Catherine Breillat im Interview mit Dörte Richter
Ihre Filme handeln immer von der weiblichen Identitätsfindung über den Weg der Entdeckung der eigenen Sexualität. Sie sagten einmal: „Die Wahrheit der Liebe ist ihre Körperlichkeit“. Warum immer wieder dieses Thema?
Jedes Mal, wenn man mich fragt, warum ich nicht aufhöre, über Sexualität zu reden, muss ich kontern: Muss man darüber nicht ständig sprechen? Man sollte darüber nicht schweigen, man sollte die ganze Zeit darüber reden, weil die Gesellschaft ständig in einer widerlichen Art und Weise davon spricht, und vor allem ohne jede Reflexion. Sexualität wird immer mit Konsum verwechselt. Die Lust aber ist das eigentliche Vergnügen. Das ist fürchterlich widersprüchlich. Niemand will über die sexuelle Identität sprechen, die auf eine andere Art soviel philosophischer und interessanter ist. Also wird Ihnen eine sexuelle Identität aufgezwungen und zwar in abwertender Weise, wenn man eine Frau ist. Also, es tut mir leid, ich muss mich damit einfach auseinandersetzen.
Aber glauben Sie, dass die Sexualität die einzige Quelle ist, auf der sich die eigene Identität gründet?
Man muss zwei Dinge voneinander trennen: Es gibt eine sexuelle Identität, die sich mehr über Selbstbeobachtung konstituiert, wie in Romance, mit Hilfe von zuweilen brutalen Erfahrungen. Und es gibt die zweite Möglichkeit der Erkenntnis, über den Weg einer philosophischen Reflexion über die sexuelle Identität, auch darüber, von welchen okkulten Kräften unsere Welt regiert wird, von wie vielen Verboten und Verboten und Verboten. Und da es derart viele Verbote und Verweigerungen gibt, glaube ich, dass unsere Intimität uns nicht mehr gehört. Sie wird schon von diesen Kräften regiert. Also sollte man die Erfahrung machen, sich von dem zu befreien, was einen umschließt, was einen bestimmt bis hinein in die intimsten Gesten. Ich glaube immer mehr, dass dies die Möglichkeit enthält, den liebenden Körper vom sozialen Körper zu befreien. Dort gibt es keine Obszönität mehr. Dieser Körper ist dann woanders. Aber dieser Übergang vom sozialen zum liebenden Körper ist mehr oder weniger schmerzhaft, mehr oder weniger lächerlich. Ich bin mittlerweile etwas älter, aber ich erwische mich immer noch zuweilen, das Verhalten eines jungen Mädchens zu haben. Das ist erschreckend. Ich schaffe es, das zu reduzieren, auch es als lächerlich zu akzeptieren, ich weiß, wie man das inszeniert, aber ich schaffe es nicht, es zu ändern.
Was ist das? Das Verhalten eines jungen Mädchens?
Nun, absolute Schüchternheit, diese Angst, frei zu sein. Das hängt zusammen mit den Hemmschwellen, die uns eingepflanzt wurden und die uns steuern. Also sollte man versuchen, solange man jung ist, sich davon zu befreien, um man selbst zu werden…
…um frei zu werden?
Ja, um endlich frei zu sein. Sich nicht mehr schuldig, verklemmt, schüchtern und befangen zu fühlen. Denn wenn man vor sich selber Angst hat, ist man immer grotesk. Es gibt Schauspieler, die sich sehr stark zensieren, weil sie denken, sie sind nicht gut. Sie sind dann tatsächlich nicht gut auf der Leinwand. Die Frauen, die denken, man könnte sehen, dass sie keinen schönen Busen haben, verstecken ihn so, dass man es sieht. Wenn man sich dessen nicht schämt, sieht man es nicht mehr. Man sieht den Menschen an, ob sie sich in ihren Körpern wohl fühlen. Wer das kann, ist immer schön. Körper, die sich schlecht bewegen, sind traumatisiert und gefangen in einem Denken, nicht so zu sein, wie es erwartet wird.
Sie hatten seit Ihrem ersten Film Une vraie jeune fille mit den französischen Zensurbehörden zu kämpfen.
Ich wurde niemals zensiert in Frankreich, das müsste nur mal gesagt werden. Man sagt immer Une vraie jeune fille sei zensiert worden, er war es nicht, er war freigegeben ab 18, somit konnte er problemlos in die Säle kommen. Die, die ihn verbannt haben von dort, waren die Verleiher selbst. Das heißt, es gab ein fiktives X, es gab Leute in dieser Zeit, die den Film nicht auf der Leinwand haben wollten, aber er fiel nie unter ein Verbot. Ich erinnere mich in dieser Zeit an eine Debatte mit den Behörden. Wir stritten darum, wann der Film als pornographisch eingestuft würde, und die Behörde war der Meinung, dies würde der Fall sein, wenn ich eine Großaufnahme des weiblichen Geschlechts zeigen würde. Ich fragte sie: “Haben wir nicht alle dieses Bild zwischen unseren Beinen, ist es wirklich so Ekel erregend, wie Sie mir sagen? Und Sie, haben Sie kein Geschlecht zwischen den Beinen? Ist das auch so hässlich, so abscheulich, so degradierend, wie Sie mir glauben machen wollen, nach dem, was Sie hier sagen?” Es ist nötig, diese Fragen zu stellen, denn alles andere ist demütigend. Letzten Endes muss man sich fragen, warum Sexualität einen so übergreifenden Schrecken auslöst. Weil man die Frauen hasst! Es wird nur nicht so genannt, aber es ist klar, dass es uns vergiftet. Sicher, ich schäme mich. Für nichts. Ich zeigte mein Geschlecht, und im Endeffekt bin ich darauf alles andere als stolz.
Man merkt Ihren Filmen diese Auseinandersetzung immer wieder an. Besonders seit Romance sind Sie radikaler geworden, abstrakter, weniger orientiert an einer Erzählweise, die auf quasi realen Figurenbeziehungen und Handlungen beruht.
Ich wollte immer das Verbotene materialisieren, denn ich will wissen, warum etwas verboten ist. Danach kann ich mir sagen: “Gut, ich habe es verstanden”. Aber generell habe ich immer beobachtet, dass Verbote eine ungemein schöne Seite haben, die ich entdecken musste. Und natürlich suche ich als Regisseurin nach Bildern, die es noch nicht gibt. In der Realität existieren sie, sind aber begrenzt auf den Blick, den man ihnen aufzwingt. Ich kann mir jedes Bild der Welt erlauben, aber es lebt von dem Blick, den ich darauf werfe, und darauf vertraue ich. Viele andere haben kein Vertrauen in diesen Blick und verbieten sich eine Menge. Ich verbiete mir gar nichts, ich zensiere mich da kein bisschen. Ich habe manchmal auch eine riesige Angst davor, aber immer war es so, dass sich die Sachen als die schönsten herausgestellt haben, vor denen ich die meiste Angst hatte.
Denken Sie, dass diese okkulten Kräfte, von denen Sie sprechen – die moralischen Ordnungen, in denen wir alle uns bewegen müssen – Religion, Familie, Gesellschaft – die Entwicklung eines jungen Mädchens zur Frau in so starkem Maße beeinflussen, wie Sie es immer wieder zeigen?
Ich denke, das sieht man in einem Film wie Une vraie jeune fille, der die Scham dem eigenen Körper gegenüber thematisiert. Eine meiner Definitionen von Kunst ist die, dass der Künstler vieles aus dem Unbewussten heraus fabriziert, er hat in diesem Sinne auch kein politisches Bewusstsein. Trotzdem glaube ich, dass Kunst exakt auf die Fragen antwortet, die nicht gestellt werden, die ihnen aber plötzlich so ins Gesicht schlagen können, dass man sie als politische wahrnimmt. Wenn man steif und fest behauptet, eine Religion zu respektieren, hat man keine Lust zu begreifen, was sich dahinter verbirgt und macht sich zu ihrem Komplizen. Diese Komplizen sind vor allem Männer. Sehen Sie, in Frankreich haben wir überall das Problem mit dem Laizismus. Nehmen Sie nur die große Debatte um das Kopftuch. Aber das Kopftuch ist kein Glaubensbekenntnis, in dem Sinne, es umzubinden und sich für die Ehefrau Gottes zu halten. Vielmehr drückt es aus: Ich bin eine Frau, die keine legale Existenz mehr auf der Erde hat. Es ist trotz allem das, eine Sharia. Unterdrückung der Frau durch die Männer. Das Kopftuch signalisiert: Ihr habt kein Recht mehr, denn dieses Kopftuch wählt man nicht selbst, man bekommt es auferlegt.
Warum glauben Sie, spielt Scham oder Schamhaftigkeit so eine große Rolle in der Entwicklung einer sexuellen Identität der Frau?
Die Antwort ist in Anatomie de l’enfer: Wenn die Hölle eine Anatomie hätte, wäre es der weibliche Körper. Da gibt es keine andere Antwort. Schauen Sie, was ich im Alten Testament gefunden habe. Im Hebräischen sind Nacktheit und Geheimnis ein Wort, nicht zwei. Das Geheimnis ist die Nacktheit, es ist dasselbe, das, was man nicht sehen soll. Es ist das Tabu, ein religiöses Tabu. Aber dann hat man Tabu als Synonym für Scham erfunden. Das heißt, im Französischen hat man ihm seinen Namen genommen. Diese Sinnverschiebung von Nacktheit und Geheimnis ist für Frauen sehr schmerzhaft und erklärt die Scham. Man hat Frauen dieser Scham unterworfen, die letztlich diese Nacktheit ist, ihr Geschlecht.
Der Film Anatomie de l’enfer ist die Verfilmung Ihres Buches Pornocratie. Er erzählt die Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau in vier gemeinsamen Nächten. Am Ende dieser Begegnung tötet der Mann die Frau. Schon beim Lesen habe ich sehr darüber nachgedacht, warum Sie dieses Ende gefunden haben.
Nun, das habe ich auch erst besser beim Drehen des Filmes verstanden. Die Bücher bleiben mir selbst zuweilen etwas verborgen. Der Film ist stärker auf die Figur des Mannes konzentriert. Die erste Konfrontation zwischen dem Mann und dem Zuschauer ist die: der Mann ist ein Scheusal. Und der Prozess, der ihn in ein menschliches Wesen umwandelt, ist der Weg der Emotion, die Liebe dieser Frau. Das gibt ihm seine Menschlichkeit. Menschlichkeit im Sinne von Schwachheit, Verletzlichkeit. Aus der männlichen Sicht ist es eine Schwäche, menschlich zu sein. Meiner Meinung nach ist es gerade das Gegenteil. Menschlichkeit ist Liebe, Zärtlichkeit, Intelligenz, Sprache, Wissen. Diese Erfahrung macht er in der Begegnung mit der Frau. Er geht diesen Weg, aber er empfindet auch ein riesiges Erschrecken über die Emotion, sich in diesen Körper, in dieses weibliche Sein hinein fallen lassen zu können. Dieses Gefühl ist derart groß, dass er sich vor ihm retten will, deswegen tötet er sie. Nachdem er sie getötet hat, versteht er erst, dass er sie geliebt hat, dass er ihre Liebe und ihre Schwachheit geliebt hat. Also kehrt er zu diesem Ort zurück.
Aber dieser Mord ist sehr brutal. Er zerstört am Ende die Vision von gegenseitigem Verständnis und Erkennen beider Geschlechter, die der Film thematisiert.
Nein. Den Film muss man als Märchen verstehen, als ein Märchen, das eine Initiation erzählt. Diese Märchen enden anders als gewöhnliche Märchen. Eine Initiation geschieht immer über den Weg des Verlusts. Man erlebt etwas, vielleicht diese Liebesgeschichte, am Ende verliert man den geliebten Menschen. Aber daraus gewinnt man eine Erkenntnis, darum geht es doch. Dieser Mann ist stärker als zuvor, denn er hat seine Schwachheit und seine Menschlichkeit erfahren. Er ist ein anderer Mann geworden, ein menschlicher Mann, kein bestialischer Mann mehr. Er wird das Bedürfnis haben, der Welt zu zeigen, dass er eine neue Person geworden ist. Und diese neue Person wird eine neue Begegnung mit einer anderen Frau haben, und vielleicht an einer Gesellschaft teilhaben, in der die Männer sich Frauen gegenüber anders verhalten werden.
Was, glauben Sie, haben Ihre Filme verändert?
Ich glaube, ich habe Wege eröffnet, immerhin. Doch das denke ich, nein, ich bin mir dessen sicher. Aber es sind eben Wege, das will nicht heißen, wir haben jetzt die freie Autobahn zur Verfügung. Es sind keine leichten Wege gewesen. Aber sie öffnen sich, sie existieren und trotz allem, denke ich, es sind nicht die dümmsten Menschen, nicht die unwichtigsten, die meine Filme verstehen. Das ist mir wichtiger als ein großes französisches Publikum.
Madame Breillat, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dörte Richter.
Das vollständige Interview mit Catherine Breillat findet sich in: Richter, Dörte: Pornographie oder Pornokratie? Frauenbilder in den Filmen von Catherine Breillat. Berlin 2005 (AVINUS Verlag, ISBN 3-930064-55-3 , 100 S., 16,00 EUR).
Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien in der Wochenzeitung Freitag vom 13.08.2004.