Therapiesitzung – Hegemanns Axolotl Roadkill

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • HEGEMANN, Helene: Axolotl Roadkill, Ullstein, Berlin 2010. ISBN: 978-3550087929.

Alle anderen sind „Bäh“ und man selbst irgendwie auch – so könnte man die Welt der jugendlichen Protagonistin Mifti, Ich-Erzählerin des Romans „Axolotl Roadkill“ und Alter-Ego der Autorin Helene Hegemann, in Hegemanns Erstling zusammenfassen. Mifti ist angeekelt, wie Teenager manchmal angeekelt sind. Ihr Leben ist zu gleichen Teilen durchzogen von Haltlosigkeit, wie von einer Unmenge an angerissenen Diskursen, die sie nicht verarbeiten kann und die ihre Haltlosigkeit verstärken. Zudem hält sich Mifti für therapieresistent. Dies wird ebenso betont, wie dass die Protagonistin an einem Roman über ihre Erlebnisse schreibt. Den Titel des fiktiven Romans kann man sich nun leicht ausmalen.

„Ich bin wild aufgewachsen und will wild bleiben“, lautet der unkeusche Wunsch der Protagonistin. Aus der Sicht des erwachsenen Lesers wirkt dieser Vorsatz jedoch allzu fromm: jeder kennt den Wunsch und man weiß, wie er im Prozess des Erwachsenwerdens unabänderlich langsam bröckelt. Aber diese Unangepasstheit braucht die jugendliche Protagonistin, um sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen. Ein tendenziell pubertärer Vorgang.

Was dem Blogger Airen, dem man größere Authentizität nachsagen könnte, mit seiner Veröffentlichung „Strobo“ in einer Erstauflage von 300 Exemplaren nicht gelingen konnte, hat Hegemanns Roman in eine Besteller-Manie verwandelt: Die junge Autorin hat einer bestimmten Strömung der heutigen Zeit eine Stimme gegeben. Der Berliner Club Berghain, in einem alten Kraftwerk gelegen, ist schon länger eine steinerne Metapher für die Mischung aus Drogen, anonymen Sex und exzessivem Nachtleben, die von dem lesenden Bildungsbürger nur bestaunt, nicht aber gelebt werden darf.

„Niemand hat ein Gesicht, es herrscht grenzenlose Anonymität. Hier geht es also um Gott. Nur auf dieser Party ist man anonym, man ist nur dann anonym, wenn man Gott ist.“ Ähnlich wie dieses Beispiel hinken viele Vergleiche, Pointen und ganze Abschnitte. Zudem sind die Figuren zu schemenhaft und schematisch, um interessante Charaktere zu sein. Mifti ist darüber hinaus noch neunmalklug und vorlaut. Die meisten der Dialoge wirken gestelzt, in ihnen wird nicht die charakteristische Stimme einer Figur transportiert, sondern die im monologischen Duktus des Statements vorgetragene, notdürftig verdeckte Meinung der Autorin.

Für sich stehend ist „Axolotl Roadkill“ unreif, als Literatur nicht ernstzunehmen. Es liest sich wie die Aneinanderreihung breitgewalzter Sinnsprüche eines Teenager-Tagebuchs, zur Verarbeitung des Erlebten niedergeschrieben. Ein wenig Dialog davor und dahinter, ein bisschen Beschreibung drumherum, und ein zwei Sätze noch, die etwas Anrüchiges haben, über die man sich aufregen könnte – fertig ist ein Axolotl-Erzählabschnitt. Die narrative Klammer des Romans bleibt fadenscheinig. Die einzelnen Passagen sind wirr und unzusammenhängend wie niedergeschriebene Träume oder Drogentrips. Allerdings ohne Suchtpotential.

Insgesamt erfüllt das Buch viele Kriterien des Boulevard: Es geht um Sex, Drogen und Leute. Es ist in einer einfachen Sprache geschrieben, und auch die kaum vorhandene Handlung ist leicht zu verstehen. Im Prinzip geht Hegemann mit ihrer Erzählung den Weg, der von Charlotte Roche bereitet wurde: wenig Qualität, dafür viel Schmutz. Das hatte dem Verkauf schon damals nicht geschadet.

Erst wenn man also davon ausgeht, dass die Erzählung nicht im Roman, sondern erst in der Lebenswelt abgeschlossen ist, also in den Übertragungen, die von Mifti hin zu Helene Hegemann gemacht werden können, ergibt sich ein rundes Bild. Dann kommt allerdings auch eine lüsterne Gier nach Sensation hinzu. Darin liegt das – nahezu kathartische – Potential des Buchs. Vielleicht ist es das, was das Feuilleton anfangs an dem eigentlich unvollständigen, banalen Buch faszinierte. Nicht das Fräuleinwunder, sondern die verruchte Projektionsfläche für den lüsternen Blick in fremde Wohnzimmer? Ein literarischer Genuss ist es jedenfalls nicht.

Auch wenn es sich in diesem Fall nicht lohnt, der Stimme von Helene Hegemann zu lauschen – ungestüm, laut, unreif und mit kaum Tiefgang – so ist diese Stimme doch vernehmbar, und man darf auf ihre Entwicklung gespannt sein. Weil Schreiben auch eine therapeutische Wirkung hat, kann man behaupten, Mifti ist nicht therapieresistent, sondern hat sich mit dem Schreiben des Buchs selbst therapiert.

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„Honigkuss“ – Ein politisches Luststück

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • NEIMI, Salwa Al: Honigkuss. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. ISBN 978-3-455-40131-8.

Die in Damaskus geborene Muslima Salwa Al Neimi verkündet in ihrem Roman „Honigkuss“ die sich doch günstig auf Körper, Seele und Verstand auswirkende „Heilkraft des Beischlafs“. Ja, „je schamloser der Beischlaf ist, desto schöner ist er“ (Seite 10). Mehr noch, „es gibt Menschen, die Geister beschwören – ich beschwöre Körper“. (Seite 9) Schnell wird der explizit lustbetonte Ansatz deutlich, der wirkt, als wolle man auf der Welle der Empörung mitschwimmen, die durch Charlotte Roches Gequassel um Feuchtgebiete ausgelöst wurde.
Sofern es das boomende Genre des ‚Lebensbeichte-Romans‘ gibt, ist Honigkuss ein würdiger Vertreter. Angetrieben wird der Roman von einer Ich-Erzählerin, deren Reflektionen sich beständig um zwei Schwerpunkte drehen. Zum einen alte arabische Liebesliteratur, der die in einer Pariser Bibliothek arbeitende Ich-Erzählerin mit einer Mischung aus professioneller Notwendigkeit und persönlichem Interesse gegenüber tritt. Zum anderen die intensive Affäre der Ich-Erzählerin zu dem ‚Denker‘. An dieser Affäre entfaltet sich ein Widerstreit von Liebe und Lust. „Liebe ist für die Seele, Lust für den Körper. Ich habe keine Seele.“ (Seite 31) Durchgehend legt Neimi nahe, dass es Liebe ODER Lust gibt – von dem UND kann sie nicht viel berichten. Sie ist, indem sie die Lust des Körpers über das ‚Verlangen der Seele‘ stellt, taub gegenüber den Freuden der Liebe. Dabei bleibt die Beschreibung ihrer Lust stets vage, irgendwie unerfüllt.

Denn der Leser begreift schnell, was der Ich-Erzählerin nie so recht bewusst wird und sie in vielfältigen Worten abstreitet: Wenn sie keine Fragen stellt und keine Erklärungen braucht, solange der Denker da ist, dann beschreibt Neimi keinen Zustand der lustbetonten, affärenhaften Gleichgültigkeit, sondern den der Liebe.

Dann geht der Denker. „Es könnte sein, dass wir ihn verlieren wegen eines Worts, eines Schulterzuckens, (…) einer uralten Angst, eines Spiels, dessen Regeln sich uns entziehen.“ (Seite 121) Aber die Vermutungen der Ich-Erzählerin laufen ins Leere. Der Denker geht, weil ihn niemand bittet, zu bleiben. Wer zu oft hört, er sei frei, der wird auch gehen. Es berührt merkwürdig, der Ich-Erzählerin auf ihrem Pfad der Lust zu folgen, da ständig mitschwingt, dass sie nicht sexuelle Erfüllung sucht, sondern vor dem flieht, was eine Liebesbeziehung bedeuten könnte.

Das insgesamt gelungene Buch weist nur kleinere Schwächen auf. Die verwendeten literarischen Bilder sind brüchig, bekannt, manchmal kitschig – nur selten ein gelungener bildhafter Vergleich. Auch werden immer wieder vermeidbare Wiederholungen ähnlich lautender Sätze oder auch Inhalte produziert. Die Entwicklung der Geschichte tritt dabei auf der Stelle. Passend zur Ich-Erzählerin, die angehalten wird, einen wissenschaftlichen Aufsatz zu schreiben, ist die Sprache des Buchs reflektierend-beobachtend. Neimi ist vielmehr Chronistin als Erzählerin.

Was nach Verlagsangaben in arabischen Ländern einen Skandal ausgelöst hat, wirkt in den westlichen Ländern, die sich mit Bohlens Penisbruch, diversen Sexvideos und dem ‚Mädchen von Seite drei‘ konfrontiert sehen, sehr vertraut. Der intendierte Skandal verpufft am vermeintlich aufgeklärten (und zugleich übersättigten) Bürger des Abendlandes. Dafür dürfte sich dieser umso mehr über die politische Botschaft des Buchs freuen. Honigkuss betrachtet ungläubig die lustfeindliche Wandlung, die Teile der muslimischen Glaubensgemeinschaft seit den großen arabischen Werken vor mehr als tausend Jahren vollzogen haben und stellt fest, „dass sich Flauberts Orient von 1847 in Luft aufgelöst hat. Folgen des 11. September und des islamischen Dschihad.“ (Seite 60) Indem Neimi ihre Ich-Erzählerin als Erbin und Profiteurin der arabisch-erotischen Literatur profiliert, führt sie die aktuelle Lustfeindlichkeit als entwurzelte Fehlentwicklung vor.

Gerade die Vehemenz, mit der die Ich-Erzählerin an ihrer Lust festhält, kann als eine politisch-ideologische Abgrenzung verstanden werden: Muslimische Frauen haben Sex, Lust auf Sex und manchmal sogar so viel von beidem, dass darüber geschrieben werden muss. Neimis Buch ist die Versicherung: Ich, eine Muslima, bin ein Mensch, der (sexuelle) Bedürfnisse hat – genau wie du. Bei Honigkuss handelt sich sich also um eine politische Botschaft, ein politisches Luststück sozusagen. Denn das eine zeigt das Buch deutlich: Eine Frau ist eine Frau und ein Mann ist ein Mann und die Lust, die man füreinander empfindet ist menschlich. Und nun sage mal einer, diese Botschaft allein sei nicht schon ein ganzes Buch wert.

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