Wirtschaftlicher und sozialer Umbruch weltweit…wann? UNO Vizegeneralsekretär José Antonio Ocampo im Interview mit Camilo Jimenez, 12.01.07

Interview* mit dem UNO Vizegeneralsekretär José Antonio Ocampo

Auch im Wirtschafts- und Sozialbereich ist der Prestigeverlust der UNO nichts Neues. Schon während der achtziger und neunziger Jahre büßte die Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten heftig an Einfluss ein, als die Weltbank und andere Organisationen die Zügel der Weltwirtschafts- und -sozialordnung übernahmen. Aus dieser Ohnmacht heraus zu kommen und eine regulierende und letztendlich definierende Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Geschehen zu spielen, sind die Ziele des UNO Vizegeneralsekretärs José Antonio Ocampo. Im Gespräch mit dem AVINUS Magazin sprach der seit 2003 amtierende Leiter der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten über Armut und Elend, über die Weltwirtschaftslage und über seine Bemühungen auf der weltpolitischen Spitze.

Ein weiteres Jahr ging zu Ende und die Jahresberichte der UNO enthüllen einen katastrophalen Zustand der Weltgemeinschaft: Armut und Ungleichheit nehmen zu, die Arbeitslosigkeit gerät sogar in den Industrieländern außer Kontrolle, Hunger und Elend kosteten letztes Jahr Millionen von Menschen das Leben. Wie sehen Sie als Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen und Leiter der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten diese Situation?

Lassen Sie mich das Ganze auf die wirtschaftlichen und sozialen Themen konzentrieren. In Wirklichkeit ist die Situation viel besser als die etwas düsteren, in der Welt kursierenden Bilder es annehmen lassen. Als Gruppe erleben die Entwicklungsländer seit vier Jahren ihre größte wirtschaftliche Wachstumsperiode seit langer Zeit. Sie sind dieses Jahr durchschnittlich um 6,5% gewachsen. Gleichzeitig erlebte der afrikanische Kontinent dieses Jahr die wirtschaftliche Blütezeit seiner Geschichte. Obwohl es bisher noch keine Schätzungen für Probleme wie extreme Armut gibt, sehen wir somit eine Verbesserung der Situation in Teilen der Welt, in denen es bisher keine starken Signale der Verbesserung gab. Auch in Lateinamerika, wo die Armut durch die Krise Ende der neunziger Jahre zugenommen hatte, beginnen die Zahlen dieses Jahrhundert zurückzugehen.

Aber die Zahlen zeigen, dass weltweit – und besonders in Lateinamerika – weiterhin eine groteske Ungleichheit herrscht. Die Hälfte des globalen Vermögens gehört 1% der Weltbevölkerung und 40% der lateinamerikanischen Bevölkerung lebt noch immer in extremer Armut.

In keinster Weise. Ich bin fest davon überzeugt, dass Lateinamerika die extreme Armut beseitigen kann. Klar sind die enormen Ausmaße der Ungleichheit immer noch das große Problem. Aber selbst in Bezug auf diese Ungleichheit, auch wenn die Geschichte bis heute das Gegenteil zeigt, ist Fortschritt möglich. Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass jegliche Maßnahme gegen die Ungleichheit unweigerlich eine langfristige Maßnahme ist. An erster Stelle muss man den Aufbau eines Bildungskapitals, eines höheren Bildungsstandards – und zwar eines qualitativ hochwertigen – für die ärmsten Schichten der Bevölkerung ermöglichen. Gleichzeitig müssen Mechanismen entwickelt werden, die den kleinen Produzenten und Unternehmen, besonders in ländlichen Gegenden, Zugang zu Land und Technologien verschaffen und die gleichfalls einen aktiven Gebrauch des Steuer- und besonders des Finanzsystems erlauben, um die Verteilung des Einkommens zu verbessern. In einigen dieser Maßnahmen, muss ich sagen, machen viele lateinamerikanische Länder Fortschritte. Ergebnisse werden wir erst längerfristig sehen.

Man sieht aber mehr Rückschritte als Fortschritte…

Das liegt daran, dass diese Fortschritte eben auch Rückschritte mit sich bringen: Zwei Schritten nach vorne folgt meist ein Schritt nach hinten. Sehen wir uns zum Beispiel die Bildung an. Zweifelsohne ist Lateinamerika in Sachen Bildung vorangekommen – das ist eins der Millennium-Entwicklungsziele, das auf diesem Kontinent mit Sicherheit erreicht werden wird. Gleichzeitig deuten allerdings viele Daten an, dass sich die Spaltung, die das Bildungssystem verursacht, in vielen Ländern immer mehr besonders in der Kluft zwischen privater, qualitativ hochwertiger und öffentlicher Bildung widerspiegelt. Insofern bietet das Bildungssystem zwar einerseits höhere Ausbildungsstandards für die ganze Bevölkerung, entfernt sich aber andererseits in gewissem Sinne von der Bevölkerungsmehrheit. Infolgedessen sind die Fortschritte ambivalent. Und dies kann man nur langfristig lösen, indem man die Qualität der öffentlichen Bildung signifikant verbessert.

Von der UNO unabhängige Organisationen entwickeln seit einigen Jahren Modelle, durch die beispielsweise die extreme Armut beseitigt werden könnte. Wie sieht die UNO das vom Basic Income Earth Network (BIEN) angestoßene Projekt zur Einführung eines weltweiten Grundeinkommens?

Einige von diesen Modellen werden zurzeit in Lateinamerika umgesetzt; sie gehen in eine entsprechende Richtung und haben ihre Ziele tatsächlich erreicht. Besonders in Brasilien durch die so genannte Bolsa Familia und in Mexiko durch das Programm Oportunidades, wo armen Familien ein Grundeinkommen angeboten wird unter der Bedingung, dass die Kinder zur Schule und die Mütter zu regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen gehen, hat man gezeigt, dass Initiativen dieser Art interessante Alternativen sein können. Es sind Instrumente, die – ohne große staatliche Gelder zu kosten – eine Verbesserung der Verhältnisse in den ärmsten Haushalten erzielen. Das kann als eine Art Grundeinkommen betrachtet werden und hat den zusätzlichen Vorteil, dass es mit Verbesserungen im Bereich der Bildung und der Gesundheit verbunden ist.

Warum erhalten diese Projekte dann keine umfassende Unterstützung?

Das Problem ist, dass diese Mechanismen in Konkurrenz treten mit anderen staatlichen Formen der finanziellen Unterstützung. Also, wenn eine Regierung diesbezüglich zu einem Entschluss kommen muss, stellt sie fest, dass es nicht so viel Sinn hat, solchen Programmen Geld zuzuweisen, wenn für Investitionen oder die Gesundheit Geldmittel fehlen. Daher sehen sich die Staaten vielmals gezwungen, Entscheidungen zu fällen, die nicht unbedingt die günstigsten sind. Grundsätzlich denke ich, dass das Grundeinkommen eine gute Option ist. Aber man sollte immer vor Augen haben, dass es noch anderen Bedarf nach öffentlichen Geldern gibt und dass immer eine Auswahl getroffen werden muss.

Mit den Millennium-Villages der UNO wurde durch ein groß angelegtes soziales Projekt ein Meilenstein zur Verbesserung der Situation der ärmsten Schichten in den Entwicklungsländern gesetzt. Was hat die UNO aus ihrer Erfahrung mit den Millennium Villages gelernt?

Die Millennium Villages sind ein Pionierprojekt und es gibt bereits verschiedene Beispiele, hauptsächlich in Afrika. Ich glaube, dass es ein interessantes Modell ist. Trotzdem bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der Fortschritt der Gesellschaft in Bezug auf die Millennium Entwicklungsziele unbedingt über den Staat laufen muss. Es ist der Staat, der die grundlegenden sozialen Dienste zur Verfügung stellen muss. Aus diesem Grund sollte man nicht versuchen, die eigentlich staatlichen Programme durch zusätzliche Mechanismen zu ersetzen. In den armen Ländern beobachten wir oft, dass durch zielgerichtete Aktionen – sogar Aktionen der NGOs – versucht wird, parallel zum Staat zu arbeiten, obwohl ja eigentlich alles über den Staat laufen müsste. In allen Ländern dieser Welt, die zumindest in Bezug auf die Überwindung grundlegender sozialer Probleme große Fortschritte gemacht haben, ist der Staat die treibende Kraft gewesen. Die Millennium Villages sind wichtig, sofern sie in andere, umfassendere staatliche Programme eingegliedert werden. Für die armen Länder gibt es zurzeit bei uns in der UNO viel Aufmerksamkeit in dieser Sache, denn die Wahrheit ist, dass viele dieser sozialen Programme parallel zum Staat durchgeführt werden, was langfristig nicht die erhofften Wirkungen erzielen wird, da sie nicht im Sinne des State Building den Staat aufbauen – das aber ist nötig für alle diese Länder, um voranzukommen.

Die Amtszeit Kofi Annans hinterlässt die UNO, was ihre Teilnahme an der internationalen Politik angeht, als geschwächte Organisation. Empfinden Sie einen ähnlichen Verlust an Glaubwürdigkeit und Partizipation in der Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten?

Auf dem Gebiet der Entwicklung ist die Amtszeit Kofi Annans durch drei große Meilensteine gekennzeichnet: Der erste ist der Millenniumsgipfel und die Millennium Entwicklungsziele, die dort ausgerufen wurden, sowie seine Fortsetzung im Jahre 2005. Diese beiden Ereignisse brachten die meisten Staatschefs in der Weltgeschichte an einem Ort zusammen. Die Entwicklungsziele sind zu einer Leitlinie der internationalen Agenda geworden: Die europäischen Zusammenarbeitsorganisationen haben sie aufgegriffen; die Empfängerländer haben sie angenommen; die Niedrigeinkommensländer agieren in allem, was ihre Beziehungen mit der Internationalen Gemeinschaft betrifft, im Rahmen dieser Agenda; und gleichfalls hat jede Entwicklungsbank diese Agenda ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Sogar die Islamische Entwicklungsbank hat vor einem Monat während einer Generalversammlung bezüglich der Entwicklungsziele, insbesondere ihrer Kooperation mit Afrika, diese Agenda präsentiert.

Und die anderen beiden Meilensteine?

Der zweite Meilenstein stellt die Monterrey-Konferenz für die Finanzierung der Entwicklung im Jahr 2002 dar. Dieser Gipfel ist sehr wichtig, weil er zum Rahmen der ersten internationalen finanziellen Zusammenarbeit der Geschichte wurde. Und aus dem so genannten Monterrey-Konsensus entstand das Konzept des Global Partnership for Development, die Idee, dass die Weltentwicklung nur aus einem Zusammenschluss von Industrie- und Entwicklungsländern entspringen kann. Jener hat ebenso seine Tragkraft in Hinblick auf die nationalen Bemühungen und auf die internationale Zusammenarbeit in Handels- und Finanzfragen, besonders im finanziellen Bereich entfaltet der Monterrey-Konsensus seine ganze Reichweite. Der dritte Meilenstein ist der Gipfel von Johannesburg im Jahre 2002, der auf den Erdgipfel in Río de Janeiro folgte. Dieser Gipfel ist sehr wichtig, da hier die Agenda für nachhaltige Entwicklung auf internationaler Ebene wieder aufgegriffen wurde– damit blieb sie im Zentrum der Aufmerksamkeit.

In welchem Zustand haben Sie die Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten 2003 übernommen und wo haben Sie den Schwerpunkt gesetzt?

Diese Abteilung war das Ergebnis einer Fusion dreier Abteilungen. Als ich hier ankam, spürte man die Spaltung noch stark. Die Hauptfunktion der Abteilung ist es, die Entwicklungsdebatte der UNO zu unterstützen – ich meine die Debatte in der Generalversammlung, im Wirtschafts- und Sozialrat, in den mannigfaltigen Hilfsorganen und bei den Fortsetzungen der internationalen Gipfel. Mein Ziel war es, der Abteilung ein klares Konzept zu geben, das ihre Einheit sicherstellen würde. In unseren internen Diskussionen sage ich oft, dass ich diese Abteilung übernommen habe wie einen Zusammenschluss von unabhängigen Republiken – und es geschafft habe, daraus eine föderale Republik aufzubauen. Wir sehen uns nun also wie ein Zusammenschluss von Entitäten mit einer gemeinsamen Agenda, der so genannten UNO-Entwicklungsagenda, die nichts anderes ist als das Ergebnis aller Weltgipfel der UNO. Dies war für mich die größte interne Organisationsaufgabe, als ich in dieser Abteilung anfing.

Während der achtziger und neunziger Jahre verlor Ihre Abteilung an Einfluss auf das Weltgeschehen. Wie kann Ihre Abteilung aktuell ihre Position von den großen Organisationen zurückerobern, die während der letzten zwanzig Jahre ihre Funktionen übernahmen?

Ich habe einen besonderen Schwerpunkt darauf gesetzt, die analytische Qualität der UNO-Arbeiten zu verbessern. Die Wahrheit ist, dass die analytische Aufgabe und die technische Kooperation der Vereinten Nationen in den achtziger Jahren an zweite Stelle gerückt sind. Die Weltbank übernahm Aufgaben, die traditionellerweise in den Arbeitsbereich der Vereinten Nationen fielen, in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren beispielsweise, was die Kooperation und Entwicklung angeht. In den achtziger Jahren wurde von den Weltmächten eine explizite Entscheidung gefällt, diese Aufgabenbereiche der Weltbank zu übertragen. Ich glaube, dass wir uns in einem Prozess der Wiedergewinnung dieses Terrains befinden, und dazu brauchen wir eine höhere technische Qualität unserer Arbeitsergebnisse.

…und auch eine größere Legitimität vor den Mitgliederstaaten der UNO.

Natürlich, langfristig wird das das Wichtigste sein. Durch diese Abteilung bin ich zum Befürworter zweier Dinge geworden, die letztendlich bedeutungsvoll für die Zukunft sein werden: zum einen die Reform des Wirtschafts- und Sozialrats. Diese Reform haben wir ins Rollen gebracht und sie ist erst vor wenigen Monaten durch die Generalversammlung bestätigt worden. Es war eine lange Debatte, aber die Kernideen stammen aus dieser Abteilung. Die Ideen waren nämlich die Errichtung eines Kooperationsforums mit Weltcharakter im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats und die Schaffung eines viel stärkeren Mechanismus der Accountability für die Kompromisse, die die Länder in wirtschaftlichen, sozialen und Umweltfragen während der UNO-Gipfel erzielt haben. Langfristig glaube ich, dass die UNO einen ähnlichen Mechanismus haben wird wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Object Management Group oder der Internationale Währungsfonds, die Gegenstand eines regelmäßigen Peer-Reviews sind. In Sachen Wirtschaft und Soziales existiert so etwas nicht in der UNO. Es existiert kein Kontrollmechanismus, der es ermöglicht herauszufinden, welche Kompromisse die jeweiligen Länder geschlossen haben, und der regelmäßig und öffentlich darüber Auskunft gibt, wer den Kompromiss erfüllt hat und wer nicht – was letztendlich die Aufgabe all dieser Organisationen ist. Und die zweite große Aufgabe ist es, systematisch zu arbeiten. Dabei ist die Verbesserung der Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der UNO, den Regionalkommissionen und mit der UNTA (United Nations Regular Programme of Technical Assistance) bisher unser großer Erfolg gewesen.

Kommen wir zu Europa. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und England sorgt man sich über Arbeitslosigkeit, Verstärkung des Elends und Abbau des Sozialstaats aus. Wie sehen Sie diese Veränderungen?

Im lokalen bzw. nationalen Kontext erscheinen die Veränderungen sehr tief greifend, aber aus weltweiter Perspektive sieht man eher das Überleben der europäischen Sozialstaaten, nicht ihren Abbau. Es gibt wichtige Anpassungen, die am so genannten Sozialstaat vorgenommen werden müssen und die derzeit auch vorgenommen werden, um ihn finanzierbar zu machen, vor allem angesichts der verschiedenen demographischen Veränderungen, die zurzeit in Europa stattfinden. Aber ich glaube nicht, dass man ernsthaft von einem Abbau des Sozialstaates sprechen kann. Wie üblich wird die politische Debatte je nach Kontext mit viel härteren Worten ausgefochten als sie in Wirklichkeit ist.

Was wird mit den Wirtschaften Lateinamerikas passieren, wenn die so genannte politische Linkswende die traditionellen Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern verändert?

Die Linkswende hat einige Anspannungen erzeugt, aber im Grunde genommen glaube ich, dass der Integrationsprozess, was die Wirtschaft angeht, schon sehr weit fortgeschritten ist. Ich meine den freien Handel zwischen den lateinamerikanischen Ländern, welcher weiter vorankommen muss und wird. Obwohl der Fortschritt nicht schnell vonstatten ging, beobachte ich mit besonderem Interesse die Programme zur Infrastruktur und Integration in der Region. Obgleich es Erfolge auf diesem Gebiet gegeben hat, bleibt viel zu tun. Auf der anderen Seite glaube ich, dass der politische Wandel etwas offenbart hat, das alle Regierungen anerkennen müssen, und zwar, dass die neoliberalen Reformen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr wenig auf dem Kontinent erreicht und aus einer sozialen Perspektive mehr geschadet als genutzt haben. Also heißt es, eine neue Agenda zu gestalten, in der mehr Gleichgewicht zwischen Staat und Wirtschaftsmarkt herrscht, als man es vor 15 oder 20 Jahren für nötig hielt.

Herr Ocampo, vielen Dank für das Gespräch.


* Das Interview wurde von Britta Astrid Verlinden aus dem Spanischen übersetzt.