Vergangenheit und Zukunft des französischen Wirtschaftsmodells. Über ’Le modèle français depuis 1945’ von Pascal Gauchon

Besprochenvon Michael Tillmann

„Die Vorstellung, dass der Staat Träger des Allgemeinwohls sei, ist ein typisch französischer Gedanke, mit dem die Amerikaner nicht viel anfangen können.“ So jedenfalls urteilt der amerikanische Frankreich-Spezialist Ezra Suleiman. Und in der Tat könnte diese besondere Rolle des französischen Staates zumal bei der Wirtschaftsentwicklung als Leitgedanke zur Definition des französischen Wirtschaftsmodells dienen, dem Pascal Gauchon in seiner so knappen wie kenntnisreichen Studie nachspürt. Dabei widmet sich der Wirtschaftshistoriker auf den 127 Seiten dieses schmalen Bandes aus der Reihe Que sais-je? im Wesentlichen den Entwicklungen seit 1945, als Frankreich die Modernisierung seiner Wirtschaft nicht zuletzt auf dem Weg der Verstaatlichung und Konzentration zahlreicher Unternehmen betreibt und die für das Land in der Tat so typische Mischung aus marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Elementen begründet. Nach der starken Wachstumsphase im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, den so genannten Trente Glorieuses, d.h. den dreißig glorreichen Jahren des Wirtschaftswunders, zeigt das Modell allerdings im Zuge der Studentenbewegung erste Risse: „In der zeitlichen Rückschau erscheint die Protestbewegung von Mai 1968 in Wirklichkeit als eine ‚liberal-libertäre‘ Bewegung, die nicht so sehr gegen die Konsumgesellschaft aufbegehrte, sondern vielmehr gegen die Pflichten und Zwänge, die mit ihr verbunden waren und die der Slogan métro-boulot-dodo, d.h. das entsagungsreiche Hin und Her zwischen heimischem Herd und Arbeitsplatz, treffend zum Ausdruck bringt. Dieser Bewegung ging es weniger um ein Streben nach Gleichheit und Brüderlichkeit als um eine Überhöhung der individuellen Freiheit.“

Kurz: Dem Modell kamen seine Wirtschaftssubjekte abhanden. Eine zumindest tendenzielle Abkehr lässt sich zudem unter dem Staatspräsidenten Georges Pompidou erkennen, dessen Politik sowohl eine stärkere Öffnung der französischen Wirtschaft nach außen einleitete als auch eine weitergehende Liberalisierung der Wirtschaft anstrebte. Diese liberaleren Ansätze, die unter dem Pompidou-Nachfolger und Schmidt-Vertrauten Valéry Giscard d’Estaing beschleunigt wurden, kamen dann allerdings mit dem Wahlsieg der Mitterrandschen Allianz aus Sozialisten und Kommunisten 1981 unter die Räder: „In den Augen der führenden sozialistischen Politiker hat sich das im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg definierte Gleichgewicht zwischen staatlicher Verwaltung, Arbeitnehmern und Kapitalisten allmählich zugunsten der Arbeitgeberschaft verschoben. Daher sollte der Staat wieder seine leitende Funktion übernehmen und die Arbeiter an ihn gebunden werden. Kurz: Es sollte wieder an die Logik des französischen Modells angeknüpft und die unvollendeten Modernisierungsbemühungen fortgesetzt werden.“ Andererseits war die Trendumkehr, mit der die sozialistisch dominierte Linksregierung letztlich durch die Stärkung der staatlichen Komponente wieder an die Ursprünge des französischen Wirtschaftsmodells anknüpfte, nicht von Dauer.

Angesichts der enttäuschenden Ergebnisse – stagnierendes Wirtschaftswachstum (1982: 2,4%), anhaltend hohe Arbeitslosigkeit (rund zwei Millionen Erwerbslose), Außenhandelsdefizit von 92 Milliarden Francs (1982), Abwertung des Franc 1981, 1982 und 1983 – steht Frankreich schließlich vor der Wahl, sich entweder von dem europäischen Währungssystem zu verabschieden, den Abwertungstrend der französischen Währung ungerührt hinzunehmen und dadurch an Kompetitivität zu gewinnen oder aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik radikal umzugestalten und an die anderen großen Nationen anzupassen. Endet mit dieser gemeinhin als Wende bezeichneten Änderung des wirtschaftspolitischen Kurses die Sonderstellung Frankreichs, die – zumindest für ausländische Beobachter – bis zum Überdruss beanspruchte exception française? Sind die Sozialisten und an vorderster Front ihr bedeutendster Vertreter in Gestalt des Staatspräsidenten François Mitterrand letztlich die (unfreiwilligen) Totengräber des französischen Wirtschaftsmodells? In der Tat deutet vieles darauf hin, dass die spezifische Staat-Markt-Mischung Frankreichs Mitte der 80er Jahre, als auch die Globalisierungsprozesse ungeahnte Ausmaße erreichen, zu Ende geht. Aber schon seit Ende der 60er Jahre erweist sich ganz offensichtlich die Allianz zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Kräften als brüchig. Die zunehmende Abkehr von der tayloristisch organisierten Arbeitswelt zu einer netzförmigen, kurzfristig angelegten Funktionsweise legt zumindest die Vermutung nahe, dass damit gleichzeitig Konfliktlinien aufbrechen, die sich nicht ohne weiteres kitten lassen. Dass die Globalisierung und die Öffnung gegenüber den Weltmärkten letztlich zu territorialen Verschiebungen in der Wahrnehmung der wirtschaftlichen und staatlichen Akteure führen, erscheint insofern als unausweichlich. Nationalstaatliches Denken und Profitstreben in weltweitem Maßstab sind nur schwer unter einen Hut zu bringen. Je näher die Argumentation des Buches an das aktuelle Zeitgeschehen heranrückt, desto weniger leicht lässt sich ein roter Faden durch die einzelnen und bisweilen widersprüchlichen Regierungsmaßnahmen erkennen. Eine Stärke Pascal Gauchons ist es jedoch, dieser Schwierigkeit nicht aus dem Weg zu gehen und zumindest jene Versuche kurz zur Sprache zu bringen, die in der letzten Zeit unter der Bezeichnung Wirtschaftspatriotismus nach Wegen suchen, die eventuell zu einer modernisierten Variante des Modells zurückführen könnten.

passerelle.de

Bestellen!

Demokratie und Markt. Über ‚La démocratie et le marché‘ von Jean-Paul Fitoussi

Besprochenvon Michael Tillmann

Zum Autor: Der Wirtschaftswissenschaftler Jean-Paul Fitoussi lehrt an dem Pariser Institut d’Études Politiques und ist Vorsitzender des Instituts für Konjunkturforschung OFCE (Observatoire français des conjonctures économiques).

In seinen zahlreichen Veröffentlichung zu aktuellen Fragen der Wirtschaftsentwicklung (Globalisierung, Liberalismus, Markt und Staat, Umverteilung usw.) in Form von Monographien und Gastkommentaren in „Le Monde“ hat er sich als ein kritischer Beobachter der aktuellen wirtschaftlichen und wirtschaftsideologischen Entwicklungstendenzen in den westlichen Industrieländern erwiesen (vgl. u.a. „Le débat interdit“, 1995). Sein Urteil genießt in Frankreich hohes Ansehen.

 

Zum Werk: In La démocratie et le marché geht Fitoussi einer der klassischsten Fragen der Wirtschaftswissenschaften nach: Ist das Marktprinzip mit dem Demokratieprinzip vereinbar? Diese Frage ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil sie in Gestalt der Europäischen Union den Alltag der europäischen Völker bestimmt: „In Europa gilt der Markt als eine zu ernste Angelegenheit, als dass man ihn dem Einfluss der Politik überantworten sollte. Um Theorie und Praxis miteinander in Einklang zu bringen, wurde dort eine einzigartige Form der Bundesregierung ins Leben gerufen, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich den Prozessen politischer Verantwortung entzieht und über die Macht verfügt, den Gesellschaften ihre wirtschaftlichen Entscheidungen zu diktieren“ (S. 7). In drei Kapiteln untersucht Fitoussi anhand theoretischer Prämissen und empirischer Untersuchungen den Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und politischem Regime. Kapitel I („Du régime politique ‚optimal‘ pour le marché“) unterscheidet zwei gegensätzliche Ansätze: „Im Grunde zeigen die empirischen Studien und die Annahmen, auf denen sie beruhen, dass sich bei der Debatte um das Verhältnis zwischen Markt und Demokratie zwei Thesen gegenüberstehen. Der ersten These zufolge setzt die Ausdehnung der Marktsphäre voraus, dass der Bereich der Demokratie beschränkt wird. Diese Begrenzung ist in den reichen Ländern ohne einen politischen Regimewechsel möglich. Die Europäische Union ist ein Beispiel dafür. Der Grund dafür besteht darin, dass diese Mitgliedsstaaten durch ein hohes Sozialversicherungsniveau gekennzeichnet sind und dass eine Entschlackungskur des Wohlfahrtsstaates ohne allzu große Verwerfungen möglich erscheint. In den Entwicklungsländern jedoch, für die eine hohe Armutsrate und ein in den Kinderschuhen steckendes soziales Sicherungssystem charakteristisch sind, sei demnach der Umverteilungsdruck, der von einem demokratischen Regime ausginge, zu groß, so dass die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems in Mitleidenschaft gezogen und die Entwicklung gebremst würde. In diesen Ländern würde ein aufgeklärter Despot den besten Kompromiss zwischen politischen Freiheitsrechten und Wachstum finden. Die zweite Konzeption […] besteht demgegenüber in einer Komplementarität von Marktwirtschaft und Demokratie, in der sich beide wechselseitig verstärken“ (S. 43-44). Das liegt daran, dass die Demokratie über ein System der Umverteilung die Ausgrenzung durch den Markt verhindert und damit die Legitimität des Wirtschaftssystems stärkt, während der Markt einen allzu großen Einfluss der Politik auf das Leben der Bürger beschränkt (Kapitel II: „La thèse de la complémentarité entre marché et démocratie“). Die Verfechter des reinen Marktprinzips gehen nämlich von einer fragwürdigen Annahme aus, der zufolge ein reines Gleichgewicht herrsche unter der Voraussetzung, dass das Überleben der Menschen unabhängig von einem über den Markt zugewiesenen Gehalt gesichert sei. Sieht man von dieser Annahme jedoch ab, bedeutet dies, dass ein Teil der Bevölkerung „verschwinden“ könnte: „Diese neuen Entwicklungen in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie sind von grundlegender Bedeutung, weil sie den Nachweis liefern, dass äußerste Armut, fehlende Pflege und Überlebensperspektiven keine Folge der Fehlentwicklung des Marktes darstellen, sondern mit reibungslos funktionierenden Märkten kompatibel sind. Das hat mit Ideologie wenig zu tun. In ihren formalisierten, jedoch anspruchsvollen Forschungen über die Gültigkeitsvoraussetzungen ihrer Theorie verweisen die Theoretiker der Marktwirtschaft auf eine wesentliche Besonderheit unserer (und noch der entwickeltsten) Länder: Der Markt sichert keineswegs von sich aus das Überleben der gesamten Bevölkerung. Diese Spezifizität ist insofern zentral, als sie die Verdienste einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft erheblich relativiert.“ Andererseits sei es natürlich ebenfalls verfehlt, gesellschaftlichen Reichtum allein politisch zuzuteilen. Ein solches Verfahren würde nämlich unweigerlich zu Koalitionsbildungen führen, die die demokratischen Prozesse lahmlegen könnten. In Kapitel III schließlich („La diversité des formes institutionnelles de ‚la démocratie de marché'“) zeigt Fitoussi, dass es eben nicht nur einen – liberalen – Königsweg zur Sicherung von Wachstum und Entwicklung gebe: „Man kommt nicht um die Einsicht herum, dass die Eingriffe der Demokratie in das Gerechtigkeitssystem des Marktes keineswegs die Annahme bestätigen, dass immer und überall die Wirtschaft umso leistungsfähiger ist, je geringer die Interventionen ausfallen. Was auffallend ist, wenn man die Industriewelt näher betrachtet, ist vielmehr, dass jedes einzelne Land von einer je eigenen institutionellen Struktur geprägt ist – ein ihm eigenes Mischungsverhältnis aus privater und öffentlicher Sphäre – und dass dennoch alle (fast) gleichermaßen wohlhabend sind. […] Bestimmte Länder entwickeln sich in bestimmten Zeiträumen schneller als andere. Aber per definitionem hat dies kein Land in allen Zeiträumen getan. Andernfalls hätte sich ein tiefer Graben zwischen ihnen aufgetan. Dabei hätte doch die ‚Strukturstarre‘, über die in manchen Ländern gern geklagt wird, zu einer absoluten Verarmung führen müssen, was jedoch nicht eingetreten ist. Das zeigt, dass ein wirtschaftliches Problem unterschiedlich gelöst werden kann, wobei diese Lösungen mehr oder weniger inegalitär sind.“

Fazit: Fitoussi schreibt sehr anschaulich, präzise und gut dokumentiert über eines der zentralen Themen der aktuellen Debatte zum Wohlfahrtsstaat und zur wirtschaftlichen Entwicklung in den westlichen Industrieländern. Insofern ist dieses knappe Buch ein zuverlässiger Wegweiser durch den Dschungel sich widerstreitender Positionen.

© passerelle.de, Frühjahr 2004

Bestellen!