Brocchi, Davide: Braucht die Welt einen zweiten Global Marshall Plan?, 31.01.2007

Die Global Marshall Plan Initiative von Franz Josef Radermacher beruft sich auf den Erfolg des amerikanischen Programms für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa. Genauso wie die internationale Entwicklungspolitik eines halben Jahrhunderts. Davide Brocchi stellt seine ideen und Argumente überblickshaft vor.

„Die Demokratie sollte den Markt und den Wettbewerb regulieren, unsere Welt hat jedoch ein gravierendes Demokratieproblem. Ich möchte es ungeschützt sagen. Das Weltdemokratieproblem ist, dass sich 300 Millionen Menschen einen Präsidenten wie Bush leisten dürfen, während die restlichen sechs Milliarden mit ihm leben müssen!“

Die Analyse des begnadeten Redners ist mathematisch scharf und das Publikum applaudiert ihm begeistert. Auf dem Essener Campus wirbt Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher für seinen Global Marshall Plan. Die Initiative fordert unter anderem die Durchsetzung der weltweit vereinbarten Millenniumsziele der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015: „Es ist Zeit, dass die Versprechen eingehalten werden – und wir werden die Regierungen ständig daran erinnern, dass sie selbst diese entwicklungspolitischen Ziele mitunterschrieben haben!“

Die weiteren Ziele des Global Marshall Plans sind so angelegt, dass sie das breitestmögliche Spektrum an Unterstützung erreichen: von Susan George (Attac France) bis Kurt Beck (SPD), von Frank Bsirske (ver.di) bis Josef Göppel (CSU), von Johan Galtung (Trascend Peace University) bis Hans Dietrich Gescher (FDP). Die Breite der Unterstützung ist die große Stärke des Global Marshall Plans, aber auch seine große Schwäche – meinen die Kritiker. Es ist nicht viel anders als beim Begriff der Nachhaltigkeit.

Franz Josef Radermacher, 1950 in Aachen geboren, ist promovierter Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. Wie alle Keynesianer und Neokeynesianer befürwortet er einen stärkeren Eingriff des Staates in die Wirtschaft, wobei starke staatliche Investitionen durch mehr Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Nur eine gerechte Steuerpolitik kann vermeiden, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden.

Die Analyse von Radermacher könnte genauso gut aus dem kapitalismuskritischen Flügel der Linken stammen: „Europa braucht eine neue Verfassung. Doch sie soll die Menschen vor einer ungezügelten Globalisierung schützen – und nicht die ungezügelte Globalisierung vor den Menschen.“ Wie die Attac-Bewegung setzt sich auch die Global-Marshall-Plan-Initiative für eine Versteuerung der internationalen Finanztransaktionen ein, das heißt für eine „Tobin-Tax“, die Spekulationen auf den Finanzmärkten hemmen soll. Interessant zu erfahren, dass prominente SPD-, CSU- und sogar FDP-Politiker solche Positionen unterstützen. Werden diese Parteien entsprechende Gesetzesinitiativen starten?

Nach der gramerfüllten Rede von Radermacher kommt die erste Frage aus dem Publikum: „Ich kann mich an den Marshall Plan in Europa erinnern – sagt der alte Herr – damals war ich noch ein Kind. Warum wurde Ihre Initiative nach diesem Plan genannt?“

Gerade nach den scharfen Kritiken an der US-Außenpolitik eine durchaus interessante Frage. Radermacher scherzt: „Wenn man an einen Marshall denkt, stellt man sich einen Cowboy mit Pistolen und hohen Stiefeln vor. Es ist aber in diesem Fall nicht so.“

Der Marshall Plan für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa begann 1947 und ging in die Geschichte als Erfolg ein. Darauf berufen sich Radermacher und seine Initiative. Sie sind nicht die ersten, die die Bedeutung des Marshall Plans vielleicht überschätzen.

Auch die westlichen Regierungen sowie internationale Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond haben 50 Jahre lang den Marshall Plan zum Modell ihrer Entwicklungspolitik gemacht. Was sich für Europa gut bewährt hatte, müsste genauso für die Dritte Welt funktionieren: so glaubte man lange Zeit.

Das Ergebnis jenes ersten globalen Marshall Plans war aber ein ganz anderes: Diese Entwicklungspolitik diente insbesondere den Hilfsgebern, nicht immer den Hilfsnehmern – um es diplomatisch auszudrücken.

Alles begann am 20. Januar 1949, als der wiedergewählte US-Präsident Harry Truman eine berühmte Antrittsrede hielt, bei der zum ersten Mal das Wort „Unterentwicklung“ fiel. Truman betrachtete nur das westliche Gesellschaftsmodell als entwickelt, während der größte Teil der Menschheit bei ihm als unterentwickelt galt. Wer anders lebte, wurde praktisch auf einen Schlag als hilfsbedürftig und nicht-gleichwertig eingestuft. Infolgedessen starteten die USA mit den Ex-Kolonialmächten ein paternalistisches Programm, das sie Entwicklungshilfe für die Dritte Welt nannten. Das deklarierte Ziel dieser Entwicklungspolitik war, unterentwickelten Ländern zu helfen, dem Entwicklungsstand westlicher Länder zu erreichen bzw. den Entwicklungsrückstand wieder gut zu machen. Durch ein big push von außen, in Form einer massiven Kapital- und Investitionsspritze, sollten sich die unterentwickelten Länder von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft entwickeln. Nach dem linearen Entwicklungsmodell der Modernisierung wurde jede Tradition mit Unterentwicklung und Armut gleichsetzt, wobei alles, was von dem kapitalistischen und konsumistischen Lebensstil abwich, als „Tradition“ und „Armut“ galt.

Schon in den 60er Jahren wurde klar, dass dieser erste Global Marshall Plan für Afrika oder Lateinamerika zu ganz anderen Ergebnissen als in Europa führte. Der Abstand zwischen reichen und armen Ländern wuchs weiter. Trotzdem wurde diese Entwicklungspolitik weiter getrieben. Für die negativen Ergebnisse machte der Westen die internen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der unterentwickelten Länder verantwortlich. Zum Beispiel waren afrikanische Regierungen für Korruption anfällig. Arme Menschen konnten nicht profitorientiert und effizient arbeiten. Die einheimischen Gebräuche galten als Hindernis für die Modernisierung, insbesondere wenn sie auf sozialistische oder gar auf kommunistische Ideologien trafen.

Die westlichen Nationen bekämpften diese Hindernisse im Name der Entwicklung, im Extremfall durch militärische Einsätze oder Geheimoperationen (u.a. Chile, 1973). Agrarreformen gegen große Landbesitzer oder politische Bewegungen gegen die Wirtschaftsinteressen der Multinationalen wurden fast automatisch als „kommunistisch“ bezeichnet, obwohl das deklarierte Ziel der Entwicklungspolitik „mehr Wohlstand für die Armen“ hieß.

Und so wiederholte sich jahrzehntelang die entwicklungspolitische Katastrophe, die zum heutigen Zustand geführt hat. Auch die angebliche „Demokratisierung“ des Iraks passt in dieses Bild sehr gut.

Der Marshall Plan war kein Kind der Liebe. Genauso ist es mit der bisherigen Entwicklungspolitik: sie war oft das Ergebnis von kühnen Kosten-Nutzen-Rechnungen – und zwar im Sinne der Hilfsgeber.

Der Soziologe und katholische Theologe Wolfgang Sachs hat 1998 ein kritisches Lexikon der Entwicklungspolitik in Italien veröffentlicht. „Il Dizionario dello sviluppo“ enthält ein interessantes Kapitel über die Ambivalenz des Worts „Hilfe“. Es gibt nämlich eine Form von „Hilfe“, die in der Entwicklungspolitik immer wieder vorkommt: Wer es schafft, andere von sich selbst abhängig zu machen und abhängig zu halten, hat Macht über sie.

Auch der Marshall Plan verfolgte dieses Ziel. Er war nicht zuletzt eine Strategie gegen die drohende Verbreitung der sozialistischen Ideen in Europa, die gerade nach dem Nationalsozialismus an Boden gewonnen hatten. Besonders stark griffen die Amerikaner bei den politischen Wahlen von 1948 in Italien ein, als sich eine Volksfront von Sozialisten und Kommunisten und die Democrazia Cristiana von Alcide De Gasperi (dem Adenauer Italiens) gegenüberstanden. Die linke Volksfront hatte gute Chancen. So drohte die Democrazia Cristiana mit einer Aussetzung des Marshall Plans, falls die Kommunisten die Wahlen gewonnen hätten.

Heute wissen wir, dass der US-Geheimdienst viel Geld in die Kasse der Democrazia Cristiana fließen ließ. Die CIA förderte die Bildung eines paramilitärischen Netzes mit dem Namen „Gladio“, das Geheimaktionen in Italien führte und sogar mit Ex-Agenten von Mussolini besetzt wurde. Ein ähnliches Netz wurde in Deutschland mit dem Namen „Stay behind“ gebildet.

Die Democrazia Cristiana gewann die damaligen Wahlen und kontrollierte seitdem ununterbrochen die italienische Regierung. Erst Anfang der 90er Jahre brach diese Machtstruktur zusammen. Sie hatte alle möglichen Skandale überlebt, doch den Fall der Berliner Mauer nicht. Was war passiert? Man kann es nur ahnen.

Die Amerikaner drosselten schon Anfang der 90er ihre Entwicklungshilfe stark. „Die USA leisteten fast ein halbes Jahrhundert lang in absoluten Zahlen bei weitem die höchste Entwicklungshilfe, fielen aber 1993 hinter Japan und seit 1995 auch hinter Frankreich und Deutschland zurück. Der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am BSP fiel mit 0,10 % (1995) sogar auf den letzten Platz in der OECD-Vergleichstabelle“ schreibt Dieter Nohlen in seinem „Lexikon Dritte Welt“.

Es war nicht mehr nötig, den Wohlstand der Unterschichten der Welt durch Sozialstaat oder Entwicklungshilfe aufrechtzuerhalten, um die Verbreitung des Kommunismus zu einzudämmen. Vieles spricht dafür, dass die politische Machstruktur Italiens für 50 Jahre nur künstlich am Leben gehalten wurde. Es sollte vermieden werden, dass die kommunistische Partei (PCI), die zum Teil mehr als 35 % der Stimmen erhielt, an die Regierung kam. 1978 wurde der Christdemokrat Aldo Moro sogar umgebracht, nur weil er die PCI an der Regierungsbildung beteiligen wollte.

Nach 1990 änderte sich die internationale politische Lage und die Unterstützung aus dem Ausland wurde entzogen: das italienische Machtsystem brach zusammen. Silvio Berlusconi, der ein Produkt dieses System ist, stieg in die Politik ein, um sich und viele anderen vor dem Gefängnis zu retten. Italien zahlt noch heute einen hohen politischen Preis für den Marshall Plan und den alten Kalten Krieg.

Der Marshall Plan war das Ergebnis politischer und militärischer Kalküle, aber nicht nur. Die anfänglichen Investitionen rechneten sich später auch wirtschaftlich. Der reiche Absatzmarkt Europas wurde mit US-Ware gefüllt. Seitdem sind Ford, Coca Cola, Mc Donald oder Marlboro aus dem europäischen Markt nicht mehr wegzudenken.

Auch der Global Marshall Plan von Radermacher will nicht mit der bisherigen Entwicklungspolitik und ihren Denkstrukturen völlig brechen; für die Konzentration auf eine ökonomische Dimension seien als Indizien hier nur die Besteuerung von finanziellen Transaktionen und das ausformulierte Ziel einer ökosozialen Marktwirtschaft getrennt. Radermacher macht kein Heil daraus: Die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard ist sein Vorbild. Er teilt das Menschenbild des Homo Oeconomicus, nach dem jeder Mensch die meisten Entscheidungen auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Rechnung trifft. Nur eine Eigenschaft kommt bei dem Menschen Radermachers hinzu: die Kooperationsfähigkeit. Er spricht nämlich von Homo Oeconomicus Cooperans: „Das Wettbewerb ist nur dann gut, wenn er der Kooperation unter den Menschen dient. Nur die Kooperation unter den Menschen hat sich im Sinne der Evolution gelohnt.“ Reicht diese fast ästhetische Korrektur, um mit dem Zynismus des Homo Oekonomicus abzubrechen?

Und nun zur eigentlichen Frage dieses Artikels: Braucht die Welt wirklich einen „zweiten“ Marshall Plan?

Joseph Radermacher nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er das Weltdemokratieproblem analysiert. Er hat Recht: die Reichen „brauchen“ im Grunde genommen die Armen. Sie haben deshalb wenig Interesse, die Armut wirklich zu überwinden. Wer sollte sonst bestimmte Jobs für wenig Geld übernehmen?

Die Schlussfolgerungen von Radermachers sind aber so ambivalent, wie seine Analyse deutlich ist.

Globale Probleme sind heute radikal, weil ihre Ursachen und Auswirkungen die ganze gesellschaftliche Struktur betreffen [vgl. Bernd Hamm. Struktur moderner Gesellschaften, 1996]. Entsprechend radikal sollten ernstzunehmende Lösungen sein.

Das radikalste Ziel der Global-Marshall-Plan-Initiative ist die Besteuerung der internationalen Finanztransaktionen, denn damit beginnt jene Regulierung des globalen Finanzmarkts, die bisher Tabu war. Da der Widerstand gegen die Umsetzung dieses Vorhabens stark ist, ist jede Unterstützung willkommen: Schön, dass sie bei der Initiative Radermachers so breit ist.

Sonst vermisst man bei den Schlussfolgerungen Radermachers vor allem die Einbeziehung jener Strukturen, die in seiner Analyse so scharf kritisiert werden. Plötzlich sollten nur kleine diplomatische Korrekturen des Systems ausreichen, um die globalen Probleme zu lösen. Dadurch fällt man wieder in altbekannte Schemata zurück, die manche ungewöhnliche Unterstützung für die Initiative erklären könnten.

Der Bezug auf den Marshall Plan und die Zentralität der ökonomischen Dimension (im Sinne der Marktwirtschaft) sind ebenso problematisch.

Zum Marshall Plan: Selbst in Europa hat sich der damalige Marshall Plan nicht nur zum Vorteil der Hilfsnehmer ausgewirkt – sondern den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss der Amerikaner hier gestärkt. Die wenigsten wissen, inwiefern die NATO-Zugehörigkeit unsere Demokratien beschneidet und beschnitten hat. Nach dem Fall der Mauer durfte nur die Geschichte der DDR und der Stasi aufgearbeitet werden – nicht aber die Westdeutschlands. Es überrascht nicht, dass Journalisten durch den BND immer wieder abgehört werden. Es überrascht nicht, dass Europa in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen wird, denn hier wurden die alten Strukturen scheinbar nie ganz abgebaut. Die Auflösung der NATO würde nicht nur der europäischen Demokratie gut tun, sondern auch die UNO stärken.

Zur Entwicklungshilfe: Die Welt braucht keine Entwicklungshilfe in der bisherigen Form, sondern strukturelle Veränderungen, mehr gerechte Umverteilung und mehr Selbstbestimmung der Armen. Die Armen brauchen nicht nur vier (statt zwei) Dollar pro Tag.

Zum Homo Oekonomicus: Radermacher glaubt, dass Menschen berechnend sind – appelliert aber gleichzeitig an die Warmherzigkeit der Reichen und Mächtigen: Wie passt das zusammen?

Zum Glück ist nicht jeder Mensch auf dieser Welt so berechnend wie Amerikaner und Europäer. Emotionale Intelligenz ist leider keine westliche Stärke. In diesem Zusammenhang empfehle ich, den neuen Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu anzuschauen: Babel.

© Davide Brocchi, 31.01.2007

Wirtschaftlicher und sozialer Umbruch weltweit…wann? UNO Vizegeneralsekretär José Antonio Ocampo im Interview mit Camilo Jimenez, 12.01.07

Interview* mit dem UNO Vizegeneralsekretär José Antonio Ocampo

Auch im Wirtschafts- und Sozialbereich ist der Prestigeverlust der UNO nichts Neues. Schon während der achtziger und neunziger Jahre büßte die Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten heftig an Einfluss ein, als die Weltbank und andere Organisationen die Zügel der Weltwirtschafts- und -sozialordnung übernahmen. Aus dieser Ohnmacht heraus zu kommen und eine regulierende und letztendlich definierende Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Geschehen zu spielen, sind die Ziele des UNO Vizegeneralsekretärs José Antonio Ocampo. Im Gespräch mit dem AVINUS Magazin sprach der seit 2003 amtierende Leiter der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten über Armut und Elend, über die Weltwirtschaftslage und über seine Bemühungen auf der weltpolitischen Spitze.

Ein weiteres Jahr ging zu Ende und die Jahresberichte der UNO enthüllen einen katastrophalen Zustand der Weltgemeinschaft: Armut und Ungleichheit nehmen zu, die Arbeitslosigkeit gerät sogar in den Industrieländern außer Kontrolle, Hunger und Elend kosteten letztes Jahr Millionen von Menschen das Leben. Wie sehen Sie als Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen und Leiter der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten diese Situation?

Lassen Sie mich das Ganze auf die wirtschaftlichen und sozialen Themen konzentrieren. In Wirklichkeit ist die Situation viel besser als die etwas düsteren, in der Welt kursierenden Bilder es annehmen lassen. Als Gruppe erleben die Entwicklungsländer seit vier Jahren ihre größte wirtschaftliche Wachstumsperiode seit langer Zeit. Sie sind dieses Jahr durchschnittlich um 6,5% gewachsen. Gleichzeitig erlebte der afrikanische Kontinent dieses Jahr die wirtschaftliche Blütezeit seiner Geschichte. Obwohl es bisher noch keine Schätzungen für Probleme wie extreme Armut gibt, sehen wir somit eine Verbesserung der Situation in Teilen der Welt, in denen es bisher keine starken Signale der Verbesserung gab. Auch in Lateinamerika, wo die Armut durch die Krise Ende der neunziger Jahre zugenommen hatte, beginnen die Zahlen dieses Jahrhundert zurückzugehen.

Aber die Zahlen zeigen, dass weltweit – und besonders in Lateinamerika – weiterhin eine groteske Ungleichheit herrscht. Die Hälfte des globalen Vermögens gehört 1% der Weltbevölkerung und 40% der lateinamerikanischen Bevölkerung lebt noch immer in extremer Armut.

In keinster Weise. Ich bin fest davon überzeugt, dass Lateinamerika die extreme Armut beseitigen kann. Klar sind die enormen Ausmaße der Ungleichheit immer noch das große Problem. Aber selbst in Bezug auf diese Ungleichheit, auch wenn die Geschichte bis heute das Gegenteil zeigt, ist Fortschritt möglich. Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass jegliche Maßnahme gegen die Ungleichheit unweigerlich eine langfristige Maßnahme ist. An erster Stelle muss man den Aufbau eines Bildungskapitals, eines höheren Bildungsstandards – und zwar eines qualitativ hochwertigen – für die ärmsten Schichten der Bevölkerung ermöglichen. Gleichzeitig müssen Mechanismen entwickelt werden, die den kleinen Produzenten und Unternehmen, besonders in ländlichen Gegenden, Zugang zu Land und Technologien verschaffen und die gleichfalls einen aktiven Gebrauch des Steuer- und besonders des Finanzsystems erlauben, um die Verteilung des Einkommens zu verbessern. In einigen dieser Maßnahmen, muss ich sagen, machen viele lateinamerikanische Länder Fortschritte. Ergebnisse werden wir erst längerfristig sehen.

Man sieht aber mehr Rückschritte als Fortschritte…

Das liegt daran, dass diese Fortschritte eben auch Rückschritte mit sich bringen: Zwei Schritten nach vorne folgt meist ein Schritt nach hinten. Sehen wir uns zum Beispiel die Bildung an. Zweifelsohne ist Lateinamerika in Sachen Bildung vorangekommen – das ist eins der Millennium-Entwicklungsziele, das auf diesem Kontinent mit Sicherheit erreicht werden wird. Gleichzeitig deuten allerdings viele Daten an, dass sich die Spaltung, die das Bildungssystem verursacht, in vielen Ländern immer mehr besonders in der Kluft zwischen privater, qualitativ hochwertiger und öffentlicher Bildung widerspiegelt. Insofern bietet das Bildungssystem zwar einerseits höhere Ausbildungsstandards für die ganze Bevölkerung, entfernt sich aber andererseits in gewissem Sinne von der Bevölkerungsmehrheit. Infolgedessen sind die Fortschritte ambivalent. Und dies kann man nur langfristig lösen, indem man die Qualität der öffentlichen Bildung signifikant verbessert.

Von der UNO unabhängige Organisationen entwickeln seit einigen Jahren Modelle, durch die beispielsweise die extreme Armut beseitigt werden könnte. Wie sieht die UNO das vom Basic Income Earth Network (BIEN) angestoßene Projekt zur Einführung eines weltweiten Grundeinkommens?

Einige von diesen Modellen werden zurzeit in Lateinamerika umgesetzt; sie gehen in eine entsprechende Richtung und haben ihre Ziele tatsächlich erreicht. Besonders in Brasilien durch die so genannte Bolsa Familia und in Mexiko durch das Programm Oportunidades, wo armen Familien ein Grundeinkommen angeboten wird unter der Bedingung, dass die Kinder zur Schule und die Mütter zu regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen gehen, hat man gezeigt, dass Initiativen dieser Art interessante Alternativen sein können. Es sind Instrumente, die – ohne große staatliche Gelder zu kosten – eine Verbesserung der Verhältnisse in den ärmsten Haushalten erzielen. Das kann als eine Art Grundeinkommen betrachtet werden und hat den zusätzlichen Vorteil, dass es mit Verbesserungen im Bereich der Bildung und der Gesundheit verbunden ist.

Warum erhalten diese Projekte dann keine umfassende Unterstützung?

Das Problem ist, dass diese Mechanismen in Konkurrenz treten mit anderen staatlichen Formen der finanziellen Unterstützung. Also, wenn eine Regierung diesbezüglich zu einem Entschluss kommen muss, stellt sie fest, dass es nicht so viel Sinn hat, solchen Programmen Geld zuzuweisen, wenn für Investitionen oder die Gesundheit Geldmittel fehlen. Daher sehen sich die Staaten vielmals gezwungen, Entscheidungen zu fällen, die nicht unbedingt die günstigsten sind. Grundsätzlich denke ich, dass das Grundeinkommen eine gute Option ist. Aber man sollte immer vor Augen haben, dass es noch anderen Bedarf nach öffentlichen Geldern gibt und dass immer eine Auswahl getroffen werden muss.

Mit den Millennium-Villages der UNO wurde durch ein groß angelegtes soziales Projekt ein Meilenstein zur Verbesserung der Situation der ärmsten Schichten in den Entwicklungsländern gesetzt. Was hat die UNO aus ihrer Erfahrung mit den Millennium Villages gelernt?

Die Millennium Villages sind ein Pionierprojekt und es gibt bereits verschiedene Beispiele, hauptsächlich in Afrika. Ich glaube, dass es ein interessantes Modell ist. Trotzdem bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der Fortschritt der Gesellschaft in Bezug auf die Millennium Entwicklungsziele unbedingt über den Staat laufen muss. Es ist der Staat, der die grundlegenden sozialen Dienste zur Verfügung stellen muss. Aus diesem Grund sollte man nicht versuchen, die eigentlich staatlichen Programme durch zusätzliche Mechanismen zu ersetzen. In den armen Ländern beobachten wir oft, dass durch zielgerichtete Aktionen – sogar Aktionen der NGOs – versucht wird, parallel zum Staat zu arbeiten, obwohl ja eigentlich alles über den Staat laufen müsste. In allen Ländern dieser Welt, die zumindest in Bezug auf die Überwindung grundlegender sozialer Probleme große Fortschritte gemacht haben, ist der Staat die treibende Kraft gewesen. Die Millennium Villages sind wichtig, sofern sie in andere, umfassendere staatliche Programme eingegliedert werden. Für die armen Länder gibt es zurzeit bei uns in der UNO viel Aufmerksamkeit in dieser Sache, denn die Wahrheit ist, dass viele dieser sozialen Programme parallel zum Staat durchgeführt werden, was langfristig nicht die erhofften Wirkungen erzielen wird, da sie nicht im Sinne des State Building den Staat aufbauen – das aber ist nötig für alle diese Länder, um voranzukommen.

Die Amtszeit Kofi Annans hinterlässt die UNO, was ihre Teilnahme an der internationalen Politik angeht, als geschwächte Organisation. Empfinden Sie einen ähnlichen Verlust an Glaubwürdigkeit und Partizipation in der Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten?

Auf dem Gebiet der Entwicklung ist die Amtszeit Kofi Annans durch drei große Meilensteine gekennzeichnet: Der erste ist der Millenniumsgipfel und die Millennium Entwicklungsziele, die dort ausgerufen wurden, sowie seine Fortsetzung im Jahre 2005. Diese beiden Ereignisse brachten die meisten Staatschefs in der Weltgeschichte an einem Ort zusammen. Die Entwicklungsziele sind zu einer Leitlinie der internationalen Agenda geworden: Die europäischen Zusammenarbeitsorganisationen haben sie aufgegriffen; die Empfängerländer haben sie angenommen; die Niedrigeinkommensländer agieren in allem, was ihre Beziehungen mit der Internationalen Gemeinschaft betrifft, im Rahmen dieser Agenda; und gleichfalls hat jede Entwicklungsbank diese Agenda ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Sogar die Islamische Entwicklungsbank hat vor einem Monat während einer Generalversammlung bezüglich der Entwicklungsziele, insbesondere ihrer Kooperation mit Afrika, diese Agenda präsentiert.

Und die anderen beiden Meilensteine?

Der zweite Meilenstein stellt die Monterrey-Konferenz für die Finanzierung der Entwicklung im Jahr 2002 dar. Dieser Gipfel ist sehr wichtig, weil er zum Rahmen der ersten internationalen finanziellen Zusammenarbeit der Geschichte wurde. Und aus dem so genannten Monterrey-Konsensus entstand das Konzept des Global Partnership for Development, die Idee, dass die Weltentwicklung nur aus einem Zusammenschluss von Industrie- und Entwicklungsländern entspringen kann. Jener hat ebenso seine Tragkraft in Hinblick auf die nationalen Bemühungen und auf die internationale Zusammenarbeit in Handels- und Finanzfragen, besonders im finanziellen Bereich entfaltet der Monterrey-Konsensus seine ganze Reichweite. Der dritte Meilenstein ist der Gipfel von Johannesburg im Jahre 2002, der auf den Erdgipfel in Río de Janeiro folgte. Dieser Gipfel ist sehr wichtig, da hier die Agenda für nachhaltige Entwicklung auf internationaler Ebene wieder aufgegriffen wurde– damit blieb sie im Zentrum der Aufmerksamkeit.

In welchem Zustand haben Sie die Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten 2003 übernommen und wo haben Sie den Schwerpunkt gesetzt?

Diese Abteilung war das Ergebnis einer Fusion dreier Abteilungen. Als ich hier ankam, spürte man die Spaltung noch stark. Die Hauptfunktion der Abteilung ist es, die Entwicklungsdebatte der UNO zu unterstützen – ich meine die Debatte in der Generalversammlung, im Wirtschafts- und Sozialrat, in den mannigfaltigen Hilfsorganen und bei den Fortsetzungen der internationalen Gipfel. Mein Ziel war es, der Abteilung ein klares Konzept zu geben, das ihre Einheit sicherstellen würde. In unseren internen Diskussionen sage ich oft, dass ich diese Abteilung übernommen habe wie einen Zusammenschluss von unabhängigen Republiken – und es geschafft habe, daraus eine föderale Republik aufzubauen. Wir sehen uns nun also wie ein Zusammenschluss von Entitäten mit einer gemeinsamen Agenda, der so genannten UNO-Entwicklungsagenda, die nichts anderes ist als das Ergebnis aller Weltgipfel der UNO. Dies war für mich die größte interne Organisationsaufgabe, als ich in dieser Abteilung anfing.

Während der achtziger und neunziger Jahre verlor Ihre Abteilung an Einfluss auf das Weltgeschehen. Wie kann Ihre Abteilung aktuell ihre Position von den großen Organisationen zurückerobern, die während der letzten zwanzig Jahre ihre Funktionen übernahmen?

Ich habe einen besonderen Schwerpunkt darauf gesetzt, die analytische Qualität der UNO-Arbeiten zu verbessern. Die Wahrheit ist, dass die analytische Aufgabe und die technische Kooperation der Vereinten Nationen in den achtziger Jahren an zweite Stelle gerückt sind. Die Weltbank übernahm Aufgaben, die traditionellerweise in den Arbeitsbereich der Vereinten Nationen fielen, in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren beispielsweise, was die Kooperation und Entwicklung angeht. In den achtziger Jahren wurde von den Weltmächten eine explizite Entscheidung gefällt, diese Aufgabenbereiche der Weltbank zu übertragen. Ich glaube, dass wir uns in einem Prozess der Wiedergewinnung dieses Terrains befinden, und dazu brauchen wir eine höhere technische Qualität unserer Arbeitsergebnisse.

…und auch eine größere Legitimität vor den Mitgliederstaaten der UNO.

Natürlich, langfristig wird das das Wichtigste sein. Durch diese Abteilung bin ich zum Befürworter zweier Dinge geworden, die letztendlich bedeutungsvoll für die Zukunft sein werden: zum einen die Reform des Wirtschafts- und Sozialrats. Diese Reform haben wir ins Rollen gebracht und sie ist erst vor wenigen Monaten durch die Generalversammlung bestätigt worden. Es war eine lange Debatte, aber die Kernideen stammen aus dieser Abteilung. Die Ideen waren nämlich die Errichtung eines Kooperationsforums mit Weltcharakter im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats und die Schaffung eines viel stärkeren Mechanismus der Accountability für die Kompromisse, die die Länder in wirtschaftlichen, sozialen und Umweltfragen während der UNO-Gipfel erzielt haben. Langfristig glaube ich, dass die UNO einen ähnlichen Mechanismus haben wird wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Object Management Group oder der Internationale Währungsfonds, die Gegenstand eines regelmäßigen Peer-Reviews sind. In Sachen Wirtschaft und Soziales existiert so etwas nicht in der UNO. Es existiert kein Kontrollmechanismus, der es ermöglicht herauszufinden, welche Kompromisse die jeweiligen Länder geschlossen haben, und der regelmäßig und öffentlich darüber Auskunft gibt, wer den Kompromiss erfüllt hat und wer nicht – was letztendlich die Aufgabe all dieser Organisationen ist. Und die zweite große Aufgabe ist es, systematisch zu arbeiten. Dabei ist die Verbesserung der Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der UNO, den Regionalkommissionen und mit der UNTA (United Nations Regular Programme of Technical Assistance) bisher unser großer Erfolg gewesen.

Kommen wir zu Europa. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und England sorgt man sich über Arbeitslosigkeit, Verstärkung des Elends und Abbau des Sozialstaats aus. Wie sehen Sie diese Veränderungen?

Im lokalen bzw. nationalen Kontext erscheinen die Veränderungen sehr tief greifend, aber aus weltweiter Perspektive sieht man eher das Überleben der europäischen Sozialstaaten, nicht ihren Abbau. Es gibt wichtige Anpassungen, die am so genannten Sozialstaat vorgenommen werden müssen und die derzeit auch vorgenommen werden, um ihn finanzierbar zu machen, vor allem angesichts der verschiedenen demographischen Veränderungen, die zurzeit in Europa stattfinden. Aber ich glaube nicht, dass man ernsthaft von einem Abbau des Sozialstaates sprechen kann. Wie üblich wird die politische Debatte je nach Kontext mit viel härteren Worten ausgefochten als sie in Wirklichkeit ist.

Was wird mit den Wirtschaften Lateinamerikas passieren, wenn die so genannte politische Linkswende die traditionellen Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern verändert?

Die Linkswende hat einige Anspannungen erzeugt, aber im Grunde genommen glaube ich, dass der Integrationsprozess, was die Wirtschaft angeht, schon sehr weit fortgeschritten ist. Ich meine den freien Handel zwischen den lateinamerikanischen Ländern, welcher weiter vorankommen muss und wird. Obwohl der Fortschritt nicht schnell vonstatten ging, beobachte ich mit besonderem Interesse die Programme zur Infrastruktur und Integration in der Region. Obgleich es Erfolge auf diesem Gebiet gegeben hat, bleibt viel zu tun. Auf der anderen Seite glaube ich, dass der politische Wandel etwas offenbart hat, das alle Regierungen anerkennen müssen, und zwar, dass die neoliberalen Reformen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr wenig auf dem Kontinent erreicht und aus einer sozialen Perspektive mehr geschadet als genutzt haben. Also heißt es, eine neue Agenda zu gestalten, in der mehr Gleichgewicht zwischen Staat und Wirtschaftsmarkt herrscht, als man es vor 15 oder 20 Jahren für nötig hielt.

Herr Ocampo, vielen Dank für das Gespräch.


* Das Interview wurde von Britta Astrid Verlinden aus dem Spanischen übersetzt.