Brocchi, Davide: Braucht die Welt einen zweiten Global Marshall Plan?, 31.01.2007

Die Global Marshall Plan Initiative von Franz Josef Radermacher beruft sich auf den Erfolg des amerikanischen Programms für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa. Genauso wie die internationale Entwicklungspolitik eines halben Jahrhunderts. Davide Brocchi stellt seine ideen und Argumente überblickshaft vor.

„Die Demokratie sollte den Markt und den Wettbewerb regulieren, unsere Welt hat jedoch ein gravierendes Demokratieproblem. Ich möchte es ungeschützt sagen. Das Weltdemokratieproblem ist, dass sich 300 Millionen Menschen einen Präsidenten wie Bush leisten dürfen, während die restlichen sechs Milliarden mit ihm leben müssen!“

Die Analyse des begnadeten Redners ist mathematisch scharf und das Publikum applaudiert ihm begeistert. Auf dem Essener Campus wirbt Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher für seinen Global Marshall Plan. Die Initiative fordert unter anderem die Durchsetzung der weltweit vereinbarten Millenniumsziele der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015: „Es ist Zeit, dass die Versprechen eingehalten werden – und wir werden die Regierungen ständig daran erinnern, dass sie selbst diese entwicklungspolitischen Ziele mitunterschrieben haben!“

Die weiteren Ziele des Global Marshall Plans sind so angelegt, dass sie das breitestmögliche Spektrum an Unterstützung erreichen: von Susan George (Attac France) bis Kurt Beck (SPD), von Frank Bsirske (ver.di) bis Josef Göppel (CSU), von Johan Galtung (Trascend Peace University) bis Hans Dietrich Gescher (FDP). Die Breite der Unterstützung ist die große Stärke des Global Marshall Plans, aber auch seine große Schwäche – meinen die Kritiker. Es ist nicht viel anders als beim Begriff der Nachhaltigkeit.

Franz Josef Radermacher, 1950 in Aachen geboren, ist promovierter Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. Wie alle Keynesianer und Neokeynesianer befürwortet er einen stärkeren Eingriff des Staates in die Wirtschaft, wobei starke staatliche Investitionen durch mehr Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Nur eine gerechte Steuerpolitik kann vermeiden, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden.

Die Analyse von Radermacher könnte genauso gut aus dem kapitalismuskritischen Flügel der Linken stammen: „Europa braucht eine neue Verfassung. Doch sie soll die Menschen vor einer ungezügelten Globalisierung schützen – und nicht die ungezügelte Globalisierung vor den Menschen.“ Wie die Attac-Bewegung setzt sich auch die Global-Marshall-Plan-Initiative für eine Versteuerung der internationalen Finanztransaktionen ein, das heißt für eine „Tobin-Tax“, die Spekulationen auf den Finanzmärkten hemmen soll. Interessant zu erfahren, dass prominente SPD-, CSU- und sogar FDP-Politiker solche Positionen unterstützen. Werden diese Parteien entsprechende Gesetzesinitiativen starten?

Nach der gramerfüllten Rede von Radermacher kommt die erste Frage aus dem Publikum: „Ich kann mich an den Marshall Plan in Europa erinnern – sagt der alte Herr – damals war ich noch ein Kind. Warum wurde Ihre Initiative nach diesem Plan genannt?“

Gerade nach den scharfen Kritiken an der US-Außenpolitik eine durchaus interessante Frage. Radermacher scherzt: „Wenn man an einen Marshall denkt, stellt man sich einen Cowboy mit Pistolen und hohen Stiefeln vor. Es ist aber in diesem Fall nicht so.“

Der Marshall Plan für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa begann 1947 und ging in die Geschichte als Erfolg ein. Darauf berufen sich Radermacher und seine Initiative. Sie sind nicht die ersten, die die Bedeutung des Marshall Plans vielleicht überschätzen.

Auch die westlichen Regierungen sowie internationale Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond haben 50 Jahre lang den Marshall Plan zum Modell ihrer Entwicklungspolitik gemacht. Was sich für Europa gut bewährt hatte, müsste genauso für die Dritte Welt funktionieren: so glaubte man lange Zeit.

Das Ergebnis jenes ersten globalen Marshall Plans war aber ein ganz anderes: Diese Entwicklungspolitik diente insbesondere den Hilfsgebern, nicht immer den Hilfsnehmern – um es diplomatisch auszudrücken.

Alles begann am 20. Januar 1949, als der wiedergewählte US-Präsident Harry Truman eine berühmte Antrittsrede hielt, bei der zum ersten Mal das Wort „Unterentwicklung“ fiel. Truman betrachtete nur das westliche Gesellschaftsmodell als entwickelt, während der größte Teil der Menschheit bei ihm als unterentwickelt galt. Wer anders lebte, wurde praktisch auf einen Schlag als hilfsbedürftig und nicht-gleichwertig eingestuft. Infolgedessen starteten die USA mit den Ex-Kolonialmächten ein paternalistisches Programm, das sie Entwicklungshilfe für die Dritte Welt nannten. Das deklarierte Ziel dieser Entwicklungspolitik war, unterentwickelten Ländern zu helfen, dem Entwicklungsstand westlicher Länder zu erreichen bzw. den Entwicklungsrückstand wieder gut zu machen. Durch ein big push von außen, in Form einer massiven Kapital- und Investitionsspritze, sollten sich die unterentwickelten Länder von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft entwickeln. Nach dem linearen Entwicklungsmodell der Modernisierung wurde jede Tradition mit Unterentwicklung und Armut gleichsetzt, wobei alles, was von dem kapitalistischen und konsumistischen Lebensstil abwich, als „Tradition“ und „Armut“ galt.

Schon in den 60er Jahren wurde klar, dass dieser erste Global Marshall Plan für Afrika oder Lateinamerika zu ganz anderen Ergebnissen als in Europa führte. Der Abstand zwischen reichen und armen Ländern wuchs weiter. Trotzdem wurde diese Entwicklungspolitik weiter getrieben. Für die negativen Ergebnisse machte der Westen die internen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der unterentwickelten Länder verantwortlich. Zum Beispiel waren afrikanische Regierungen für Korruption anfällig. Arme Menschen konnten nicht profitorientiert und effizient arbeiten. Die einheimischen Gebräuche galten als Hindernis für die Modernisierung, insbesondere wenn sie auf sozialistische oder gar auf kommunistische Ideologien trafen.

Die westlichen Nationen bekämpften diese Hindernisse im Name der Entwicklung, im Extremfall durch militärische Einsätze oder Geheimoperationen (u.a. Chile, 1973). Agrarreformen gegen große Landbesitzer oder politische Bewegungen gegen die Wirtschaftsinteressen der Multinationalen wurden fast automatisch als „kommunistisch“ bezeichnet, obwohl das deklarierte Ziel der Entwicklungspolitik „mehr Wohlstand für die Armen“ hieß.

Und so wiederholte sich jahrzehntelang die entwicklungspolitische Katastrophe, die zum heutigen Zustand geführt hat. Auch die angebliche „Demokratisierung“ des Iraks passt in dieses Bild sehr gut.

Der Marshall Plan war kein Kind der Liebe. Genauso ist es mit der bisherigen Entwicklungspolitik: sie war oft das Ergebnis von kühnen Kosten-Nutzen-Rechnungen – und zwar im Sinne der Hilfsgeber.

Der Soziologe und katholische Theologe Wolfgang Sachs hat 1998 ein kritisches Lexikon der Entwicklungspolitik in Italien veröffentlicht. „Il Dizionario dello sviluppo“ enthält ein interessantes Kapitel über die Ambivalenz des Worts „Hilfe“. Es gibt nämlich eine Form von „Hilfe“, die in der Entwicklungspolitik immer wieder vorkommt: Wer es schafft, andere von sich selbst abhängig zu machen und abhängig zu halten, hat Macht über sie.

Auch der Marshall Plan verfolgte dieses Ziel. Er war nicht zuletzt eine Strategie gegen die drohende Verbreitung der sozialistischen Ideen in Europa, die gerade nach dem Nationalsozialismus an Boden gewonnen hatten. Besonders stark griffen die Amerikaner bei den politischen Wahlen von 1948 in Italien ein, als sich eine Volksfront von Sozialisten und Kommunisten und die Democrazia Cristiana von Alcide De Gasperi (dem Adenauer Italiens) gegenüberstanden. Die linke Volksfront hatte gute Chancen. So drohte die Democrazia Cristiana mit einer Aussetzung des Marshall Plans, falls die Kommunisten die Wahlen gewonnen hätten.

Heute wissen wir, dass der US-Geheimdienst viel Geld in die Kasse der Democrazia Cristiana fließen ließ. Die CIA förderte die Bildung eines paramilitärischen Netzes mit dem Namen „Gladio“, das Geheimaktionen in Italien führte und sogar mit Ex-Agenten von Mussolini besetzt wurde. Ein ähnliches Netz wurde in Deutschland mit dem Namen „Stay behind“ gebildet.

Die Democrazia Cristiana gewann die damaligen Wahlen und kontrollierte seitdem ununterbrochen die italienische Regierung. Erst Anfang der 90er Jahre brach diese Machtstruktur zusammen. Sie hatte alle möglichen Skandale überlebt, doch den Fall der Berliner Mauer nicht. Was war passiert? Man kann es nur ahnen.

Die Amerikaner drosselten schon Anfang der 90er ihre Entwicklungshilfe stark. „Die USA leisteten fast ein halbes Jahrhundert lang in absoluten Zahlen bei weitem die höchste Entwicklungshilfe, fielen aber 1993 hinter Japan und seit 1995 auch hinter Frankreich und Deutschland zurück. Der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am BSP fiel mit 0,10 % (1995) sogar auf den letzten Platz in der OECD-Vergleichstabelle“ schreibt Dieter Nohlen in seinem „Lexikon Dritte Welt“.

Es war nicht mehr nötig, den Wohlstand der Unterschichten der Welt durch Sozialstaat oder Entwicklungshilfe aufrechtzuerhalten, um die Verbreitung des Kommunismus zu einzudämmen. Vieles spricht dafür, dass die politische Machstruktur Italiens für 50 Jahre nur künstlich am Leben gehalten wurde. Es sollte vermieden werden, dass die kommunistische Partei (PCI), die zum Teil mehr als 35 % der Stimmen erhielt, an die Regierung kam. 1978 wurde der Christdemokrat Aldo Moro sogar umgebracht, nur weil er die PCI an der Regierungsbildung beteiligen wollte.

Nach 1990 änderte sich die internationale politische Lage und die Unterstützung aus dem Ausland wurde entzogen: das italienische Machtsystem brach zusammen. Silvio Berlusconi, der ein Produkt dieses System ist, stieg in die Politik ein, um sich und viele anderen vor dem Gefängnis zu retten. Italien zahlt noch heute einen hohen politischen Preis für den Marshall Plan und den alten Kalten Krieg.

Der Marshall Plan war das Ergebnis politischer und militärischer Kalküle, aber nicht nur. Die anfänglichen Investitionen rechneten sich später auch wirtschaftlich. Der reiche Absatzmarkt Europas wurde mit US-Ware gefüllt. Seitdem sind Ford, Coca Cola, Mc Donald oder Marlboro aus dem europäischen Markt nicht mehr wegzudenken.

Auch der Global Marshall Plan von Radermacher will nicht mit der bisherigen Entwicklungspolitik und ihren Denkstrukturen völlig brechen; für die Konzentration auf eine ökonomische Dimension seien als Indizien hier nur die Besteuerung von finanziellen Transaktionen und das ausformulierte Ziel einer ökosozialen Marktwirtschaft getrennt. Radermacher macht kein Heil daraus: Die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard ist sein Vorbild. Er teilt das Menschenbild des Homo Oeconomicus, nach dem jeder Mensch die meisten Entscheidungen auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Rechnung trifft. Nur eine Eigenschaft kommt bei dem Menschen Radermachers hinzu: die Kooperationsfähigkeit. Er spricht nämlich von Homo Oeconomicus Cooperans: „Das Wettbewerb ist nur dann gut, wenn er der Kooperation unter den Menschen dient. Nur die Kooperation unter den Menschen hat sich im Sinne der Evolution gelohnt.“ Reicht diese fast ästhetische Korrektur, um mit dem Zynismus des Homo Oekonomicus abzubrechen?

Und nun zur eigentlichen Frage dieses Artikels: Braucht die Welt wirklich einen „zweiten“ Marshall Plan?

Joseph Radermacher nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er das Weltdemokratieproblem analysiert. Er hat Recht: die Reichen „brauchen“ im Grunde genommen die Armen. Sie haben deshalb wenig Interesse, die Armut wirklich zu überwinden. Wer sollte sonst bestimmte Jobs für wenig Geld übernehmen?

Die Schlussfolgerungen von Radermachers sind aber so ambivalent, wie seine Analyse deutlich ist.

Globale Probleme sind heute radikal, weil ihre Ursachen und Auswirkungen die ganze gesellschaftliche Struktur betreffen [vgl. Bernd Hamm. Struktur moderner Gesellschaften, 1996]. Entsprechend radikal sollten ernstzunehmende Lösungen sein.

Das radikalste Ziel der Global-Marshall-Plan-Initiative ist die Besteuerung der internationalen Finanztransaktionen, denn damit beginnt jene Regulierung des globalen Finanzmarkts, die bisher Tabu war. Da der Widerstand gegen die Umsetzung dieses Vorhabens stark ist, ist jede Unterstützung willkommen: Schön, dass sie bei der Initiative Radermachers so breit ist.

Sonst vermisst man bei den Schlussfolgerungen Radermachers vor allem die Einbeziehung jener Strukturen, die in seiner Analyse so scharf kritisiert werden. Plötzlich sollten nur kleine diplomatische Korrekturen des Systems ausreichen, um die globalen Probleme zu lösen. Dadurch fällt man wieder in altbekannte Schemata zurück, die manche ungewöhnliche Unterstützung für die Initiative erklären könnten.

Der Bezug auf den Marshall Plan und die Zentralität der ökonomischen Dimension (im Sinne der Marktwirtschaft) sind ebenso problematisch.

Zum Marshall Plan: Selbst in Europa hat sich der damalige Marshall Plan nicht nur zum Vorteil der Hilfsnehmer ausgewirkt – sondern den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss der Amerikaner hier gestärkt. Die wenigsten wissen, inwiefern die NATO-Zugehörigkeit unsere Demokratien beschneidet und beschnitten hat. Nach dem Fall der Mauer durfte nur die Geschichte der DDR und der Stasi aufgearbeitet werden – nicht aber die Westdeutschlands. Es überrascht nicht, dass Journalisten durch den BND immer wieder abgehört werden. Es überrascht nicht, dass Europa in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen wird, denn hier wurden die alten Strukturen scheinbar nie ganz abgebaut. Die Auflösung der NATO würde nicht nur der europäischen Demokratie gut tun, sondern auch die UNO stärken.

Zur Entwicklungshilfe: Die Welt braucht keine Entwicklungshilfe in der bisherigen Form, sondern strukturelle Veränderungen, mehr gerechte Umverteilung und mehr Selbstbestimmung der Armen. Die Armen brauchen nicht nur vier (statt zwei) Dollar pro Tag.

Zum Homo Oekonomicus: Radermacher glaubt, dass Menschen berechnend sind – appelliert aber gleichzeitig an die Warmherzigkeit der Reichen und Mächtigen: Wie passt das zusammen?

Zum Glück ist nicht jeder Mensch auf dieser Welt so berechnend wie Amerikaner und Europäer. Emotionale Intelligenz ist leider keine westliche Stärke. In diesem Zusammenhang empfehle ich, den neuen Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu anzuschauen: Babel.

© Davide Brocchi, 31.01.2007