Brocchi, Davide: Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit, 26.01.08

Viele Menschen wissen nicht einmal, was Nachhaltigkeit ist. Wie will man denn Letztere unter diesen Umständen durchsetzen? In diesem Essay präsentiert Nachhaltigkeits-Experte Davide Brocchi Hintergründe und Strategien eines durchführbaren Projekts: die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit.

Das zentrale Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist die friedliche, gerechte Überwindung einer globalen Krise. Sozioökonomische Polarisierung, Terrorismus, Migrationsströme, Energie- und Wasserknappheit, Zunahme der Weltbevölkerung, Abnahme der biologischen Vielfalt sowie Klimawandel sind Aspekte dieser Krise. Die Nachhaltigkeit ist heute keine Option mehr, sondern eine existenzielle Frage, die jeden betrifft.

Nach den großen Hoffnungen, die mit dem Ende des Kalten Krieges und mit der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992 in Rio de Janeiro verbunden waren, ist die Nachhaltigkeitsdebatte mehr und mehr ins Stocken gekommen. Die internationale Gemeinschaft entfernt sich immer mehr von den UN-Millenniumszielen, zu denen unter anderem eine Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 gehört. Sogar in Deutschland werden 13 Prozent der Bevölkerung als arm eingestuft. Die größten Klimasünder USA und China haben das Kyoto-Protokoll noch nicht unterschrieben. In Deutschland kann nicht einmal ein Tempolimit auf den Autobahnen durchgesetzt werden. Viele lokale Agenden 21 sind mitten auf dem Weg stehen geblieben oder vom Kurs abgekommen.

Die verfügbaren Ansätze der Nachhaltigkeit reichen scheinbar nicht aus, um die globale Krise zu stoppen. Wir brauchen deshalb neue Ansätze.

In den letzten Jahren wurde verstärkt auf die Bedeutung der kulturellen Dimension für das Leitbild „nachhaltige Entwicklung“ hingewiesen. Diese Diskussion reicht bereits in das Jahr 1994 zurück. In seinem Umweltgutachten bezog der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) nachhaltige Entwicklung nicht allein auf einen Prozess technologischer Innovation, sondern auf eine kulturelle Umorientierung, bei der auch Produktions- und Konsumverzicht eine Rolle spielen sollten.[1] Der Rat befürwortete ein Vier-Säulen-Modell, das nachhaltige Entwicklung als einen diskursiven Prozess in dem Viereck Ökologie, Ökonomie, Soziales und Kultur versteht.[2]

Zu den charakteristischen Merkmalen einer Kultur der Nachhaltigkeit gehört für Hildegard Kurt und Bernd Wagner ein „Verständnis von Nachhaltigkeit, das gleichberechtigt zu den drei Säulen Ökonomie, Ökologie, Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension umfasst“.[3]

Die Bedeutung der kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit kann durch drei zusammenhängende Fragen erklärt werden:

  • die Frage der Kultur der Nachhaltigkeit – oder besser von Kulturen der Nachhaltigkeit,
  • die Frage der kulturellen Strategien der Nachhaltigkeit,
  • die Frage nach den Faktoren, die die kulturelle Evolution der Gesellschaft hemmen oder fördern.

Bevor diese drei Fragen beantwortet werden, sind einige Anmerkungen zu den Begriffen Kultur, Umwelt und Nachhaltigkeit nötig.

I. Drei Begriffe

Die begriffliche Unschärfe von „Kultur“, „Umwelt“ und „Nachhaltigkeit“ wurde immer wieder beklagt. Ob ihre Verbindung das Problem lösen kann, ist sicher eine berechtigte Frage. Aber Unschärfe ist oft der Preis, den Begriffe zahlen müssen, wenn sie sich auf eine Komplexität beziehen. Weder Kultur noch gesellschaftliche Entwicklung können rein deterministisch oder rein quantitativ erfasst werden. Wir brauchen heute mehr denn je komplexe Begriffe, denn es geht darum, Komplexität zu verstehen und Komplexität mit Komplexität zu regieren.

I.i Kultur

Der heute dominante Kulturbegriff reduziert Kultur auf einen gesellschaftlichen Teilbereich und oft nur auf die Künste. Diese Kultur wird heute ständig funktionalisiert und kann die existenzielle Bedeutung der „kulturellen Vielfalt“ nicht ausdrücken. Deshalb bedarf der Diskurs der Nachhaltigkeit eher eines anthropologischen, semiotischen und soziologischen Kulturbegriffs. Nur ein in diesem Sinne umfassender Kulturbegriff kann die integrative Wirkung von Kultur bewusster machen, zum Beispiel jene zwischen Sozialem, Ökologie und Ökonomie.

Das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen kann mit einem Begriff des Soziologen Pierre Bourdieu beschrieben werden: In beiden Fällen handelt es sich um „strukturierte strukturierende Strukturen“ [Hervorh. v. D. B.].[4] Winston Churchill hat es 1943 in einer Rede vor dem House of Commons etwas einfacher ausgedrückt: „First we shape our buildings, then they shape us.“ Das heißt: Wir schaffen die Kultur, die uns prägt. Wir werden von jener Gesellschaft geformt, die wir gestalten.

Zwischen Kultur und Gesellschaft findet eine ständige Wechselwirkung statt. Kulturen definieren Gesellschaften und Subkulturen bezeichnen Gruppen – und umgekehrt. Der Soziologe Antony Giddens schreibt: „No culture could exist without a society. But, equally, no society could exist without culture.“[5]

Die Kultur zieht Grenzen, die physisch noch nicht existieren, nicht fassbar und nicht sichtbar sind. Es sind die Grenzen zwischen Integration und Ausgrenzung, dem Eigenen und dem Fremden, Ordnung und Unordnung, nützlich und unnützlich, Gut und Böse und schließlich auch zwischen System und Umwelt. Kulturen sorgen für die Kohäsion eines sozialen Systems und regulieren seinen Austausch mit der Umwelt.

In einem sozialen System übt die Kultur zwei Aufgaben aus:

  1. Eine kognitiv-kommunikative Funktion in dem Verhältnis Mensch-Wirklichkeit: Die Kultur dient der Wahrnehmung und der Interpretation der Wirklichkeit; ermöglicht eine Kommunikation und eine Verständigung über die Wirklichkeit (s. Sprache, Weltbild, cognitive maps);
  2. Eine verhaltens- und projektorientierte Funktion in dem Verhältnis Mensch-Umwelt: Die Kultur leitet unser Verhalten. Durch eine gemeinsame Kultur können Menschen ihre Handlungen koordinieren und abstimmen. Kultur ist eine Art „Bauplan der Gesellschaft“. Auf der Basis von Kultur bauen wir eine kontrollierbare künstliche Welt auf, die die natürliche Umwelt immer weiter ersetzt. Die Grenzen, die nur in unserem Kopf existieren, bekommen dadurch eine physische Gestalt und werden zu richtigen Mauern. Rohstoffe werden zu Produkte umgebaut, Felder zu Städten. Am Ende ist die künstliche Welt selbst so ausgedehnt und komplex, dass wir die Peripherien – und nicht die Natur – als „Um-Welt“ erleben.

Zwischen Kultur und Umwelt findet ein Prozess statt, der in der Industrialisierung seinen Höhepunkt hat: Die Konstruktion der Wirklichkeit (Aufgabe A) wird hier zu einer Konstruktion der (Um-)Welt (Aufgabe B). Die Unstimmigkeiten zwischen konstruierten Weltbildern und Umweltwahrnehmung nehmen ab. Die künstliche Welt spiegelt unsere Begriffe wider – und wird erst dadurch ganz begreifbar und kontrollierbar. Alles andere wird in die nicht-kontrollierbare Umwelt externalisiert. Die Technologien spielen in der Möglichkeit dieser Umwandlung eine zentrale Rolle.

In diesem selbstreferenziellen Prozess steckt eine Erklärung für die Umweltkrise als Krise der Modernisierung und der Globalisierung. Derartige Entwicklungsmodelle sind kulturelle Programme – und sollten als solche betrachtet werden.

I.ii Umwelt

Der dominante Umweltbegriff bezieht sich oft nur auf die ökologische Umwelt. Die Um-Welt ist das, was außerhalb von oder neben dem wahrnehmenden Subjekt ist. In der Tat hat die Trennung zwischen Mensch und Natur, Gesellschaft und Natur oder Kultur und Natur eine lange Tradition, zumindest in jener Kultur, die heute globalisiert wird: die westliche.[6] In diesem Punkt führten weder die Renaissance noch die sogenannte wissenschaftliche Revolution zu einem Bruch mit der Vergangenheit. Mit der Separation von res cogitans und res extensa, das heißt von Geist und Körper und von Subjekt und Objekt der Beobachtung, legte René Descartes die Basis für die Gründung der mechanistischen Wissenschaften.[7]

Die ökologische Krise zeigt uns, zu welchen dramatischen Konsequenzen diese kulturbedingte Trennung geführt hat. Sie hatte in der Kultur der Indianer Amerikas keinen Bestand, deshalb wurden die indianischen Kulturen als unzivilisiert betrachtet und bekämpft.

Der Mensch ist ein Teil der Natur, und die Natur ist ein Teil des Menschen. Diese Erkenntnis ist immer noch eine Herausforderung für die Kultur- und die Sozialwissenschaften,[8] aber auch für die ganze Moderne. Ein kultureller Wandel in Richtung Nachhaltigkeit bedeutet auch ein Paradigmenwechsel. Dazu haben unter anderem die Systemtheorien, die wichtige Gemeinsamkeiten mit der Ökologie haben, einen wichtigen Beitrag geliefert.

Der deutsche Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich hat vorgeschlagen, den Umweltbegriff mit dem Begriff „Mitwelt“ zu ersetzen.[9] Der systemtheoretische Umweltbegriff könnte aber weiterhin hilfreich sein, um multidimensionale Prozesse und Zusammenhänge zu verstehen.

In der Systemtheorie sind „soziales System“ und „Umwelt“ nur relative und keine absolute Bezeichnungen: Was wir als System oder als Umwelt erleben, hängt vom kulturellen und kognitiven Standpunkt ab. Zum Beispiel ist der Tropenwald für die Indios ein System – und für uns Umwelt. Die Relativität der Standpunkte wird jedoch verdeckt, wenn Strukturen der sozialen Ungleichheit ins Spiel kommen, etwa Machtverhältnisse. So wird etwa das Recht der Indios auf eine eigene Kultur im eigenen Land nicht anerkannt. Die Globalisierung universalisiert leider nur die Sichtweise der gesellschaftlichen Zentren: Entsprechend gehen wir mit dem Tropenwald und seinen Bewohnern um.

Nach dieser systemtheoretischen Definition ist ein soziales System das, was wir als eigen, vertraut, kontrollierbar, sicher und geordnet erleben – oder als ein solches gestalten. Die Umwelt ist hingegen das, was wir als fremd, unkontrollierbar, unsicher, unnützlich oder chaotisch erleben.

Wenn wir die „Umwelt“ so verstehen, dann gibt es nicht nur eine ökologische, sondern auch eine emotionale Umwelt (z.B. das „Unbewusste“, in seiner tiefenpsychologischen Bedeutung), eine soziale Umwelt (z.B. die Menschen, die wir ausgrenzen; unsere Peripherien) sowie eine multikulturelle Umwelt (die vielen Kulturen, die wir als fremd erleben). Die „Umwelt“ ist die Einheit dieser Umwelten vor einem gesellschaftlichen System und vor einer Kultur.

Unsere dominante Kultur verhält sich zu diesen Umwelten ähnlich. Adorno und Horkheimer schreiben in der Dialektik der Aufklärung, dass im Zuge der Rationalisierung der Gesellschaft durch Technik nicht nur die äußere Natur des Menschen beherrscht wird, sondern auch seine innere.[10] In der Herrschaft über die Natur ist die Herrschaft über den Menschen inbegriffen. Um die äußere Natur zu beherrschen, die menschliche und die nicht-menschliche, muss das Subjekt mit anderen Subjekten zusammenarbeiten und dabei seine eigene innere Natur bezwingen.[11] Die Menschlichkeit teilt ihr Schicksal mit dem Rest der Natur. Dies ist ein wichtiger Grund, um zu erklären, warum soziale und ökologische Bewegung zusammenfinden sollten: Sie kämpfen gegen dieselben Strukturen und im Grunde genommen für dieselben Ziele.

Drei weitere Anmerkungen zum Umweltbegriff sind wichtig:

  • Die Abhängigkeit des Systems von der Umwelt ist immer stärker als umgekehrt. So ist die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Gesellschaft oder die der Gesellschaft von der Natur immer stärker als umgekehrt. Wer gegen dieses Prinzip handelt, lebt gefährlich.
  • Geschlossene Systeme sterben, offene Systeme gibt es nicht bzw. fließen in andere Systeme ein. Das heißt, für die Existenz jedes Systems sind (a) Grenzen und (b) Kommunikation und Austausch mit der Umwelt notwendig. In einer nachhaltigen Entwicklung oder in einer Kultur der Nachhaltigkeit geht es nicht um eine Auflösung der Grenzen und der Unterschiede zwischen System und Umwelt oder zwischen Kultur und Natur, sondern um die Kommunikation über die Grenzen, trotz der Unterschiede.
  • Die Abgrenzung des Menschen von seiner Umwelt ist auch das Resultat der physischen, biologischen, kognitiven und psychischen Grenzen seines Wesens. Weil er begrenzt ist, fühlt er sich in kleinen überschaubaren Systemen sicherer als in offenen, breiten und komplexen Räumen. Der einzelne Mensch kann sich viel mehr mit einem bestimmten Ort und mit einer kleinen Gruppe von Menschen identifizieren als mit der ganzen Welt und der ganzen Menschheit. Die negativen Auswirkungen der Globalisierung zeigen, wie schwierig es für Menschen ist, nach dem Prinzip der globalen Verantwortung zu handeln. Soll sich die Nachhaltigkeit wirklich darauf berufen? Oder kommt eine Regionalisierung eher der Gesellschaft entgegen?

I.iii Nachhaltigkeit

1987 stellte die Sonderkommission World Commission on Environment and Development der UNO unter Vorsitz der Norwegerin Gro Harlem Brundtland ihren Bericht „Our Common Future“ vor,[12] in dem erstmals die Untrennbarkeit von Umwelt und Entwicklung aufgezeigt wird. In dem so genannten Brundtlandbericht ist auch die heute gängige Definition von nachhaltiger Entwicklung enthalten: Nachhaltig ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.

Es wird oft vergessen, dass die sozialen und ökologischen Forderungen, die mit dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung verbunden sind, viel älter als der Brundtlandbericht sind. Die Frage der Gerechtigkeit stellte bereits die sozialistische Bewegung im 19. Jahrhundert. Die Umweltdebatte begann 1962 in den USA, mit der Veröffentlichung von „Silent Spring“ durch die Meeresbiologin Rachel Carson. 1975 stellte die schwedische Stiftung Dag Hammarskjöld das Dokument „What now? Another Development“ vor der UN-Vollversammlung vor.[13] Darin waren die Ziele eines alternativen Entwicklungsmodells enthalten: (a) Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen; (b) Self-reliance, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung der Menschen und der Völker; (c) Eco-Development. Die Zivilgesellschaft kämpft heute für diese Ziele weiter, mit oder ohne Nachhaltigkeitsdebatte. Warum brauchen wir also unbedingt eine solche Debatte? Wem nutzt ein solch schwieriges, ungeliebtes Wort wie „Nachhaltigkeit“? Warum so viele Ressourcen verschwenden, nur um einen neuen diffusen Begriff zu „vermarkten“? Hat diese Debatte die sozialen und ökologischen Forderungen eher gestärkt oder geschwächt?

Wie wir wissen, sind die Meinungen in diesen Fragen geteilt, manchmal zu Recht. Die Debatte über nachhaltige Entwicklung bringt aber auch einige wichtige Neuigkeiten mit sich. Soziale und ökologische Forderungen finden in diesem Begriff zum ersten Mal eine Einheit. Zumindest in der Theorie wird anerkannt, dass die Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens, der Demokratie, der Selbstbestimmung, der Ökologie und letztendlich der Lebensqualität eng miteinander verbunden sind.[14] Die Multidimensionalität der Nachhaltigkeit sowie die systemische Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist eine zentrale Stärke der Nachhaltigkeitsdebatte.

Die Ziele des nachhaltigen Entwicklungsmodells können wie folgt zusammengefasst werden:

  • Überwindung der globalen ökosozialen Krise
  • Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen
  • Intra- und intergenerationale Gerechtigkeit
  • Gleichgewicht zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem.

Die internationale Gemeinschaft hat diese Ziele anerkannt und sie gleichzeitig „gesellschaftsfähig“ gemacht. Internationale Organisationen, Regierungen, Kommunen und sogar Unternehmen haben sich zur Nachhaltigkeit bekannt – zumindest ideell. Die Diskussion über die Alternativen zu der dominanten nicht-nachhaltigen Entwicklung fließt immer mehr in die Nachhaltigkeitsdebatte ein. Diese Debatte wird sehr breit geführt. Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung bildet eine doppelte Brücke: einerseits zwischen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft; andererseits zwischen Süden und Norden der Welt.

Die Nachhaltigkeitsdebatte hat aber nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen. Die konsequente Umsetzung der vier oben genannten Nachhaltigkeitsziele käme einer Revolution gleich. Doch viele Regierungen, Unternehmen und Menschen wünschen sich eine oberflächliche nachhaltige Entwicklung, ohne radikale Veränderungen. Konkrete Maßnahmen, die dem Ernst der Lage entsprächen, blieben bisher aus. Die Schere zwischen den Nachhaltigkeitszielen und der realen gesellschaftlichen Entwicklung öffnet sich immer mehr. Sowohl Weltbevölkerung als auch CO2-Emissionen nehmen weiter zu. Es fehlt nicht mehr an Konferenzen, Studien und Aufrufen, sondern an konkreter Umsetzung der sozialen und ökologischen Ziele sowie an praktischer Erfahrung. Es gibt kaum Nachhaltigkeitslabore, in denen alternative Lebensweisen möglich sind und weiterentwickelt werden.

Die Nachhaltigkeitsdebatte ist sehr auf die Zukunft konzentriert, obwohl einige Probleme wie Armut schon eine lange Geschichte haben. Es entsteht der Eindruck, dass wir noch genügend Zeit haben, um radikale Veränderungen umzusetzen, um Verzicht zu üben.

Ein Teil der Forschung und der Diskussion konzentriert sich auf technologische Lösungen. Dabei wird oft insbesondere ein Weg verfolgt: weiter so wie bisher, ohne bestimmte Strukturen verändern zu müssen. Technologische Lösungen betreffen oft die Symptome und nicht die Ursachen der Probleme.

Aber wir kennen bereits viele bewährte Lösungen. Nicht alle kommen aus dem Westen, nicht alle sind ein Ergebnis des „technologischen Fortschritts“. Es gibt „Traditionen der Nachhaltigkeit“, die schonsehr alt sind. Viele wurden durch die Kolonialisierung ausgelöscht, andere werden heute durch die Globalisierung bedroht. Bewährte Lösungen müssen nicht mehr erfunden werden. Was aber hemmt ihre breite Umsetzung? Diese Frage wird zu selten gestellt.

Eine kritische Analyse der Machtstrukturen, die manchmal die Umsetzung bewährter Lösungen hemmen oder gar verhindern, findet in der Nachhaltigkeitsdebatte selten statt.[15] Das Thema „sozio-ökonomische Ungleichheit“ wird oft auf die Armut in „anderen“ entfernten Ländern reduziert. Im eigenen Land wird zwar die Verbraucherkultur des „Geiz ist geil“ kritisiert – nicht aber die Strukturen, die Armut, Konsum und Ignoranz fördern. Es wird leider nicht ausreichend erkannt, dass die Strukturen der sozialen Ungleichheit zu den zentralen Ursachen der ökologischen Krise gehören.

Mit „Strukturen der sozialen Ungleichheit“ wird hier nicht die selbstbestimmte, sondern die fremdbestimmte Form der Ungleichheit bezeichnet, das heißt die ungerechte Verteilung von Reichtum und sozial-ökologischen Kosten der Entwicklung sowie die ungerechte Verteilung von politischem Einfluss, von Bildung und Information. Die dominante neoliberale Wirtschaftspolitik ist mit einer nachhaltigen Entwicklung unvereinbar, nicht nur weil sie unökologisch ist, sondern auch weil sie zu einer wachsenden fremdbestimmten sozialen Ungleichheit führt. Diese Unvereinbarkeit wird oft in dem Glauben verschwiegen, dass eine nachhaltige Entwicklung neben einer neoliberalen Wirtschaftspolitik möglich sei.

Der Begriff der nachhaltigen Entwicklung ist in den internationalen politischen Institutionen entstanden. Manche Institutionen und Unternehmen reduzieren ihn auf eine PR-Maßnahme. Die inflationäre Verwendung und gar der Missbrauch des Nachhaltigkeitsbegriffes haben zu seiner Entleerung geführt. Aus diesen Gründen wird der Nachhaltigkeitsbegriff in der Zivilgesellschaft immer noch von Skepsis begleitet. Experten bevorzugen immer wieder andere Begriffe wie „Zukunftsfähigkeit“, „sozial-ökologische Entwicklung“ oder gar die englischen Bezeichnungen „Sustainable Development“ oder „Sustainability“, die schärfer und radikaler erscheinen. Kulturschaffende betrachten das Wort „Nachhaltigkeit“ oft als konservativ. Viele Menschen kennen den Begriff nicht einmal: „Nachhaltigkeit“ betrifft für sie nur Fachexperten, nur eine Elite.

Fazit: Sowohl die Stärken als auch die Schwächen des Nachhaltigkeitsbegriffs sprechen für den Bedarf nach einem neuen Ansatz der Nachhaltigkeit.

II. Die Kulturen der Nachhaltigkeit

„Nachhaltigkeit“ leidet immer noch an einem Geburtsfehler: Der Begriff entstand in den Zentren der globalen Gesellschaft und soll sich nun in den Peripherien durchsetzen. Eine solche Genese birgt eine Gefahr: die Gefahr eines neuen Entwicklungsmodells, das sich als neuverpackte Modernisierung entblößt oder als „politische PR-Maßnahme“ endet. In beiden Fällen würden wir entscheidende Zeit verlieren. Um eine solche Gefahr zu vermeiden, sollten in der Frage der Kulturen der Nachhaltigkeit zuerst zwei Ebenen unterschieden werden: jene der eigenen Kultur (in unserem Fall die westliche) und die multikulturelle Ebene.

II.i Die westliche Kultur

Es ist insbesondere die westliche Kultur, die heute globalisiert wird. Weil diese Kultur eine große Verantwortung bei der Entstehung und bei der Verschärfung der globalen Krise hat, müssen hier ein Paradigmenwechsel und ein Wertewandel stattfinden. Wir brauchen ein radikales sozial-ökologisches Umdenken. Welche Merkmale können eine zukunftsfähige Kultur kennzeichnen? Hildegard Kurt und Bernd Wagner beantworten diese Frage wie folgt:

„Ein Verständnis von Nachhaltigkeit, das gleichberechtigt mit den ‚drei Säulen‛ Ökonomie, Ökologie und Soziales auch Kultur als quer liegende Dimension umfasst; das die auf Vielfalt, Offenheit und wechselseitigem Austausch basierende Gestaltung der Bereiche Ökonomie, Ökologie und Soziales als kulturell-ästhetische Ausformung von Nachhaltigkeit versteht und verwirklicht.

„Ein Kulturbegriff, der von der Naturzugehörigkeit des Menschen ausgeht und grundsätzlich den Mensch und Natur gleichermaßen umfassenden Lebenszusammenhang mitdenkt.

„Eine Verständigung auf Grundwerte, von denen Gesellschaften zusammengehalten werden. Hierzu zählen: Gerechtigkeit zwischen den jetzt weltweit lebenden Menschen, im Blick auf die künftigen Generationen und im Blick auf die Natur; das Prinzip Verantwortung; Toleranz; der Schutz der Schwachen sowie die Wahrung kultureller und biologischer Vielfalt.

„Ein hohes Maß an Partizipation in allen gesellschaftspolitischen Entscheidungs- und Gestaltungsfragen einschließlich der Demokratisierung aller Aspekte des fortschreitenden Globalisierungsprozesses.

„Ein hoher politischer und philosophischer Stellenwert der Frage nach dem guten Leben und die Pflege einer zukunftsfähigen Lebenskunst.

„Eine Rückführung der Kunst aus ihrer Randposition in die Lebenswelt.

„Interkulturelle Kompetenz im Dialog der Kulturen, da in einer eng verflochtenen Welt eine Zukunftsperspektive nur gemeinsam gesichert werden kann.“[16]

Die Grundsätze einer zukunftsfähigen Kultur liegen nicht nur in der Zukunft und in dem Neuen. Das 20. Jahrhundert war bisher der höchste Punkt der Entwicklung der westlichen Gesellschaft – und gleichzeitig ihr tiefster: zwei Weltkriege, Auschwitz, Hiroshima, Tschernobyl. Wurden diese Erfahrungen genügend und bis zur letzten Konsequenz kulturell verarbeitet? Vieles wird sehr schnell „vergessen“, mit der Folge, dass unser angeblicher Fortschritt heute immer noch stark überschätztwird. Die westliche Gesellschaft sieht sich immer noch als Zentrum der Welt und als Spitze der globalen Entwicklung. „Unterentwickelt“ sind nur die anderen.

Eine Kultur der Nachhaltigkeit kennt die eigenen Grenzen und ist deshalb bescheidener, offener und lernfähiger. Sie begegnet dem Mythos des technologischen Fortschritts mit Skepsis. Dogmen wie „Wachstum“ und „Wettbewerb“, Ideologien und Universalisierungen genauso. Um sich davon zu befreien, braucht der Westen heute eine zweite Aufklärung – und vielleicht auch eine neue wissenschaftliche Revolution. Für diese Revolution haben die Ökologie, die Systemtheorie und die Relativitätstheorie bereits eine gute Basis vorgelegt. Die Erkenntnisse von Charles Darwin, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Ilya Prigogine, Herman Daly oder Sigmund Freud wurden aber noch nicht bis zur letzten Konsequenz in die dominante Kultur aufgenommen. Das Ergebnis: Der Entwicklungsgrad wird immer noch auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes reduziert, während die amerikanische Gesellschaft als vorbildhaftes Modell für die ganze Welt durchgekämpft wird.

Die ständige Spezialisierung der Wissenschaften hat nicht unbedingt zu einem stärkeren Bewusstsein für das Ganze beigetragen: Eher das Gegenteil ist wahr. Die Quantifizierung und die Monetarisierung der gesellschaftlichen Prozesse dient zwar ihrer Kontrolle, geht aber oft auf Kosten der qualitativen Dimensionen, die sich nicht auf Zahlen und Geldbeträge reduzieren lassen.

In einer Kultur der Nachhaltigkeit stellt die Wirtschaft die Handlungsmittel – und legt nicht die Handlungsziele fest. Der Markt wird als Teil der Gesellschaft betrachtet – und nicht umgekehrt.

II.ii Die kulturelle Vielfalt

Der Mensch ist kognitiv begrenzt. Die Menschen sind unterschiedlich und leben in unterschiedlichen Lebensräumen. Es gibt nicht nur eine Geschichte, sondern viele Geschichten. Was sich in einer Situation bewährt, kann für eine andere falsch sein. Alle diese Argumente sprechen gegen die Dominanz einer einzigen Kultur und für eine kulturelle Vielfalt. Eine globalisierte Kultur der Nachhaltigkeit wäre ein Widerspruch in sich: Es kann nur Kulturen der Nachhaltigkeit geben.

In der Kolonialisierung wurden Kulturen zerstört, von denen wir sehr viel lernen können. Dasselbe gilt für die Globalisierung. Die Nachhaltigkeit sollte diesen Fehler nicht wiederholen. Dafür hat sich auch die UNESCO in den letzten Jahren stark gemacht. In dem „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdruckformen“ (Paris, 2005) wurde die Bedeutung einer kulturellen Vielfalt für das Leitbild der Nachhaltigkeit betont: „Der Schutz, die Förderung und der Erhalt der kulturellen Vielfalt sind eine entscheidende Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung zu Gunsten gegenwärtiger und künftiger Generationen.“

Bei den Menschen wurde die biologische Evolution durch eine kulturelle Evolution ersetzt. Während die Evolutionsfähigkeit natürlicher Systeme auf der biologischen Vielfalt basiert, setzt die Evolutionsfähigkeit gesellschaftlicher Systeme eine kulturelle Vielfalt voraus. Nur so konnte sich der Mensch an die Umweltbedingungen des Tropenwaldes, der Wüste oder des Eises anpassen. Kulturelle Prozesse können das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und sozial-ökologischer Umwelt auch negativ beeinflussen. Wenn die kulturelle Vielfalt abnimmt, sinkt auch die gesamte Umweltwahrnehmung der Gesellschaft. Kolonialisierung, Modernisierung und Globalisierung haben einerseits die Vermischung verschiedener Kulturen ermöglicht. Andererseits zeigt das Ergebnis dieser „Vermischung“, wie entscheidend eine Gleichberechtigung der Kulturen und ein Respekt füreinander sind. Die einheimischen Traditionen der „unterentwickelten“ Länder wurden oft bekämpft, als Hindernis für eine Modernisierung nach westlichem Muster. Die Sprache der englischen Kolonialmacht hat sich als Weltsprache durchgesetzt – nicht das Esperanto.

Die Standardisierung der globalen Ernährungsproduktion oder die architektonische Uniformierung der Metropolen der Welt sind Ursache und gleichzeitig Ergebnis dieser kulturellen Verarmung. Sie ist nicht nur auf internationaler Ebene sichtbar, sondern auch innerhalb der westlichen Gesellschaft, die auf ihre wirtschaftliche Dimension zentriert ist. Subkulturen und alternative Lebensweisen haben große Schwierigkeiten, sich in diesem Umfeld zu entwickeln oder auch nur zu bestehen, wenn die ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung nicht stimmt. Die Privatisierung der öffentlichen Räume bedeutet weniger Raum für kulturelle Vielfalt. Die Abnahme der kulturellen Vielfalt hat zu einer Reduktion der Evolutionsfähigkeit und Krisenfähigkeit des gesellschaftlichen Systems geführt. Die Auswahl der Antworten und der Lösungen, die für neue soziale und ökologische Probleme benötigt werden, ist kleiner geworden. Der wissenschaftliche und der technologische Fortschritt werden die existenzielle Bedeutung der kulturellen Vielfalt nie ersetzen können. Eine Natur ohne biologische Vielfalt, sondern aus genmanipulierten Wesen ist nur eine grauenhafte Vorstellung. In diese Richtung fließen aber immer mehr Finanzmittel.

Diese kurze Analyse zeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen Kultur und Nachhaltigkeit ist, das heißt auch zwischen kultureller Vielfalt und Nachhaltigkeit. Die Staaten bestimmen sowohl die internationale als auch die innere „Entwicklungspolitik“, das heißt die Rahmenbedingungen, die zu dem Schutz oder der Abnahme der kulturellen Vielfalt führen. Das „Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdruckformen“ ist sicher ein positiver Schritt, der nun umgesetzt werden muss. Schade nur, dass es keine Unterstützung von USA und Israel fand.

III. Die kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit

Wie kommen wir von der heutigen gesellschaftlichen Ordnung, die offensichtlich nicht nachhaltig, aber noch sehr mächtig und zäh ist, zu einer nachhaltigen Ordnung? Wie kommen wir von der wirtschaftszentrierten Kultur der Globalisierung zu einer sozial-ökologischen Kultur der Nachhaltigkeit? Welche Organisations- und Kommunikationsformen fördern die kulturelle Vielfalt – anstatt sie zu zerstören?

Um diese Frage zu beantworten, muss zuerst berücksichtigt werden, dass sich Kulturen vermischen, weil die Menschen miteinander kommunizieren. Wir leben selten in einer einzigen Kultur oder in einem einzigen System. Die Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen verlaufen oft innerhalb von Parteien, Institutionen, Unternehmen, Gruppen oder sogar von Menschen selbst – und nicht zwischen ihnen. Auch in alternativen Organisationen wie Attac befinden sich Merkmale, die eher der dominanten Kultur zugeschrieben werden können. Auch innerhalb nicht-nachhaltiger Unternehmen können kritische Stimmen gefunden werden. Diese Vermischung der Kulturen macht es schwieriger und einfacher zugleich, einen kulturellen Wandel zu fördern.

Wir selbst sind Teil des Systems. Die echte Herausforderung besteht darin, die dominante Kultur von innen zu ändern – und das gilt insbesondere in Zeiten der Globalisierung. Wer sein Verhalten konsequent an sozial-ökologischen Werten ausrichtet, riskiert heute die Ausgrenzung. Wer die Integration, die Karriere oder die soziale Sicherheit in Vordergrund stellt, riskiert oft die reine Anpassung an den gegebenen Strukturen. In beiden Fällen kann man zur Nachhaltigkeit nicht wirklich beitragen. Wie kann man diesem Dilemma entkommen?

Die Strategiedebatte wird von zwei Positionen beherrscht: Konsens oder Konflikt, Realismus oder Fundamentalismus. Dabei geht es eigentlich nur um eines: um den Umgang mit Macht- und Interessenstrukturen, die unsere Gesellschaft beherrschen. Wenn gesellschaftliche Akteure nicht gleichberechtigt sind, dann werden die Ergebnisse der Kommunikation eher vom Stärkeren bestimmt – und nicht unbedingt vom Besseren. Dies gilt auch für das Verhältnis zwischen den drei Nachhaltigkeitssäulen Wirtschaft, Soziales und Ökologie: Es gibt eine starke Säule und zwei schwache.

Einige Befürworter der „Nachhaltigkeit“ vertreten eine pragmatische und manchmal opportunistische Position: Sie sind sich der entscheidenden Bedeutung der Strukturen sozialer Ungleichheit zwar bewusst, vermeiden aber jede Kritik an Regierung und Konzernen. Sie denken nämlich, dass man nur mit Macht und Geldern etwas ändern kann – und nicht gegen sie. Eine kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit akzeptiert diese Logik nicht und handelt auf der Metaebene der gesellschaftlichen Kommunikation. Die Rolle der sozialen Ungleichheit wird analysiert und öffentlich thematisiert. Es wird bewusst gemacht, dass Organisationsformen wie Demokratie oder Technologien wie Massenmedien Ungerechtigkeit legitimieren, aber auch bekämpfen können. Psychosoziale Faktoren werden ebenso berücksichtigt. Nicht nur rationale, sondern auch emotionale Faktoren wie Gruppendynamik, Persönlichkeit, Bedürfnisse oder Gewohnheiten hemmen oder beeinflussen den sozialen Wandel stark.

Schließlich hat die Bildung Bedeutung. Nicht nur der Bildungsgrad, sondern auch die Qualität der Bildung sind für eine nachhaltige Entwicklung wichtig. Neben anderen gesellschaftlichen Institutionen bilden Schulen und Hochschulen auch die Denkweisen und Lebenseinstellungen von Menschen aus. Nur wer in breiten Horizonten denken kann und Zusammenhänge versteht, kann die Ursachen von komplexen Problemen begreifen und nachhaltige Lösungen vorschlagen. Dies spricht für eine trans- und interdisziplinäre Ausbildung. Eine autoritäre Pädagogik hemmt die kreative Partizipation an der Mitgestaltung der Gesellschaft. Nur wer keine Angst hat, Hierarchien zu widersprechen und die eigenen Bedürfnisse vor einer Gruppe klar auszudrücken, kann sich politisch effektiv betätigen und Nachhaltigkeit fördern.

Wenn sich bestimmte Institutionen nur als Ordnungshüter verstehen und verhalten – oft unabhängig davon, ob diese Ordnung nachhaltig ist oder nicht, dann müssen andere gesellschaftliche Akteure den sozial-ökologischen Wandel vorantreiben. In einer nicht-nachhaltigen Ordnung reicht es einer Botschaft nicht, besser und nachhaltig zu sein, um sich durchzusetzen. Eine neue Kultur braucht soziale Träger, um sozial wirksam zu werden.

Die Zivilgesellschaft hat dieses Potenzial. Nachhaltigkeit braucht aber keine gewöhnlichen politischen Bewegungen, sondern politische Kulturbewegungen, die von Geisteswissenschaftlern, Journalisten, Psychologen, Künstlern, Migranten (u.a.) mitgestaltet werden. Durch netzwerkartige Strukturen sollten diese Bewegungen integrierend und offen wirken statt elitär. Im internen Prozess sollten sich Dynamik und Vielfalt gegen Starrheit und Uniformierung durchsetzen – nicht umgekehrt.

Zivilgesellschaftliche (Basis-)Initiativen können eine wichtige Rolle bei der Umorientierung zu nachhaltigkeitsorientierten Lebensstilen einnehmen.[17] Sie können die Funktion von kulturellen „Nachhaltigkeitslabors“ (oder „Nachhaltigkeitspionieren“) erfüllen, in denen beispielhaft neue Lebens-, Konsum- und Arbeitsmodelle erprobt und gelebt werden, von denen gesamtgesellschaftliche Lernprozesse ausgehen.[18]

Auch die Künste bieten ein besonderes Potenzial für die Nachhaltigkeitsziele, nicht nur als alternatives oder als außergewöhnliches Medium. Zu den Künsten gehören u.a. die bildenden und die darstellenden Künste, der Film, die Literatur, die Musik, die Fotografie und die Architektur. Der niederländische Soziologe Hans Dieleman nennt sieben Gründe, warum Künstler „change agents in sustainability“ sein können[19]

  • Einige Künstler interessieren sich für die Nachhaltigkeitsziele und machen sie zum Thema der eigenen Kunst;
  • Nachhaltigkeit bedeutet systemisches, vernetztes Denken.[20] Bei einer ganzheitlichen, integrativen Betrachtung der Wirklichkeit haben die Künstler weniger Probleme als die Wissenschafter. Die Künste fördern den Perspektivwechsel.
  • Nachhaltigkeit bedeutet Wandel. Gesellschaftliche Transformationsprozesse sind nicht nur rationale Prozesse, sondern auch emotionale. Sie betreffen zum Beispiel Gewohnheiten. Die Künste haben die Fähigkeit, rationale Botschaften zu emotionalisieren und emotionale Bedürfnisse zu politisieren.
  • Nachhaltigkeit bedeutet, etwas Neues zu schaffen. Die Künste bergen eine höhere innovative und visionäre Kraft als zum Beispiel Politik und Wissenschaft.
  • Unsere Gesellschaft braucht eine reflexive Modernisierung, um ihre Krise zu überwinden – so der Soziologe Ulrich Beck.[21] Diese Art „psychoanalytische Therapie der Gesellschaft“ darf sich aber nicht auf eine ästhetische Reflexion reduzieren, sondern muss auch eine innere Reflexion beinhalten. Die Künste können diese Reflexion besser fördern. Die meisten Menschen denken nicht wie „Fachexperten“. Ihre Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und mit sich selbst braucht andere Wege.
  • Die Künste können den Lernprozess fördern, der in der Integration von Theorie und Praxis benötigt wird. Dabei geht es um ein „reflective management“. Normalerweise vergleichen wir unsere praktischen Erfahrungen mit den vorhandenen kognitiven Mustern. In der Nachhaltigkeit geht es jedoch auch um den umgekehrten Prozess, bei dem vorhandene kognitive Muster der Wirklichkeit angepasst bzw. neue kognitive Muster entwickelt werden.

Zum siebten Grund, den Dieleman nennt, komme ich später, denn er betrifft die Kultur als Ganze und nicht nur die Künste. Durch die Künste kann man der Tendenz zur Selbstreferentialität von gesellschaftlichen Diskursen entgegenwirken. Eine Nachhaltigkeit, die zur „Expertenlyrik verkommt“,[22] kann nämlich wenig bewegen.

IV. Die kulturelle Evolution

Es gibt einen Prozess, in dem Ordnung und Dynamik von Systemen eine Synthese finden: die Evolution. In der Evolution passt sich das System den veränderten Umweltbedingungen an, um die eigene Existenz zu sichern. Evolution ist oft mit einer Umorganisation des Systems verbunden (organisationale Transformation).[23] Voraussetzungen dieser dynamischen Ordnung oder geordneten Dynamik des Systems sind die Wahrnehmung der Umwelt, die Kommunikation mit der Umwelt, die Offenheit und die Flexibilität der Strukturen innerhalb des Systems sowie die Fähigkeit zur Selbstorganisation.

Das, was in der Natur die biologische Evolution ist, stellt in der Gesellschaft die kulturelle Evolution dar. Die biologische Evolution wurde bei den Menschen durch eine kulturelle Evolution ersetzt.

Wenn wir heute die globale Krise überwinden möchten, müssen wir uns folgende Fragen stellen:

  • Was hemmt die kulturelle Evolution des gesellschaftlichen Systems?
  • Was fördert sie?

Der größte Hemmfaktor der kulturellen Evolution ist die Verbindung von:

  • Strukturen der sozialen Ungleichheit mit
  • selbstreferentiellen Kulturprozessen (Dogmen wie Markt, Wachstum und Wettbewerb; Mythos des Fortschrittes; Intoleranz gegenüber Alternativen; Spezialisierung; usw.) und
  • bestimmten Technologien, wie zum Beispiel Waffen, Geld, Technologien der sozialen Kontrolle und Massenmedien.

Zu den Förderfaktoren der kulturellen Evolution zählt vor allem die Umweltwahrnehmung, das heißt die Auseinandersetzung mit dem Fremden. Das Experimentieren, die Erfahrung, die Recherche, die Kritik, die Reflexion, die Kreativität, das Lernen, die politische Partizipation sowie die intra- und interkulturelle Kommunikation sind Möglichkeiten, um sich der Umwelt anzunähern. Emotionen und Sexualität sind weitere Faktoren, die die gesellschaftliche Dynamik fördern. Diese Dynamik kann viele verunsichern und überfordern – und ist nicht immer erwünscht. Nicht jeder kann mit jedem etwas teilen. Die Offenheit gegenüber dem Fremden setzt vor allem ein Vertrauen in sich selbst voraus sowie einen günstigen gesellschaftlichen Kontext, der freie Räume und Autonomie zulässt und respektiert. Kommunikation in der Vielfalt soll dabei von jedem gefördert werden.

Fazit: Wer sich für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzen möchte, sollte die Förderfaktoren der kulturellen Evolution leben – und deren Hemmfaktoren bekämpfen.

V. Schlusswort

Die Umwelt war in den sechziger Jahren eine juristische Frage, in den siebziger eine politische und ab den neunziger eine Frage des Managements und des Marktes. Heute wird sie immer mehr zu einer kulturellen Frage. Dies ist für den Soziologen Hans Dieleman der siebte Grund, um zu erklären, warum gerade heute Künstler wichtige „change agents in sustainability“ werden können. Doch seine Aussage hat eine weiter reichende Bedeutung.

Wenn die Kultur das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem System und Umwelt reguliert, dann ist die heutige Umweltkrise eine kulturelle Krise. Sie braucht deshalb kulturelle Lösungen und eine kulturelle Strategie. Die globalisierte Kultur soll dabei durch eine Vielfalt von Kulturen der Nachhaltigkeit ersetzt werden. Welche sozialen Träger, welche Bildungsinstitutionen, welche Kunst- und Kommunikationsformen diesen Prozess unterstützen können, ist dabei keine zweitrangige Frage. Marshall und Herbert McLuhan lehren uns, dass auch das Medium die Botschaft ist.[24] Es ist ganz anders, ob man Natur über den Fernsehbildschirm oder durch direkte Erfahrung erlebt; ob man Menschen trifft oder mit ihnen mailt. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Begriff von oben durchgesetzt wird – oder eine Gesellschaft von unten mitgestaltet werden darf.

In der Nachhaltigkeit ist der Weg das Ziel und das Ziel der Weg. Der systemische Ansatz lehrt uns, dass man zwischen Prozess und Ergebnis der Entwicklung nicht allzu sehr unterscheiden sollte. Für eine Kultur der Nachhaltigkeit bedeutet dies etwas sehr Wichtiges: Wenn nicht nur die Inhalte, sondern auch die Typologie des Mediums, die Organisationsform oder der künstlerische Prozess eine Kultur bestimmen, dann braucht die Nachhaltigkeit nicht nur neue Paradigmen, Weltbilder oder Werte (Kultur der Nachhaltigkeit), sondern auch neue Kommunikationsformen (kulturelle Strategie der Nachhaltigkeit), die eine kulturelle Evolution ständig fördern und die Durchsetzung von selbstreferentiellen Weltbildern (Ideologien) hemmen.

Der kulturelle Wandel ist heute viel langsamer, als es die globale Krise erfordert. Andererseits nehmen wir gerade diese Gesellschaft als hochdynamisch wahr: Jede Woche werden neue Produkte auf dem Markt präsentiert. Informationen werden im Sekundentakt veröffentlicht. Noch nie wurde soviel über Zeitknappheit im Alltag geklagt, weil die Menschen „soviel zu tun haben“. Diese ist aber eine selbstreferentielle Dynamik, die in einem krassen Gegensatz zu der evolutionären Starrheit des Systems steht. Der extrem schleppende Verlauf des Kyoto-Prozesses belegt es.

Weil das System zu starr ist, um sich zu ändern, versucht man, mit Technologien die Umwelt dem System anzupassen – oder zumindest die Reaktionen der Umwelt zu kontrollieren. Diese Logik zeichnet die Industrialisierung, die Modernisierung und die Globalisierung aus – und „Entwicklung“ wird oft mit diesen drei Begriffen gleichgesetzt. Deshalb kann eines hier besonders empfohlen werden: Um die globale Krise zu überwinden, brauchen wir heute nicht mehr Entwicklung, sondern mehr kulturelle Evolution.

Zum Autor

Davide Brocchi

Dipl.-Sozialwissenschaftler und Kulturmanager, wurde 1969 in Rimini (Italien) geboren und ist 1992 nach Deutschland eingewandert. Heute lebt er in Köln und leitet das Institut Cultura21 e.V., das das Verhältnis zwischen Kultur und Nachhaltigkeit erforscht und eine kulturelle Evolution der Gesellschaft fördert (www.cultura21.de).

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Vgl. SRU (Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen): Umweltgutachten 1994. Für eine dauerhafte umweltgerechte Entwicklung.Stuttgart: SRU, 1994.
  2. Gerhard Voss: Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung – Darstellung und Kritik. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, 4/1997. Köln: Deutscher Instituts-Verlag, 1997. S. 32.
  3. Hildegard Kurt; Bernd Wagner (Hrsg.): Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit. Essen: Klartext Verlag, 2002. S. 13.
  4. Vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974.
  5. Vgl. Anthony Giddens: Sociology. Cambridge, 1989.
  6. Ansgar und Vera Nünning: Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: J. B. Metzler, 2003. S. 19.
  7. Vittorio Hösle: Philosophie der ökologischen Krise. München: C. H. Beck, 1991. S. 54.
  8. Vgl. Karl-Werner Brand: Nachhaltige Entwicklung: Eine Herausforderung für die Soziologie. Opladen: Leske + Budrich, 1997.
  9. Vgl. Klaus Michael Meyer-Abich: Aufstand für die Natur: Von der Umwelt zur Mitwelt. München: Hanser, 1990.
  10. Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1966.
  11. Max Horkheimer: Eclisse della ragione. Turin: Einaudi, 1969. S. 84-85 (erschienen in Deutschland unter dem Titel „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“, Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1967).
  12. Völker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp Verlag, 1987.
  13. Alberto Tarozzi: Visioni di uno sviluppo diverso. Torino: Gruppo Abele, 1990. S. 43.
  14. Vgl. die Leitidee von Cultura21, 25.11.2006.
  15. Vgl. Helga Eblinghaus, Armin Stikler: Nachhaltigkeit und Macht: Zur Kritik von Sustainable Development. Frankfurt: IKO- Verlag für Interkulturelle Kommunikation, 1996.
  16. Hildegard Kurt, Bernd Wagner: Ibid. 2002, S. 14.
  17. Michael Wehrspaun, Christian Löwe, Martina Eick: Die Bedeutung von Basisinitiativen für die Verankerung einer Kultur der Nachhaltigkeit. Berlin: Umweltbundesamt, FG I 2.2/III 1.3, Januar 2004.
  18. Lucia Reisch, Gerhard Scherhorn: Wie könnten nachhaltige Lebensstile aussehen? Auf der Suche nach dem ethischen Konsum, in: Der Bürger im Staat: Nachhaltige Entwicklung. Stuttgart: Landeszentrale für politische Bildung, Heft 2/1998.
  19. Hans Dieleman: Artists as change agents in sustainability. Vortrag vom 22.11.2006 in der Lüneburger Universität.
  20. Vgl. Frederic Vester: Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. München: dtv, 2002.
  21. Ulrich Beck, Wolfgang Bonß: Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001.
  22. Werner Schenkel: Kultur, Kunst und Nachhaltigkeit?, in: Hildegard Kurt, Bernd Wagner: Ibid. 2002, S. 33.
  23. Vgl. David J. Krieger: Einführung in die allgemeine Systemtheorie. München: W. Fink Verlag, 1998. S. 39-42.
  24. Vgl. Marshall und Herbert M. McLuhan: Das Medium ist die Botschaft. The Medium is the Message. Gespräche und Interviews. Hamburg: Philo Verlag, 2005.

Brocchi, Davide: Braucht die Welt einen zweiten Global Marshall Plan?, 31.01.2007

Die Global Marshall Plan Initiative von Franz Josef Radermacher beruft sich auf den Erfolg des amerikanischen Programms für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa. Genauso wie die internationale Entwicklungspolitik eines halben Jahrhunderts. Davide Brocchi stellt seine ideen und Argumente überblickshaft vor.

„Die Demokratie sollte den Markt und den Wettbewerb regulieren, unsere Welt hat jedoch ein gravierendes Demokratieproblem. Ich möchte es ungeschützt sagen. Das Weltdemokratieproblem ist, dass sich 300 Millionen Menschen einen Präsidenten wie Bush leisten dürfen, während die restlichen sechs Milliarden mit ihm leben müssen!“

Die Analyse des begnadeten Redners ist mathematisch scharf und das Publikum applaudiert ihm begeistert. Auf dem Essener Campus wirbt Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher für seinen Global Marshall Plan. Die Initiative fordert unter anderem die Durchsetzung der weltweit vereinbarten Millenniumsziele der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015: „Es ist Zeit, dass die Versprechen eingehalten werden – und wir werden die Regierungen ständig daran erinnern, dass sie selbst diese entwicklungspolitischen Ziele mitunterschrieben haben!“

Die weiteren Ziele des Global Marshall Plans sind so angelegt, dass sie das breitestmögliche Spektrum an Unterstützung erreichen: von Susan George (Attac France) bis Kurt Beck (SPD), von Frank Bsirske (ver.di) bis Josef Göppel (CSU), von Johan Galtung (Trascend Peace University) bis Hans Dietrich Gescher (FDP). Die Breite der Unterstützung ist die große Stärke des Global Marshall Plans, aber auch seine große Schwäche – meinen die Kritiker. Es ist nicht viel anders als beim Begriff der Nachhaltigkeit.

Franz Josef Radermacher, 1950 in Aachen geboren, ist promovierter Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. Wie alle Keynesianer und Neokeynesianer befürwortet er einen stärkeren Eingriff des Staates in die Wirtschaft, wobei starke staatliche Investitionen durch mehr Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Nur eine gerechte Steuerpolitik kann vermeiden, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden.

Die Analyse von Radermacher könnte genauso gut aus dem kapitalismuskritischen Flügel der Linken stammen: „Europa braucht eine neue Verfassung. Doch sie soll die Menschen vor einer ungezügelten Globalisierung schützen – und nicht die ungezügelte Globalisierung vor den Menschen.“ Wie die Attac-Bewegung setzt sich auch die Global-Marshall-Plan-Initiative für eine Versteuerung der internationalen Finanztransaktionen ein, das heißt für eine „Tobin-Tax“, die Spekulationen auf den Finanzmärkten hemmen soll. Interessant zu erfahren, dass prominente SPD-, CSU- und sogar FDP-Politiker solche Positionen unterstützen. Werden diese Parteien entsprechende Gesetzesinitiativen starten?

Nach der gramerfüllten Rede von Radermacher kommt die erste Frage aus dem Publikum: „Ich kann mich an den Marshall Plan in Europa erinnern – sagt der alte Herr – damals war ich noch ein Kind. Warum wurde Ihre Initiative nach diesem Plan genannt?“

Gerade nach den scharfen Kritiken an der US-Außenpolitik eine durchaus interessante Frage. Radermacher scherzt: „Wenn man an einen Marshall denkt, stellt man sich einen Cowboy mit Pistolen und hohen Stiefeln vor. Es ist aber in diesem Fall nicht so.“

Der Marshall Plan für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa begann 1947 und ging in die Geschichte als Erfolg ein. Darauf berufen sich Radermacher und seine Initiative. Sie sind nicht die ersten, die die Bedeutung des Marshall Plans vielleicht überschätzen.

Auch die westlichen Regierungen sowie internationale Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond haben 50 Jahre lang den Marshall Plan zum Modell ihrer Entwicklungspolitik gemacht. Was sich für Europa gut bewährt hatte, müsste genauso für die Dritte Welt funktionieren: so glaubte man lange Zeit.

Das Ergebnis jenes ersten globalen Marshall Plans war aber ein ganz anderes: Diese Entwicklungspolitik diente insbesondere den Hilfsgebern, nicht immer den Hilfsnehmern – um es diplomatisch auszudrücken.

Alles begann am 20. Januar 1949, als der wiedergewählte US-Präsident Harry Truman eine berühmte Antrittsrede hielt, bei der zum ersten Mal das Wort „Unterentwicklung“ fiel. Truman betrachtete nur das westliche Gesellschaftsmodell als entwickelt, während der größte Teil der Menschheit bei ihm als unterentwickelt galt. Wer anders lebte, wurde praktisch auf einen Schlag als hilfsbedürftig und nicht-gleichwertig eingestuft. Infolgedessen starteten die USA mit den Ex-Kolonialmächten ein paternalistisches Programm, das sie Entwicklungshilfe für die Dritte Welt nannten. Das deklarierte Ziel dieser Entwicklungspolitik war, unterentwickelten Ländern zu helfen, dem Entwicklungsstand westlicher Länder zu erreichen bzw. den Entwicklungsrückstand wieder gut zu machen. Durch ein big push von außen, in Form einer massiven Kapital- und Investitionsspritze, sollten sich die unterentwickelten Länder von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft entwickeln. Nach dem linearen Entwicklungsmodell der Modernisierung wurde jede Tradition mit Unterentwicklung und Armut gleichsetzt, wobei alles, was von dem kapitalistischen und konsumistischen Lebensstil abwich, als „Tradition“ und „Armut“ galt.

Schon in den 60er Jahren wurde klar, dass dieser erste Global Marshall Plan für Afrika oder Lateinamerika zu ganz anderen Ergebnissen als in Europa führte. Der Abstand zwischen reichen und armen Ländern wuchs weiter. Trotzdem wurde diese Entwicklungspolitik weiter getrieben. Für die negativen Ergebnisse machte der Westen die internen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der unterentwickelten Länder verantwortlich. Zum Beispiel waren afrikanische Regierungen für Korruption anfällig. Arme Menschen konnten nicht profitorientiert und effizient arbeiten. Die einheimischen Gebräuche galten als Hindernis für die Modernisierung, insbesondere wenn sie auf sozialistische oder gar auf kommunistische Ideologien trafen.

Die westlichen Nationen bekämpften diese Hindernisse im Name der Entwicklung, im Extremfall durch militärische Einsätze oder Geheimoperationen (u.a. Chile, 1973). Agrarreformen gegen große Landbesitzer oder politische Bewegungen gegen die Wirtschaftsinteressen der Multinationalen wurden fast automatisch als „kommunistisch“ bezeichnet, obwohl das deklarierte Ziel der Entwicklungspolitik „mehr Wohlstand für die Armen“ hieß.

Und so wiederholte sich jahrzehntelang die entwicklungspolitische Katastrophe, die zum heutigen Zustand geführt hat. Auch die angebliche „Demokratisierung“ des Iraks passt in dieses Bild sehr gut.

Der Marshall Plan war kein Kind der Liebe. Genauso ist es mit der bisherigen Entwicklungspolitik: sie war oft das Ergebnis von kühnen Kosten-Nutzen-Rechnungen – und zwar im Sinne der Hilfsgeber.

Der Soziologe und katholische Theologe Wolfgang Sachs hat 1998 ein kritisches Lexikon der Entwicklungspolitik in Italien veröffentlicht. „Il Dizionario dello sviluppo“ enthält ein interessantes Kapitel über die Ambivalenz des Worts „Hilfe“. Es gibt nämlich eine Form von „Hilfe“, die in der Entwicklungspolitik immer wieder vorkommt: Wer es schafft, andere von sich selbst abhängig zu machen und abhängig zu halten, hat Macht über sie.

Auch der Marshall Plan verfolgte dieses Ziel. Er war nicht zuletzt eine Strategie gegen die drohende Verbreitung der sozialistischen Ideen in Europa, die gerade nach dem Nationalsozialismus an Boden gewonnen hatten. Besonders stark griffen die Amerikaner bei den politischen Wahlen von 1948 in Italien ein, als sich eine Volksfront von Sozialisten und Kommunisten und die Democrazia Cristiana von Alcide De Gasperi (dem Adenauer Italiens) gegenüberstanden. Die linke Volksfront hatte gute Chancen. So drohte die Democrazia Cristiana mit einer Aussetzung des Marshall Plans, falls die Kommunisten die Wahlen gewonnen hätten.

Heute wissen wir, dass der US-Geheimdienst viel Geld in die Kasse der Democrazia Cristiana fließen ließ. Die CIA förderte die Bildung eines paramilitärischen Netzes mit dem Namen „Gladio“, das Geheimaktionen in Italien führte und sogar mit Ex-Agenten von Mussolini besetzt wurde. Ein ähnliches Netz wurde in Deutschland mit dem Namen „Stay behind“ gebildet.

Die Democrazia Cristiana gewann die damaligen Wahlen und kontrollierte seitdem ununterbrochen die italienische Regierung. Erst Anfang der 90er Jahre brach diese Machtstruktur zusammen. Sie hatte alle möglichen Skandale überlebt, doch den Fall der Berliner Mauer nicht. Was war passiert? Man kann es nur ahnen.

Die Amerikaner drosselten schon Anfang der 90er ihre Entwicklungshilfe stark. „Die USA leisteten fast ein halbes Jahrhundert lang in absoluten Zahlen bei weitem die höchste Entwicklungshilfe, fielen aber 1993 hinter Japan und seit 1995 auch hinter Frankreich und Deutschland zurück. Der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am BSP fiel mit 0,10 % (1995) sogar auf den letzten Platz in der OECD-Vergleichstabelle“ schreibt Dieter Nohlen in seinem „Lexikon Dritte Welt“.

Es war nicht mehr nötig, den Wohlstand der Unterschichten der Welt durch Sozialstaat oder Entwicklungshilfe aufrechtzuerhalten, um die Verbreitung des Kommunismus zu einzudämmen. Vieles spricht dafür, dass die politische Machstruktur Italiens für 50 Jahre nur künstlich am Leben gehalten wurde. Es sollte vermieden werden, dass die kommunistische Partei (PCI), die zum Teil mehr als 35 % der Stimmen erhielt, an die Regierung kam. 1978 wurde der Christdemokrat Aldo Moro sogar umgebracht, nur weil er die PCI an der Regierungsbildung beteiligen wollte.

Nach 1990 änderte sich die internationale politische Lage und die Unterstützung aus dem Ausland wurde entzogen: das italienische Machtsystem brach zusammen. Silvio Berlusconi, der ein Produkt dieses System ist, stieg in die Politik ein, um sich und viele anderen vor dem Gefängnis zu retten. Italien zahlt noch heute einen hohen politischen Preis für den Marshall Plan und den alten Kalten Krieg.

Der Marshall Plan war das Ergebnis politischer und militärischer Kalküle, aber nicht nur. Die anfänglichen Investitionen rechneten sich später auch wirtschaftlich. Der reiche Absatzmarkt Europas wurde mit US-Ware gefüllt. Seitdem sind Ford, Coca Cola, Mc Donald oder Marlboro aus dem europäischen Markt nicht mehr wegzudenken.

Auch der Global Marshall Plan von Radermacher will nicht mit der bisherigen Entwicklungspolitik und ihren Denkstrukturen völlig brechen; für die Konzentration auf eine ökonomische Dimension seien als Indizien hier nur die Besteuerung von finanziellen Transaktionen und das ausformulierte Ziel einer ökosozialen Marktwirtschaft getrennt. Radermacher macht kein Heil daraus: Die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard ist sein Vorbild. Er teilt das Menschenbild des Homo Oeconomicus, nach dem jeder Mensch die meisten Entscheidungen auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Rechnung trifft. Nur eine Eigenschaft kommt bei dem Menschen Radermachers hinzu: die Kooperationsfähigkeit. Er spricht nämlich von Homo Oeconomicus Cooperans: „Das Wettbewerb ist nur dann gut, wenn er der Kooperation unter den Menschen dient. Nur die Kooperation unter den Menschen hat sich im Sinne der Evolution gelohnt.“ Reicht diese fast ästhetische Korrektur, um mit dem Zynismus des Homo Oekonomicus abzubrechen?

Und nun zur eigentlichen Frage dieses Artikels: Braucht die Welt wirklich einen „zweiten“ Marshall Plan?

Joseph Radermacher nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er das Weltdemokratieproblem analysiert. Er hat Recht: die Reichen „brauchen“ im Grunde genommen die Armen. Sie haben deshalb wenig Interesse, die Armut wirklich zu überwinden. Wer sollte sonst bestimmte Jobs für wenig Geld übernehmen?

Die Schlussfolgerungen von Radermachers sind aber so ambivalent, wie seine Analyse deutlich ist.

Globale Probleme sind heute radikal, weil ihre Ursachen und Auswirkungen die ganze gesellschaftliche Struktur betreffen [vgl. Bernd Hamm. Struktur moderner Gesellschaften, 1996]. Entsprechend radikal sollten ernstzunehmende Lösungen sein.

Das radikalste Ziel der Global-Marshall-Plan-Initiative ist die Besteuerung der internationalen Finanztransaktionen, denn damit beginnt jene Regulierung des globalen Finanzmarkts, die bisher Tabu war. Da der Widerstand gegen die Umsetzung dieses Vorhabens stark ist, ist jede Unterstützung willkommen: Schön, dass sie bei der Initiative Radermachers so breit ist.

Sonst vermisst man bei den Schlussfolgerungen Radermachers vor allem die Einbeziehung jener Strukturen, die in seiner Analyse so scharf kritisiert werden. Plötzlich sollten nur kleine diplomatische Korrekturen des Systems ausreichen, um die globalen Probleme zu lösen. Dadurch fällt man wieder in altbekannte Schemata zurück, die manche ungewöhnliche Unterstützung für die Initiative erklären könnten.

Der Bezug auf den Marshall Plan und die Zentralität der ökonomischen Dimension (im Sinne der Marktwirtschaft) sind ebenso problematisch.

Zum Marshall Plan: Selbst in Europa hat sich der damalige Marshall Plan nicht nur zum Vorteil der Hilfsnehmer ausgewirkt – sondern den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss der Amerikaner hier gestärkt. Die wenigsten wissen, inwiefern die NATO-Zugehörigkeit unsere Demokratien beschneidet und beschnitten hat. Nach dem Fall der Mauer durfte nur die Geschichte der DDR und der Stasi aufgearbeitet werden – nicht aber die Westdeutschlands. Es überrascht nicht, dass Journalisten durch den BND immer wieder abgehört werden. Es überrascht nicht, dass Europa in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen wird, denn hier wurden die alten Strukturen scheinbar nie ganz abgebaut. Die Auflösung der NATO würde nicht nur der europäischen Demokratie gut tun, sondern auch die UNO stärken.

Zur Entwicklungshilfe: Die Welt braucht keine Entwicklungshilfe in der bisherigen Form, sondern strukturelle Veränderungen, mehr gerechte Umverteilung und mehr Selbstbestimmung der Armen. Die Armen brauchen nicht nur vier (statt zwei) Dollar pro Tag.

Zum Homo Oekonomicus: Radermacher glaubt, dass Menschen berechnend sind – appelliert aber gleichzeitig an die Warmherzigkeit der Reichen und Mächtigen: Wie passt das zusammen?

Zum Glück ist nicht jeder Mensch auf dieser Welt so berechnend wie Amerikaner und Europäer. Emotionale Intelligenz ist leider keine westliche Stärke. In diesem Zusammenhang empfehle ich, den neuen Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu anzuschauen: Babel.

© Davide Brocchi, 31.01.2007