszudrücken: Der Grad der Gesamtinvestitionen von ausländischen und d.h. vor allem amerikanischen Geldgebern in die britische Filmindustrie beträgt rund 80%. Durch die Lottosubventionen und durch die Ausweitung von Koproduktionen mit europäischen Partnern ist es kurzfristig immer mal wieder gelungen, diese Quote auf 60% zu senken. Doch reicht dies bei weitem nicht, um sich aus der Abhängigkeit zu befreien. In Großbritannien ist man insofern den konjunkturellen Launen der US-Majors viel unmittelbarer ausgesetzt als in Kontinentaleuropa. Steigt der Kurs des britischen Pfunds gegenüber dem US-Dollar, ziehen die US-Majors weiter nach dem dann billigeren Australien bzw. Neuseeland und produzieren die nächste Star Wars Episode eben dort, wie Ende der 90er Jahre geschehen. So schnell, wie sie sich in der britischen Filmindustrie engagieren, sobald Gewinne locken und durch Steuersparmodelle auch in die USA transferierbar bleiben, so schnell werden Investitionen auch wieder abgezogen, wenn Erfolge ausbleiben. Fakt ist, berichtet Angus Finney, dass mehr als 80 Prozent der jährlichen Einspielergebnisse in den USA verschwinden. (Finney, Angus: FR, 24.11.1995) Das britische Kino hat trotz steigender Zuschauerzahlen kaum etwas von dem Boom. „Sobald britische Filme Erfolg haben, stellen sich die Amerikaner als Finanzgeber ein – einige Jahre später besinnen sie sich dann und ziehen bei Flaute sofort ab – es folgt für die abhängige Industrie der Zusammenbruch.“ (Waser, Georges: NZZ, 22.01.1999)

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Abb.3: Marktanteil von US-Filmen

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Abb.4: Marktanteile von heimischen Filmen auf den jeweiligen europäischen Märkten

Die Konsequenzen sind schlagend: Man stelle sich ein Würfelspiel vor, bei dem der gewinnt, dessen Würfel die höchste Punktzahl zeigt. Während die englische Filmindustrie mit einem einzigen Würfel auskommen muss, hat die amerikanische mindestens 6 Würfel, die sie zeitgleich ausspielen und sich zudem noch den mit der höchsten Punktzahl aussuchen darf. Oder anders gesagt: Es stellt sich nicht die Frage, ob es hin und wieder mal einen gelungenen britischen Film geben wird, der aus eigener Kraft finanziert sein Publikum findet und den die Kritik lobt, sondern ob es gelingt, diesen Erfolg in eine Struktur umzusetzen, die ihn wiederholbar macht.

Was sind überhaupt britische Filme?

Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt noch von britischen Filmen sprechen?

Folgt man den Statistiken des BFI dann hat es offenbar nie eine Krise des britischen Kinos gegeben, wie eine wahrhafte Flut britischer Filme in den letzten 25 Jahren zu zeigen scheint. Doch wenn plötzlich auch Filme wie z.B. Top Gun, Blade Runner oder Alien in der Auflistung stehen, und lediglich bei Star Wars in einer Fußnote die englische Beteiligung eingeschränkt wird, stellt sich erneut die Frage, nach welchen Kriterien eine nationale Zuschreibung überhaupt erfolgt, denn die eingangs erwähnten Konventionen werden hier offenbar sehr großzügig ausgelegt. Und eine sprachliche Differenz zur US-Konkurrenz kann – anders als bei den meisten anderen europäischen Filmindustrien – auch kaum als Kriterium dienen.

Ohne hier eine abschließende Antwort geben zu können, sei doch angemerkt, dass gerade weiche, d.h. inhaltliche, aus der Literaturgeschichte abgeleitete Attribuierungsmodelle sich unter Umständen als trügerisch erweisen. Aus einer ökonomisch-institutionellen Perspektive sei hier nur auf einige mögliche Widersprüche hingewiesen:

Betrachtet man den Produktions- und Rezeptionshintergrund von Filmen, die als typisch britisch gelten, die sich durch ihre „Britishness“ geradezu auszuzeichnen scheinen, also Filme wie Der Kontrakt des Zeichners, Die Stunde des Siegers oder Local Hero, dann fällt auf, dass gerade sie vor allem im Hinblick auf ein us-amerikanisches Publikum produziert und häufig auch gleich mit us-amerikanischem Geld finanziert wurden. In Local Hero wurde zudem auch gleich noch der Blick des Amerikaners mit in die Filmhandlung aufgenommen. Kraft Wetzel schrieb 1983 in der FAZ: „Ein US-Kino-Erfolg wird freilich der bisherigen Erfahrung nach nur den Filmen beschieden sein, für die der englische Kritiker Simon Blanchard (…) die Formel ‚cine-tourism’ prägte: Filme, die Großbritannien mit den Augen eines an Postkarten und Schnappschüssen geschulten Touristen zeigen, die die landschaftliche, architektonische, auch die soziale Schokoladenseite von ‚good old England’ präsentieren.“ Diese Formel gilt selbst noch für Filme, an deren Finanzierung sich die Amerikaner nicht beteiligt haben, die aber von vorneherein für einen amerikanischen Geschmack hergestellt werden und dem amerikanischen Publikum letzthin ihren Erfolg verdanken. Man denke hier nicht zuletzt an einen Film wie den bereits erwähnten Four Weddings and a Funeral, der mit 16 Drehbuchfassungen im Vorfeld derart weichgespült wurde, dass er noch bruchlos in Wisconsin oder Texas konsumiert werden konnte.

Dies gilt gerade auch für die so genannten Heritage-Filme, die häufig das literarische oder historische Erbe des Königreichs für die Leinwand aufbereiten, und die bevorzugt von amerikanischen Majors finanziert bzw. meist mit amerikanischem Mehrheitsanteil ko-produziert werden wie z.B. Shakespeare in Love, Jane Eyre, Richard III. (mit Kenneth Branagh) und insbesondere auch der Oscar prämierte, von Miramax produzierte The English Patient, von dem selbst noch die Einnahmen in den britischen Kinos dank der speziellen Verleihpolitik der US-Majors zu 80% nach Amerika wanderten.

Ko-Produktionen erweisen sich dabei als probates Mittel, um überhaupt noch mit einem britischen Signet werben zu können, wie etwa bei Mary Shelley’s Frankenstein (Columbia, 1994), The Madness of King George (1995), Mary Reilly, (1996), The Full Monty (Fox, 1997), Notting Hill (Universal, 1999), Chicken Run (2000), Bridget Jones (UIP, 2001), Harry Potter and the Chamber of Secrets (Warner Bros., 2001) oder auch den James-Bond-Filmen.

Die Abhängigkeit des britischen Films von fremden, und vor allem US-Kapital wird deutlich, wenn man sich einmal die Top Listen des Box Office anschaut, die vor allem die ökonomischen Größenverhältnisse widerspiegelt: grob geschätzt entfallen 80% der Einnahmen auf die ersten 20 Filme, davon 80% auf die ersten fünf Filme.

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Abb.5: Top Ten UK Filme in UK

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Abb.6: Top Ten Filme in UK

Unter den All Time besten UK-Filmen, die je in UK liefen, gibt es keinen einzigen unter den ersten 10, der nicht von den USA ko-finanziert worden wären! Und unter den All Time besten Listen aller Filme, die je in UK liefen, gibt es unter den besten 20 seit 1993 nur wenige britische Filme, die es ohne fremdes Geld geschafft hätten wie z.B.:

Much Ado About Nothing (1993), Four Weddings and a Funeral (1994), Bean (1997), Lock Stock & Smoking Barrels (1998), East is East (1999) – um nur einige zu nennen – sowie Billy Elliot (2000).

Von diesen Filmen sind die meisten Komödien, vom Fernsehen, d.h. Channel 4 ko-produziert oder beides.

So gesehen hat die so genannte Erfolgsgeschichte des britischen Kinos einen bitteren Nachgeschmack: Zwar „verzeichneten Grossbritanniens Kinos im Jahr 2000 die höchste Besucherzahl seit 1972“ – wie Georges Waser anmerkt – „doch nur einer unter den zehn populärsten Filmen, nämlich ‚Billy Elliot’, war eine britische Produktion.“ (Waser, Georges, NZZ, 28.03.2002)

Globalisierung als Politikum

Die beschriebene Abhängigkeit hat freilich auch politische Konsequenzen. Dass die Europäer überhaupt fortfahren können, ihre heimischen Filmindustrien mit staatlichen Subventionen zu unterstützen, ist keineswegs sicher und gerade in den letzten 15 Jahren zu einem heiß umstrittenen Politikum geworden.

Globalisierung heißt übersetzt auf die europäischen Medienindustrien nichts anderes, als sich verschärft der us-amerikanischen Konkurrenz zu stellen. Hier kollidieren zwei recht unterschiedliche Auffassungen über den Status von Film, der in Europa eher als Kulturgut, in den USA eher als Ware bzw. Dienstleistung interpretiert wird.

Als 1993 die so genannte Uruguay-Runde der GATT- (bzw. später WTO genannten) Verhandlungen anstand, prallten diese Vorstellungswelten recht ungebremst aufeinander. Die USA schlugen vor, die Filmindustrie im Paket mit dem Dienstleistungssektor zu verhandeln, also einem Bereich, in dem es vor allem um Handel, Banken und Versicherungen geht.

Unbehagen darüber, dass die deutsche Position zur Kultur- und übrigens auch längerfristig Bildungspolitik in weiten Teilen von Unternehmen wie der Allianz, der Münchner Rück oder der Deutschen Bank bestimmt wird, kam hierzulande nur in geringem Maße auf, nicht zuletzt deswegen, weil das Thema wenig tauglich war für die Massenpresse und auch akademisch gebildete Kreise aus dem Kulturbereich Berührungsängste zur Wirtschaftspolitik zeigen. Hätten sich die Amerikaner mit ihren Vorstellungen durchgesetzt, dann wären nach Schätzungen von Carlos Pardo in LeMonde diplomatique innerhalb weniger Jahre etwa 1,8 Mio. Arbeitsplätze in der europäischen Medienindustrie verloren gegangen. Das konnte damals abgewandt werden durch die ungewöhnlich scharfe Intervention des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand, der trotz des Drucks der französischen Bauern, eine „exception culturelle“ erwirkte, die zunächst für 10 Jahre gelten sollte.

Danach sollten die Europäer, so die amerikanischen Vorstellungen, einfach eine Liste mit schützenswerten Kulturgütern aufstellen wie z.B. Museen und Theatern, die im Rahmen der Exception Culturelle weiterhin mit Subventionen bedacht werden könnten – so eine Art europäisches Kulturreservat. Doch was wäre im Fall von Neugründungen geschehen, die nicht auf der Liste vermerkt waren, oder Universitäten, deren staatliche Alimentierung in den USA ebenso wenig selbstverständlich ist wie die der Filmindustrie?

Zu einer endgültigen Klärung dieser Streitfragen ist es nicht gekommen. Die nächste Runde 1998 in Seattle klammerte diese Frage aus wegen massiver Proteste vor Ort und einem Streit über Agrarsubventionen. 2003 in Doha (Katar) vertagte man das Problem der Klärung des Kulturbegriffs auf die UNESCO, die tatsächlich vor kurzem, d.h. im Herbst 2005 eine recht weitgehende Richtungsentscheidung traf:

Mit nur zwei Gegenstimmen (von den USA und Israel) einigte man sich auf eine Resolution, die die kulturelle und mediale Vielfalt unter besonderen Schutz stellt. (Ausführliche Erläuterungen dazu siehe auch Mattelart 2005)

Der Ausgang der Verhandlungen in der UNESCO lässt immerhin hoffen, dass sich die Europäer endlich zu einem Kino bekennen, das nicht nur die Erfolgsrezepte der Amerikaner kopiert, sondern Mut zu eigenwilligen Geschichten hat, und sich Europa auf eine Politik verständigt, die für seine Entfaltung auch die notwendigen Strukturbedingungen schafft.

Literaturliste

Helbig, Jörg: Geschichte des britischen Films. Stuttgart 1999 (Metzler)

Jäckel, Anne: European Film Industries. London 2003 (BFI)

Weber, Thomas: „Kino in Frankreich. Zum Strukturwandel der achtziger und neunziger Jahre“, in: Weber, Thomas/ Wollendorf, Stefan (Hrsg.): Wegweiser durch die französische Medienlandschaft, Marburg 2001, S. 125-150

Creton, Laurent: Cinema et Marché, Paris 1997

Presseliste

NZZ, 12.01.1974

FAZ, 11.01.1977

Waser, Georges, NZZ, 19.06.1980

Wetzel, Kraft, FAZ, 03.12.1983

Wegener, Horst E., Tagesspiegel, 10.07.1987

Waser, Georges, NZZ, 04.08.1988

Taz, 18.12.1988

Langhoff, Thomas, taz, 12.12.1991

Pflaum, H.G., SZ, 09.03.1993

Finney, Angus, FR, 24.11.95

Schönfeld, Carl-Erdmann, SZ, 01.08.1996

Schönfeld, Carl-Erdmann, Freitag, 09.08.1996

Wetzel, Kraft: FAZ, 11.01.1997

Howald, Stefan, FR, 21.05.1997

Pardo, Carlos, „Cinquanteinaire du Festival de Cannes. Grande détresse pour le film européen“, http://www.monde-diplomatique.fr, Mai 1997

Fischer, Nina, Tagesspiegel, 28.12.1998

Waser, Georges, NZZ, 22.01.99

Waser, Georges, NZZ, 06.04.01

FAZ, 14.01.02

Waser, Georges, NZZ, 28.03.02

Mattelart, Armand, „Kampf der Kulturen“, in LeMonde diplomatique, Oktober 2005, S. 16/17

Internetquellen

ECA Newsletter 1/2003, http://www.literaturhaus.at/headlines/eca, 12.12.2005

Hamann, Götz, „Die Kultur schlägt zurück“, in DIE ZEIT, 44/2005, http://www.zeus.zeit.de/text/2005/44/kultur-hoheit; 12.12.2005

Weber, Thomas: „Das französische Kino der 80er und 90er Jahre“, in: https://magazin.avinus.eu/html/kino_in_frankreich.html, 18.02.05

Wichtige Begriffe

NFFC: National Film Finance Corporation (Aktivitäten geregelt durch Sondergesetz, die Cinematograph Film Production Acts (1949 – 1975)

British Screen Finance Consortium (kurz: British Screen) (seit 1985 Nachfolger von NFFC); erhält 1,5 Mio Pfund von der brit. Regierung, 1,1 Mio von privaten Partnern wie Rank und Cannon, Channel 4 und Granada. Durchschnittlich werden 25% der Produktionskosten übernommen, wenn private Einlagen in gleicher Höhe aufgebracht werden. 1993 erhielt die Einrichtung 2 Mio. Pfund. Weitere 2 Mio. Pfund werden via British Screen für den europäischen Coproductions-Fonds zur Verfügung gestellt. Filme, die unterstützt wurden waren z.B. Land and Freedom, Before the Rain, The Crying Game, Orlando, Tom and Viv.

BFI: British Film Institut. Fördert den Film als Vermittlungsmöglichkeit von Gegenwartskultur und –problemen und pflegt den künstlerischen Film. Das BFI hat einen Zuschuss von 450.000 Pfund p. a. Ab 1995 Budget von 450.000 Pfund pro Film für drei Filme p. a.

National Film and Television

School in Borehamwood

Channel 4: 1982 gegründeter staatlicher TV-Sender, der sich durch Werbeeinnahmen finanziert und sich kontinuierlich an der Finanzierung britischer Produktionen beteiligte wie z.B. The Draughtman’s Contract (1982), My Beautiful Laundrette (1985), Mona Lisa (1986); King George (1994), Secrets and Lies (1996)

Art Council später Film Council soll Verteilung der Lottogelder überwachen sowie das BFI und die BFC (British Film Commission)

Pinewood, eines der bekanntesten Studios, gegründet 1935 in Hertfordshire nördlich von London von Joseph Rank, einem überzeugten Methodisten (der das Medium zur Verbreitung des Evangeliums nutzen wollte).

US-Majors: Große amerikanische Filmfirmen wie Disney bzw. Buena Vista, Paramount, Warner bros. etc., die meist nicht nur die Produktion, sondern auch Verleih und Vertrieb organisieren.

Box Office – Offizielle Statistik von Eintrittszahlen und Einnahmen

IMDB – International Movie Data Base – frei zugängliche Internet-Datenbank zum Thema Film

Der Beitrag wurde erstmals publiziert von der Deutschen Gesellschaft für das Studium britischer Kulturen unter: http://www.britcult.de/Weber,%20Britisches%20Kino.pdf