Richter, Dörte: Männlicher Terror oder warum der Film ‚Der freie Wille‘ Wut auslöst, 27.04.08

Fragen

Die Kontroverse scheint zu diesem Film dazuzugehören. Schon auf der diesjährigen Berlinale begleiteten heftige Diskussionen die Premiere von Der freie Wille (Dt. 2006, Regie: Matthias Glasner). Die Auszeichnung von Jürgen Vogel für die „herausragende künstlerische Gesamtleistung als Schauspieler, Co-Autor und Co-Produzent“[1] mit dem Silbernen Bären unterstreicht die dem Film inhärente Ambivalenz. Ein hervorragend besetztes Schauspielensemble, ein Drehbuch- und Regieteam, das über Jahre damit beschäftigt war, aus dem Erzählstoff über einen Vergewaltiger eine adäquate filmische Umsetzung zu erarbeiten, bürgen für Qualität, aber lässt sich allein dadurch die Frage nach der Relevanz einer solchen Geschichte beantworten? Warum wird sie erzählt? Wie wird sie erzählt? Weshalb als Film?

Alice Schwarzer nennt ihn „streckenweise durchaus fragwürdig.“[2] Jürgen Vogel sagt, ihn habe die Frage interessiert, „was in einem Menschen vorgehe, der zum Serienvergewaltiger wird. Warum tut er das? Und kann er, wenn er wirklich will, damit auch wieder aufhören?“[3] Doch was wird überhaupt erzählt? Worum geht es in diesem Film? Um die Einsamkeit eines Mannes mit massiven Brüchen in der eigenen Lebensgeschichte, dessen wenige Versuche, sich selbst zu spüren, in hass- und gewaltvollen Übergriffen auf Frauen enden? Geht es, wie Vogel sagt, „um die Auseinandersetzung mit Tabus, [w]ie dem des Vergewaltigers“? Geht es um Sexualität? Oder um eine Selbstfindung, die nicht nur für die Hauptfigur tragisch endet? Oder handelt dieser Film letztlich von einer Männerphantasie, die von dem Wunsch des Tabubruchs getragen wird und sich im Erzählen der Tragik eines fiktiven Lebens unausweichlich in der Eindimensionalität der gewählten Perspektive verliert? Kann man diesen Film sehen, ohne danach über ethische Fragen bzw. den Zusammenhang zwischen Kino und Gesellschaft nachzudenken? Ist dieser Film eine Zumutung? Ich wage zu behaupten: ja.

Erfahrungen

Mittwochabend, Kino Balacz, Berlin Mitte, 22:00 Uhr. Nach langer Suche im Bekanntenkreis finden sich eine Freundin und ich zusammen, um diesen Film zu sehen. ‚Ging es Dir auch so, dass keiner den Film anschauen wollte?‛ ‚Ja.‛ Wir sind beide Filmwissenschaftlerinnen, wir haben beide die Diskussion verfolgt, die vor einem halben Jahr auf der Berlinale begann und jetzt im September zum Kinostart noch einmal aufflammte. Wir meinen zu wissen, was auf uns zukommt, die unselige Tradition der Filmkritik in Deutschland hat den Inhalt überall in groben Zügen nacherzählt. Wir haben den Kinobesuch letztlich – frei – gewählt. Es wirkt wie eine Versicherung gegen das Thema des Films, dass man nun vorher schon vom Tod der Hauptfigur am Ende weiß. Die Katharsis wird vorweggenommen und trotzdem ist nach den drei Stunden Kino alles anders. Als wir herauskommen, bin ich unfähig ein Wort zu sagen, mit Mühe und Not schaffe ich es, mich zu verabschieden. Dann fahre ich mit dem Fahrrad nach Hause, ein Weg von zehn Minuten, auf dem ich beginne, jedes wartende Auto argwöhnisch in den Blick zu nehmen. Gibt es einen Beifahrer? Sitzt da ein Mann allein am Steuer? Warum steht der da überhaupt? Um zwei Uhr nachts und mitten in der Woche sind selbst in Prenzlauer Berg die Fenster dunkel und die Kneipen zu. Das erste Mal fühle ich mich in dieser Stadt, die mir so vertraut ist, alleine und bedroht. Doch nicht von der realen Situation, die gleicht vielen anderen nächtlichen Nachhausefahrten. Was sich als Bedrohungsgefühl in mir ausbreitet, sind die Bilder: Jürgen Vogel als Theo Stöhr von Rastlosigkeit und Hass getrieben hinter dem Steuer seines Autos. Vogel/Stöhr als auf das Gesicht seines Opfers spuckender Vergewaltiger, dazwischen „Fotze, Fotze“ flüsternd. Jürgen Vogel und, in der Rolle seines Bewährungshelfers, André Hennicke an der Trimmstange in der Wohnung Klimmzüge machend. Immer und immer wieder. Harte, gestählte Männerkörper. Sport als Abwehrwaffe gegen überbordende Triebe, als Instrument der Disziplinierung. Judith Engel schließlich, deren Auftritt in einem deutschen Film mich mit Freude erfüllt, als ein Opfer Theos, das mit einer Klobürste die Freundin des Täters auf einem Gaststättenklo vergewaltigt. Ekel breitet sich in mir aus und als ich zu Hause bin, ein kurzes Gefühl der Erleichterung, angekommen zu sein.

Ich schlafe schlecht und wache am nächsten Morgen mit einem undefinierbaren Gefühl auf. Erst im Laufe des Tages schaffe ich, es zu benennen: Es ist Wut, tief sitzende Wut auf diesen Film, der für das Kino gemacht ist und als Realitäts-Fiktion daher kommt. Diese Wut manifestiert sich umso mehr, je schwerer es mir fällt, eine Einordnung vorzunehmen und diesen Film verstehen zu lernen, indem ich ihn irgendwo hintue, ihn kontextualisiere. Es gelingt mir nicht, und das nicht nur, weil er für sich in Anspruch nimmt, etwas noch nie Dagewesenes zu erzählen. Wenn es so wäre, wäre es einfach, aber so einfach ist es eben nicht. Wo ist die Möglichkeit auszusteigen aus diesem Film, der mit dem Kriterium der Wahrhaftigkeit so schamlos spielt. Die körperlichen Entblößungen Jürgen Vogels fallen dabei gar nicht ins Gewicht, es ist anerkennenswert, dass er die Ver-Körperung dieser Figur in der von ihm dargestellten Weise so auf sich genommen hat. Er und alle anderen Darsteller leisten Beeindruckendes: Manfred Zapatka in der Rolle des sanftmütig-übergriffigen Vaters. Sabine Timoteo als verzweifelt liebende Frau an der Seite Theos, ihn haltend und begleitend bis zum Schluss. Aber: wo ist der Regisseur, der die Geschichte lenkt, in sie eingreift, dem Zuschauer die Bürde abnimmt, mit diesen Bildern – unaufgelöst – am Ende allein nach Hause gehen zu müssen? Wo sind die Grenzziehungen zwischen Film und Realität, die das ermöglicht hätten?

Radikalität – Authentizität – Entblößung

Der Begriff der Radikalität ist im Kino mittlerweile zu einem Qualitätsmerkmal geraten. Das ist gut, denn nur so entstehen neue Bilder, andere Bildsprachen. Gerade in den letzten zehn Jahren hat sich – nach langer Flaute – in Deutschland ein Kino entwickelt, in dessen Zusammenhang ein Wort wie Authentizität wieder neue Bedeutung erlangt hat. Als „nouvelle vague allemande“ haben die „Cahiers du cinéma“ auf den im letzten Jahr in Cannes laufenden Film Falscher Bekenner von Benjamin Heisenberg reagiert.[4] Andere Namen wie Andres Veil, Christian Petzold, Valeska Grisebach, Angela Schanelec oder Oskar Roehler, auch Andreas Dresen oder Aelrun Goette, um nur einige zu nennen, lassen sich mühelos dazu zählen. Auf völlig unterschiedliche und – unterscheidbare – Weise erzählen alle diese Regisseure ähnliche Sujets. Im Mittelpunkt steht das alltägliche Leben in seiner ganzen Härte und in seiner für die Figuren oftmals vorhandenen Unentwirrbarkeit. Momente des Glücks sind selten und sie sind, was sie sind: von kurzer Dauer und hoher Intensität. Die großen Geschichten interessieren nicht, was zählt, ist der Alltag und in diesem das Besondere. Das bedingt neue Spiel- und Erzählweisen. Dokumentarisches und Fiktives verschmelzen in dem Begriff der Wahrhaftigkeit zusammen, die zumeist inszeniert ist, doch genau darin besteht die Kunst. Auch wenn sie kaum zu „spielen“ scheinen, haben zwar die einzelnen Schauspieler einen hohen Wiedererkennungswert, nicht aber die von ihnen dargestellten Figuren. Die Figur der Nina Hoss in Petzolds Toter Mann (Dt. 2001) ist eine komplett andere als jene, die sie in Wolfsburg (Dt. 2003) verkörpert, obwohl beide Frauen eine tiefe Verlorenheit in sich tragen. Julia Hummer als heranwachsende Tochter eines im Untergrund lebenden Terroristenpärchens in Die innere Sicherheit (Dt. 2001) ist widerständiger, aufbegehrender und expressiver als jenes sich treibenlassende Heimkind, welches sie in Gespenster (Dt. 2005) darstellt. Alle Vaterfiguren, die Vadim Glowna in den Filmen von Oskar Roehler spielt, sind gebrochene Männer. Ihre Gebrochenheit zeigt sich aber erst deutlich in der Konfrontation mit dem Gegenüber. So hat der Ex-Lover der von Hannelore Elsner verkörperten Schriftstellerin Hanna Flanders aus Die Unberührbare (Dt. 2000) ein völlig anderes Figurenprofil als jener von seinem Sohn so verzweifelt gesuchte und eingeforderte Vater aus Roehlers Alter Affe Angst (Dt. 2003). Man kann das fortsetzen. Valeska Grisebachs neuer Film Sehnsucht (Dt. 2006) lässt die Geschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen gleich von Laien spielen und packt sie in die Ödnis der Brandenburgischen Provinz. In Andres Veiels Film Die Spielwütigen (Dt. 2004) wird die Grenzziehung zwischen Dokumentarischem und Fiktionalen sogar zum wichtigsten Erzählstrang. Die vier sich in der Ausbildung befindlichen Schauspielstudenten durchlaufen während des Films eine Entwicklung hin zu Persönlichkeiten, die die Raffiniertheit der erlernbaren Maske zu schätzen wissen.

In gewisser Weise ist diese neue Form des Erzählens, nah an den eigenen Biographien (Roehler), nah am „wirklichen“ Leben (Grisebach, Dresen), radikal. Sie rückt Befindlichkeiten in den Vordergrund und wird zu Kunst, wenn es den Regisseuren gelingt, einen zutiefst bewegenden, persönlichen Film zu erzählen, ohne dabei auf unangenehme Weise privat zu werden. Denn das Publikum ist kein Therapeut. Immer noch möchte es unterhalten werden, wenn es ins Kino geht, es möchte einer Dramaturgie folgen können, die die Motivationen der einzelnen Figuren nachvollziehbar macht, die anregt, über Verhaltensweisen und Zustände nachzudenken – auch das zählt meines Erachtens zu dem weiten Begriff des Unterhaltenwerdens dazu. Michael Haneke, der wie kein anderer Regisseur das Thema Gewalt in seinen Filmen auslotet, spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit des Kinos, „das Infragestellen zu befördern.“[5]

Was aber passiert in einem Film wie Der freie Wille, der als „Vergewaltigungsdrama“ (cinemaxx.de) angepriesen wird? Ist er, ohne die mediale Auseinandersetzung damit, ohne das Wissen um die jahrelange Vorbereitungsphase, um das außergewöhnliche Engagement seines Hauptdarstellers überhaupt zu verstehen? Und: scheitert er nicht genau dadurch? Die Verwischung von Grenzen zwischen seinem Hauptdarsteller Jürgen Vogel, der in einem Interview zugibt, angesichts seiner „eigenen Geschichte […] absolut genau ins Täter-Raster zu passen“[6], und der Ver-Körperung seiner Figur ist das große Manko dieses Films. Die Identifikation mit der Rolle, mit der fiktiven Geschichte dieses Täters gerät zu einem undefinierbaren Ganzen, das den Zuschauer in derselben Weise angreift, auf ihn übergreift, wie die einzelnen im Film dargestellten Vergewaltigungsakte. In Hanekes Film Funny Games (Ö, 1997) werden nacheinander erst der Hund, dann das Kind, schließlich der Vater und am Ende die Mutter von zwei jungen Männern ermordet, deren ausgestellte Harmlosigkeit selbst am Ende des Films noch erschreckend glaubhaft wirkt. Auch Haneke fordert seinem Publikum einiges ab, der Unterschied zu Glasner besteht jedoch darin, dass er das von ihm gewählte Medium Film dazu nutzt, seine Thesen über die Überflutung medialer Bildinhalte in unserer heutigen Gesellschaft zu formulieren. Genau das stellt einen Dialog zum Zuschauer her, der sich während des Films und danach fragen wird, wodurch der über den Rücken laufende kalte Schauer, das sich in der Magengrube verfestigende Gefühl äußersten Unwohlseins ausgelöst wurde. Durch seine Darstellung von Gewalt konfrontiert er das Publikum mit seiner eigenen Erwartungshaltung an das Kino. Daraus kann ein Nachdenken erwachsen, dass Distanz ermöglicht. So erwischt man sich bei der Frage, ob man auf die konsequenterweise ziemlich in der Mitte platzierte erschütternde Szene des Suizids in Hanekes letztem, seltsam stillen und nur von wenigen sich ändernden Bildfolgen und starken Dialogen getragenen Film Caché (F, 2006) nicht unbewusst gewartet haben mag.

Glasner dagegen benutzt das Medium, um eine Geschichte zu erzählen, bei der es sich fragt, ob wir sie in dieser Weise brauchen. Die Bilder treffen mit brachialer Gewalt auf die Sinne des Zuschauers. Er hat, außer er verlässt diesen Film, keine Möglichkeit ihnen auszuweichen. Während Haneke das Publikum anregt, noch während des Kinobesuchs über den eigenen Voyeurismus zu reflektieren, betreibt Glasner diesen in unerträglicher Weise. Das liegt zu großen Teilen an der Verwechslung von Begriffen. Entblößung ist nicht dasselbe wie Offenbarung. Authentizität das Gegenteil von Identifikation. Die unbedingt gewollte „Wahrhaftigkeit“ seiner Bilder gerät zum Missbrauch des Publikums. Warum erscheint mir die letzte Szene, in der Theo Selbstmord begeht und Nettie ihren Schmerz nur noch wie ein Tier herausschreien kann, so unglaubwürdig? Weil ich dieses Ringen um Authentizität nicht mehr ertrage, nicht noch mehr Rotz und Tränen sehen will? Weil ich diesen Gefühlsausbruch nicht glauben kann, ihn als aggressiv empfinde und davon in den letzten drei Stunden einfach zuviel bekommen habe? Weil er so, wie er gezeigt wird, nicht mehr mit der Figur der Nettie übereinstimmt? Das mögen subjektive Wahrnehmungen sein. Trotzdem: Dieser Film, der vorgibt, leise das Psychogramm eines Mannes mit einer zutiefst schwierigen Lebensgeschichte nachzeichnen zu wollen, wird an einigen Stellen unerträglich laut. Dann scheint sich die Übergriffigkeit des Täters auf den Film selbst und von diesem auf das Publikum zu übertragen. Es ist anzunehmen, dass Glasner diese Wirkung einberechnet hat, dass es ihm gerade darum ging. Daraus erwächst aber ein für mich unauflösbarer Widerspruch, der zu der eingangs gestellten Frage zurückführt. Worum geht es in diesem Film? Es geht hierbei nicht um die Bewertung, ob eine solche Geschichte kinotauglich ist. Das ist sie zweifellos und sie wird nicht das erste Mal erzählt. Aber wenn man sich eines solchen schwierigen Stoffes annimmt, dann sollte man seiner Mittel sicher sein. Was dem Film fehlt, ist eine Ebene, auf der der Regisseur über den Inhalt reflektiert. Es gibt einige Momente in diesem Film, in denen das gelingt. Es sind jene Szenen, in welchen Dargestelltes und Darsteller als Einheit fungieren. In der vorderen Mitte des Films zeigt Glasner die erste Verabredung zwischen Nettie und Theo im dunstig gelben Licht eines öden Stadtcafés. Netties Spruch, sie sei auf Männer nicht gut zu sprechen und Theo könne sich jede Anmache sparen, kommentiert er mit den Worten: „Das macht nichts, ich mag Frauen auch nicht besonders.“ In diesem Moment erreicht der Film die von ihm angestrebte Aufrichtigkeit, weil die Verzweiflung Theos, sein Wissen um sein Anderssein in einer Weise deutlich werden, die berührend ist. In solchen Momenten ist Der freie Wille ein leiser, behutsam beobachtender Film, der zwischen sich und dem Zuschauer den nötigen Platz lässt. Am Ende wird er leider wieder sehr laut, obwohl es dazu gar keiner Worte bedarf. Das Ende ist nicht der Abspann, es erscheint unmöglich, aus dem Kino zu treten und sich wieder auf die Außenwelt zu besinnen. Die Direktheit und Distanzlosigkeit dieses Films halten den Zuschauer fest. Gewaltsam.

  • Der freie Wille. R: Matthias Glasner; D: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, André Hennicke, Manfred Zapatka, Judith Engel, Anna Brass, Anne-Kathrin Golinsky, Maya Bothe, Frank Wickermann, Anna De Carlo, Bernardette Büllmann, Andreas Laurenz Maier. K: Matthias Glasner. S: Matthias Glasner, Judith Angerbauer, Jürgen Vogel. P: schwarzweiß filmproduktion, Colonia Media Filmproduktion / Label 131. 163 min., 2006.

 

Hinweise

RICHTER, Dörte: Pornographie oder Pornokratie? Frauenbilder in den Filmen von Catherine Breillat. Berlin: Avinus Verlag 2006. ISBN 3-930064-55-3. 136 Seiten.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. www.derfreiewille.de, 12.10.06, 20:30 Uhr.
  2. „Meine Antriebskraft ist der Schmerz. Jürgen Vogel im Gespräch mit Alice Schwarzer”, in: Emma 5/2006, S. 20-25, hier: S. 22.
  3. Ebd. S. 21.
  4. Vgl. dazu: Kerstin Decker: „Die Schneewittchenfilmer. Arslan, Petzold, Schanelec: ein Symposium über die Neue Berliner Schule”, in: Tagesspiegel, 2.10.2006.
  5. „Ist es ein Regisseur oder ist es ein Irrer?“ Interview mit Michael Haneke über seinen Film „Code unbekannt“, 12.10.2006, 20:00 Uhr.
  6. Vgl. Anm. 2, S. 21.

Richter, Dörte: Leben auf der Durchfahrtstraße. Über ‚Yella‘ von Christian Petzold, 28.01.08

Ein Mann und eine Frau. Ein Anfang, der ein Ende ist und dazwischen eine Geschichte. Eine Geschichte, die im Hier und Jetzt spielt, zugleich im Innen und Außen, in der Vergangenheit und in der Zukunft und der auf eigentümliche Weise eine Gegenwart fehlt, obwohl sie nichts anderes als Alltag zu erzählen scheint.

Auf den ersten Blick ist Christian Petzolds neuer Film Yella die Geschichte einer Frau, die aufbricht, die kleine ostdeutsche Stadt Wittenberge verlässt, um im Westen, in Hannover, ihr Glück zu versuchen. Sie lässt einen Vater zurück und einen Ehemann mit Schulden. Sie geht weg, und da, wo sie hinwill, kommt sie nie an. Die Firma, die sie einstellen soll, ist pleite, ihr Leben im Hotelzimmer trostlos. Ein Hoffnungsschimmer ist die Begegnung mit Philipp, dem Banker, der seinen Kunden für viel Geld Patentrechte abkauft. Er bietet ihr an, in sein Geschäft miteinzusteigen, Yella stimmt zu und gemeinsam bilden sie ein betrügerisches Duo. Sie verlieben sich ineinander und doch ist am Ende alles wie vorher, nur noch schlimmer.

So könnte man, wenn man es wollte, den Film schildern und käme doch nur einem Bruchteil des erzählten Stoffes nahe. Vielmehr als die Geschichte einer Flucht aus einem vergangenen Leben in die Hoffnung auf ein Neues, ist Yella ein hochintelligenter Film, der bis zum Äußersten die Wahrnehmungsgrenzen und Aufnahmefähigkeit des Publikums austestet. Christian Petzold ist ein Experte auf dem Gebiet der Darstellung des Unbewussten und wie kein anderer deutscher Regisseur bedient er sich dabei mit präziser Sicherheit des Mediums Film. So gelingt es ihm bei gleichzeitig stringenter Erzählweise, die Spannung dadurch zu forcieren, dass die Zuschauer bis zum Schluss im Unklaren gelassen werden. Er fordert die Aufmerksamkeit des Publikums in hohem Maße heraus, verwirrt, zitiert und verweist auf Verknüpfungen. Damit zwingt er das Publikum in die Zeugenschaft und zu der Erkenntnis, dass sich unter der Oberfläche der gesehenen Bilder eine zweite, entsetzliche und ganz und gar andere Geschichte verbirgt.

Im gern auftrumpfenden, zuweilen tönenden deutschen Kino gehört Christian Petzold zu den stillen Erzählern. Ihm gelingt, was sonst nur der französische Film auf faszinierende Weise immer wieder neu hervorbringt – die Darstellung des Alltäglichen, Immerwiederkehrenden, der Rituale und Abläufe, in die jeder Mensch auf ganz unterschiedliche Weise eingebunden ist. Zugleich offenbart er die Lücken und Zwischenräume eines auf den ersten Blick so gewöhnlich erscheinenden Alltags. Sind die Szenen in jener Stadt, die Yella zu verlassen gedenkt, von sonnenbeschienener Leere geprägt, so steht Hannover, die Stadt, in die sie vor dieser Eintönigkeit flieht, für das Durchschnittsmaß deutscher Städte ohne eigenes Profil. Es könnte auch Düsseldorf sein, oder Delmenhorst. Aufnahme folgt auf Aufnahme, in denen nichts weiter als spiegelverglaste Fassaden unterschiedlicher Büro- und Hoteltürme zu sehen sind. Dahinter geht das Spiel weiter. Das Fassadenhafte verlagert sich nach innen, in die Menschen, die in durchschaubarer Verabredung von Gesten und Handlungen ihr Überleben zu sichern versuchen. Ein riskantes Spiel mit mehrfacher Doppelbödigkeit, in dem es um Existenielles geht: Austauschbarkeit oder Individualität.

Dieser Film ist nach Toter Mann (2001) und Wolfsburg (2003) die nunmehr dritte Zusammenarbeit von Christian Petzold und Nina Hoss, die dafür im Februar auf der Berlinale den Silbenen Bären als „Beste Darstellerin“ erhielt; eine vierte, der Film „Jerichow“, soll folgen. Diese Zusammenarbeit gehört zu den glücklichsten überhaupt im aktuellen deutschen Film, was möglicherweise daran liegt, dass der Zugang zu einem Stoff und der daraus zu erzählenden Geschichte von Regisseur und Hauptdarstellerin auf erstaunlich ähnliche Weise gesucht und gefunden wird. Nina Hoss, man muss es so sagen, gehört auf der Theaterbühne wie im Film zu den präzisesten Schauspielerinnen, die es gibt. Ihr ist es möglich, eine Figur so hochkonzentriert zu spielen, dass diese im selben Moment ein Gefühl und sein Gegenteil verkörpert. So fremd wie ihr Name bleibt uns ihre Yella, und doch vermag man ihr Handeln nachzuvollziehen, weil Nina Hoss die Wahrhaftigkeit der Widersprüche ihrer Figur darzustellen weiß. Wer ist diese Yella? Eine Frau von Anfang dreißig, mit noch ausreichender Kraft für einen Neubeginn, zugleich belastet von Erfahrungen und Schuld, ruhelos und abgebrüht zugleich, in ihrer Präsenz einschüchternd und hilfsbedürftig.

Doch will der Film diese Frage überhaupt beantworten? Mehr als alles andere fungiert Yella als filmisches Prinzip der Abwege und Störungen. Der Zuschauer wird aufgefordert, ihrer kaleidoskopartigen Persönlichkeit nachzugehen und damit zugleich den Film in seinem Kopf Stück für Stück zusammenzusetzen. Hinweise bekommt er zuhauf geliefert, nur offenbaren diese sich als solche erst in der Rückschau. Woher hat Yella diese enorme sensitive Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die kein anderer bemerkt? Was löst sie in der Begegnung mit anderen Menschen aus, was wird in ihr erkannt? Woher diese eigentümliche Nähe zum Wasser? Das Leben, in das sie hinein gerät, ist eines voller Ruhelosigkeit, verbracht in Zügen und auf langen Autofahrten, in Sitzungsräumen und Hotelzimmern. Ein Leben dazwischen, einer Zeit und einem Ort eigentümlich enthoben. Folgt man den zahlreich verwendeten Metaphern in diesem Film, erzählt er die Tatsache, dass kein Alltag ohne Vergangenheit zu erleben ist, dass Gefühle aus früheren Zeiten ein Weggehen verhindern können, dass Schuld – reale oder projizierte – jemanden bis an den Rand des Wahnsinns zu treiben vermag.

Zwischenwelten oder miteinander verschränkte Wahrnehmungs- und Realitätsebenen sind von Beginn an Themen der Filme von Christian Petzold. In Die innere Sicherheit dringt die reale Welt der neunziger Jahre massiv in die selbstgezimmerte Autonomie eines seit 15 Jahren im Untergrund lebenden Terroristenpärchens. Die Konfliktverschärfung und der unaufhaltsame Zusammenprall innerer und äußerer Lebenswelt personfiziert sich in der von Julia Hummer dargestellten pubertierenden Tochter, dem, neben den altgedienten und schal gewordenen Überzeugungen, so offensichtlich realen Überbleibsel einer anderen Zeit. In seinem vorletzten Film Gespenster verschränkt Petzold das Leben einer Mutter, die ihre Tochter als Kleinkind verlor, mit dem Leben eines halbwüchsigen Mädchens, das ihre Tochter sein könnte. Zwei Geschichten, die zusammenpassen könnten und es am Ende nicht tun. Beide Figuren sind füreinander, was sie nicht sein können – Bedrohung und Stütze zugleich.

Christian Petzold lockt auf Fährten, lässt den Zuschauer die Hoffnungskeime seiner Figuren ebenso erspüren wie die darauffolgenden Enttäuschungen und verfällt doch niemals in ein larmoyantes Erzählen.Die wahrgenommenen Zwischenwelten seiner Figuren sind Wunschorte, die aus dem Unvermögen, die Realität so wahrzunehmen wie sie ist, resultieren. Dieses Unvermögen, zugleich als Begabung erzählt, durchzieht als Thema seine Filme, ebenso wie ein erfreulich wiederkehrendes und doch jeweils ganz andere Figuren verkörperndes Schauspielensemble, das selbst die kleinste Nebenrolle hochkarätig ausfüllt. Herausragend Devid Striesow als Philipp und Hinnerk Schönemann als Yellas verzweifelter Ehemann, ebenso aber auch Barbara Auer und Burkhard Klausner als Ehepaar, das von ihr erpresst wird.

 

Yella ist ein Film, der Ruhelosigkeit und Stillstand als zwei Enden dessen, was man Leben nennen mag, erzählt. Der Wunschort, an den sich die Hauptfigur begibt, ist eine Zeitschleife. Wer sagt uns, dass es das nicht gibt? Als Möglichkeit eines befristeten Auswegs, als letzte Hoffnung?

Filmemacherin Catherine Breillat: „Unsere Intimität gehört uns nicht mehr.“ Catherine Breillat im Interview mit Dörte Richter, 15.03.05

Catherine Breillat im Interview mit Dörte Richter

Ihre Filme handeln immer von der weiblichen Identitätsfindung über den Weg der Entdeckung der eigenen Sexualität. Sie sagten einmal: „Die Wahrheit der Liebe ist ihre Körperlichkeit“. Warum immer wieder dieses Thema?

Jedes Mal, wenn man mich fragt, warum ich nicht aufhöre, über Sexualität zu reden, muss ich kontern: Muss man darüber nicht ständig sprechen? Man sollte darüber nicht schweigen, man sollte die ganze Zeit darüber reden, weil die Gesellschaft ständig in einer widerlichen Art und Weise davon spricht, und vor allem ohne jede Reflexion. Sexualität wird immer mit Konsum verwechselt. Die Lust aber ist das eigentliche Vergnügen. Das ist fürchterlich widersprüchlich. Niemand will über die sexuelle Identität sprechen, die auf eine andere Art soviel philosophischer und interessanter ist. Also wird Ihnen eine sexuelle Identität aufgezwungen und zwar in abwertender Weise, wenn man eine Frau ist. Also, es tut mir leid, ich muss mich damit einfach auseinandersetzen.

Aber glauben Sie, dass die Sexualität die einzige Quelle ist, auf der sich die eigene Identität gründet?

Man muss zwei Dinge voneinander trennen: Es gibt eine sexuelle Identität, die sich mehr über Selbstbeobachtung konstituiert, wie in Romance, mit Hilfe von zuweilen brutalen Erfahrungen. Und es gibt die zweite Möglichkeit der Erkenntnis, über den Weg einer philosophischen Reflexion über die sexuelle Identität, auch darüber, von welchen okkulten Kräften unsere Welt regiert wird, von wie vielen Verboten und Verboten und Verboten. Und da es derart viele Verbote und Verweigerungen gibt, glaube ich, dass unsere Intimität uns nicht mehr gehört. Sie wird schon von diesen Kräften regiert. Also sollte man die Erfahrung machen, sich von dem zu befreien, was einen umschließt, was einen bestimmt bis hinein in die intimsten Gesten. Ich glaube immer mehr, dass dies die Möglichkeit enthält, den liebenden Körper vom sozialen Körper zu befreien. Dort gibt es keine Obszönität mehr. Dieser Körper ist dann woanders. Aber dieser Übergang vom sozialen zum liebenden Körper ist mehr oder weniger schmerzhaft, mehr oder weniger lächerlich. Ich bin mittlerweile etwas älter, aber ich erwische mich immer noch zuweilen, das Verhalten eines jungen Mädchens zu haben. Das ist erschreckend. Ich schaffe es, das zu reduzieren, auch es als lächerlich zu akzeptieren, ich weiß, wie man das inszeniert, aber ich schaffe es nicht, es zu ändern.

Was ist das? Das Verhalten eines jungen Mädchens?

Nun, absolute Schüchternheit, diese Angst, frei zu sein. Das hängt zusammen mit den Hemmschwellen, die uns eingepflanzt wurden und die uns steuern. Also sollte man versuchen, solange man jung ist, sich davon zu befreien, um man selbst zu werden…

…um frei zu werden?

Ja, um endlich frei zu sein. Sich nicht mehr schuldig, verklemmt, schüchtern und befangen zu fühlen. Denn wenn man vor sich selber Angst hat, ist man immer grotesk. Es gibt Schauspieler, die sich sehr stark zensieren, weil sie denken, sie sind nicht gut. Sie sind dann tatsächlich nicht gut auf der Leinwand. Die Frauen, die denken, man könnte sehen, dass sie keinen schönen Busen haben, verstecken ihn so, dass man es sieht. Wenn man sich dessen nicht schämt, sieht man es nicht mehr. Man sieht den Menschen an, ob sie sich in ihren Körpern wohl fühlen. Wer das kann, ist immer schön. Körper, die sich schlecht bewegen, sind traumatisiert und gefangen in einem Denken, nicht so zu sein, wie es erwartet wird.

Sie hatten seit Ihrem ersten Film Une vraie jeune fille mit den französischen Zensurbehörden zu kämpfen.

Ich wurde niemals zensiert in Frankreich, das müsste nur mal gesagt werden. Man sagt immer Une vraie jeune fille sei zensiert worden, er war es nicht, er war freigegeben ab 18, somit konnte er problemlos in die Säle kommen. Die, die ihn verbannt haben von dort, waren die Verleiher selbst. Das heißt, es gab ein fiktives X, es gab Leute in dieser Zeit, die den Film nicht auf der Leinwand haben wollten, aber er fiel nie unter ein Verbot. Ich erinnere mich in dieser Zeit an eine Debatte mit den Behörden. Wir stritten darum, wann der Film als pornographisch eingestuft würde, und die Behörde war der Meinung, dies würde der Fall sein, wenn ich eine Großaufnahme des weiblichen Geschlechts zeigen würde. Ich fragte sie: “Haben wir nicht alle dieses Bild zwischen unseren Beinen, ist es wirklich so Ekel erregend, wie Sie mir sagen? Und Sie, haben Sie kein Geschlecht zwischen den Beinen? Ist das auch so hässlich, so abscheulich, so degradierend, wie Sie mir glauben machen wollen, nach dem, was Sie hier sagen?” Es ist nötig, diese Fragen zu stellen, denn alles andere ist demütigend. Letzten Endes muss man sich fragen, warum Sexualität einen so übergreifenden Schrecken auslöst. Weil man die Frauen hasst! Es wird nur nicht so genannt, aber es ist klar, dass es uns vergiftet. Sicher, ich schäme mich. Für nichts. Ich zeigte mein Geschlecht, und im Endeffekt bin ich darauf alles andere als stolz.

Man merkt Ihren Filmen diese Auseinandersetzung immer wieder an. Besonders seit Romance sind Sie radikaler geworden, abstrakter, weniger orientiert an einer Erzählweise, die auf quasi realen Figurenbeziehungen und Handlungen beruht.

Ich wollte immer das Verbotene materialisieren, denn ich will wissen, warum etwas verboten ist. Danach kann ich mir sagen: “Gut, ich habe es verstanden”. Aber generell habe ich immer beobachtet, dass Verbote eine ungemein schöne Seite haben, die ich entdecken musste. Und natürlich suche ich als Regisseurin nach Bildern, die es noch nicht gibt. In der Realität existieren sie, sind aber begrenzt auf den Blick, den man ihnen aufzwingt. Ich kann mir jedes Bild der Welt erlauben, aber es lebt von dem Blick, den ich darauf werfe, und darauf vertraue ich. Viele andere haben kein Vertrauen in diesen Blick und verbieten sich eine Menge. Ich verbiete mir gar nichts, ich zensiere mich da kein bisschen. Ich habe manchmal auch eine riesige Angst davor, aber immer war es so, dass sich die Sachen als die schönsten herausgestellt haben, vor denen ich die meiste Angst hatte.

Denken Sie, dass diese okkulten Kräfte, von denen Sie sprechen – die moralischen Ordnungen, in denen wir alle uns bewegen müssen – Religion, Familie, Gesellschaft – die Entwicklung eines jungen Mädchens zur Frau in so starkem Maße beeinflussen, wie Sie es immer wieder zeigen?

Ich denke, das sieht man in einem Film wie Une vraie jeune fille, der die Scham dem eigenen Körper gegenüber thematisiert. Eine meiner Definitionen von Kunst ist die, dass der Künstler vieles aus dem Unbewussten heraus fabriziert, er hat in diesem Sinne auch kein politisches Bewusstsein. Trotzdem glaube ich, dass Kunst exakt auf die Fragen antwortet, die nicht gestellt werden, die ihnen aber plötzlich so ins Gesicht schlagen können, dass man sie als politische wahrnimmt. Wenn man steif und fest behauptet, eine Religion zu respektieren, hat man keine Lust zu begreifen, was sich dahinter verbirgt und macht sich zu ihrem Komplizen. Diese Komplizen sind vor allem Männer. Sehen Sie, in Frankreich haben wir überall das Problem mit dem Laizismus. Nehmen Sie nur die große Debatte um das Kopftuch. Aber das Kopftuch ist kein Glaubensbekenntnis, in dem Sinne, es umzubinden und sich für die Ehefrau Gottes zu halten. Vielmehr drückt es aus: Ich bin eine Frau, die keine legale Existenz mehr auf der Erde hat. Es ist trotz allem das, eine Sharia. Unterdrückung der Frau durch die Männer. Das Kopftuch signalisiert: Ihr habt kein Recht mehr, denn dieses Kopftuch wählt man nicht selbst, man bekommt es auferlegt.

Warum glauben Sie, spielt Scham oder Schamhaftigkeit so eine große Rolle in der Entwicklung einer sexuellen Identität der Frau?

Die Antwort ist in Anatomie de l’enfer: Wenn die Hölle eine Anatomie hätte, wäre es der weibliche Körper. Da gibt es keine andere Antwort. Schauen Sie, was ich im Alten Testament gefunden habe. Im Hebräischen sind Nacktheit und Geheimnis ein Wort, nicht zwei. Das Geheimnis ist die Nacktheit, es ist dasselbe, das, was man nicht sehen soll. Es ist das Tabu, ein religiöses Tabu. Aber dann hat man Tabu als Synonym für Scham erfunden. Das heißt, im Französischen hat man ihm seinen Namen genommen. Diese Sinnverschiebung von Nacktheit und Geheimnis ist für Frauen sehr schmerzhaft und erklärt die Scham. Man hat Frauen dieser Scham unterworfen, die letztlich diese Nacktheit ist, ihr Geschlecht.

Der Film Anatomie de l’enfer ist die Verfilmung Ihres Buches Pornocratie. Er erzählt die Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau in vier gemeinsamen Nächten. Am Ende dieser Begegnung tötet der Mann die Frau. Schon beim Lesen habe ich sehr darüber nachgedacht, warum Sie dieses Ende gefunden haben.

Nun, das habe ich auch erst besser beim Drehen des Filmes verstanden. Die Bücher bleiben mir selbst zuweilen etwas verborgen. Der Film ist stärker auf die Figur des Mannes konzentriert. Die erste Konfrontation zwischen dem Mann und dem Zuschauer ist die: der Mann ist ein Scheusal. Und der Prozess, der ihn in ein menschliches Wesen umwandelt, ist der Weg der Emotion, die Liebe dieser Frau. Das gibt ihm seine Menschlichkeit. Menschlichkeit im Sinne von Schwachheit, Verletzlichkeit. Aus der männlichen Sicht ist es eine Schwäche, menschlich zu sein. Meiner Meinung nach ist es gerade das Gegenteil. Menschlichkeit ist Liebe, Zärtlichkeit, Intelligenz, Sprache, Wissen. Diese Erfahrung macht er in der Begegnung mit der Frau. Er geht diesen Weg, aber er empfindet auch ein riesiges Erschrecken über die Emotion, sich in diesen Körper, in dieses weibliche Sein hinein fallen lassen zu können. Dieses Gefühl ist derart groß, dass er sich vor ihm retten will, deswegen tötet er sie. Nachdem er sie getötet hat, versteht er erst, dass er sie geliebt hat, dass er ihre Liebe und ihre Schwachheit geliebt hat. Also kehrt er zu diesem Ort zurück.

Aber dieser Mord ist sehr brutal. Er zerstört am Ende die Vision von gegenseitigem Verständnis und Erkennen beider Geschlechter, die der Film thematisiert.

Nein. Den Film muss man als Märchen verstehen, als ein Märchen, das eine Initiation erzählt. Diese Märchen enden anders als gewöhnliche Märchen. Eine Initiation geschieht immer über den Weg des Verlusts. Man erlebt etwas, vielleicht diese Liebesgeschichte, am Ende verliert man den geliebten Menschen. Aber daraus gewinnt man eine Erkenntnis, darum geht es doch. Dieser Mann ist stärker als zuvor, denn er hat seine Schwachheit und seine Menschlichkeit erfahren. Er ist ein anderer Mann geworden, ein menschlicher Mann, kein bestialischer Mann mehr. Er wird das Bedürfnis haben, der Welt zu zeigen, dass er eine neue Person geworden ist. Und diese neue Person wird eine neue Begegnung mit einer anderen Frau haben, und vielleicht an einer Gesellschaft teilhaben, in der die Männer sich Frauen gegenüber anders verhalten werden.

Was, glauben Sie, haben Ihre Filme verändert?

Ich glaube, ich habe Wege eröffnet, immerhin. Doch das denke ich, nein, ich bin mir dessen sicher. Aber es sind eben Wege, das will nicht heißen, wir haben jetzt die freie Autobahn zur Verfügung. Es sind keine leichten Wege gewesen. Aber sie öffnen sich, sie existieren und trotz allem, denke ich, es sind nicht die dümmsten Menschen, nicht die unwichtigsten, die meine Filme verstehen. Das ist mir wichtiger als ein großes französisches Publikum.

Madame Breillat, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dörte Richter.

Das vollständige Interview mit Catherine Breillat findet sich in: Richter, Dörte: Pornographie oder Pornokratie? Frauenbilder in den Filmen von Catherine Breillat. Berlin 2005 (AVINUS Verlag, ISBN 3-930064-55-3 Pick It! , 100 S., 16,00 EUR).

Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien in der Wochenzeitung Freitag vom 13.08.2004.