von Ulrike Frenzel
- Das ganze Leben liegt vor dir, Regie: Paolo Virzì, Produktion: Italien 2008, Laufzeit: 117 Minuten.
Der italienische Regisseur Paolo Virzi erzählt die tragischkomische Geschichte der frischgebackenen Philosophieabsolventin Marta. Ihr perfekter Abschluss bringt ihr zwar viele lobende Worte ein, ist ihr bei der Arbeitssuche allerdings keine Hilfe. Und so führt Martas Überlebenskampf auf dem Stellenmarkt unerwartet in die schillernde Callcenterabteilung der Firma „Multiple“, für die sie nun halbtags ein fragwürdiges Multifunktionsküchengerät an Hausfrauen verkaufen soll. Marta, charmant und lebensfroh, stürzt sich voll Optimismus auf ihre neue Aufgabe und ist zur eigenen Überraschung so erfolgreich darin, Kundinnen über den Tisch zu ziehen, dass sie schnell zu Multiples bester Telefonistin wird.
Verwirrt über die eigene Skrupellosigkeit, befremdet von der sektengleichen Leistungsideologie des Callcenters, überfordert von ihrer neuen Rolle als arbeitendes Mitglied der Gesellschaft und mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie nicht ganz sicher, ob das nicht alles nur ein großer Scherz ist, durchlebt sie alle Facetten ihrer neuen Arbeit.
Aber sie gehört nie wirklich dazu. Sie versucht, die außerirdische Parallelwelt mit seinen indoktrinierten Verkäufern und eitlen Chefs philosophisch zu ergründen, nutzt ihren philosophischen Überbau letztendlich aber dazu, in diesem System noch effektiver zu funktionieren. Durch ihre Augen beobachtet der Film das Arbeitsleben, ironisiert es, ohne Lösungen anzubieten. Das erfolgsorientierte Callenter ist nicht brutaler als der Rest der Gesellschaft und auch wenn hier am Ende die Lichter ausgehen, ist Multiple in der Filmwelt nur ein kleiner Fisch. Dem Unheil ist nicht beizukommen. Das Gefühl stellt sich erst recht ein, wenn Marta stellvertretend für die ganze Zunft mit den gut gemeinten Hilfsangeboten des engagierten, aber naiven Gewerkschafters Conforti abrechnet. „In Wahrheit verhaltet ihr euch nur großkotzig. Eure Schäfchen sind im Trockenen, ihr kriegt ein festes Gehalt und eure Frauen warten zu Hause.“ Der Niedriglohnsektor ist in seiner Dynamik für althergebrachte Kontrollmechanismen nicht mehr greifbar. „Was erwartest du von ihnen? Für sie ist dieser Drecksjob die einzige Chance, die sie haben“, kommentiert Marta frustriert das Los ihrer leicht manipulierbaren Kolleginnen, die froh sind, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Ob das so stimmt, ob sie wirklich keine Wahl haben, bleibt dem Zuschauer überlassen.
Der Film ist bitter, ohne seinen Optimismus einzubüßen. Sonnige, strahlend helle Filmfarben transportierten eine vernichtende Gesellschaftskritik. Der Schluss ist versöhnlich, wirkt aber höchstens auf den ersten Blick als Happy End. Marta findet weder Schutz in einer sicheren Anstellung noch in einer neuen Liebe. All ihre bis zur Lebensunfähigkeit verblendeten Multiple-Kolleginnen werden lediglich in eine unsichere Freiheit entlassen, mit der sie nichts anzufangen wissen. Kein Hollywood, kein Märchen. In Wahrheit wird nichts abgeschlossen. Und ohne Geld geht es nun mal nicht. Trotz all der Ironie und Absurdität, mit der der Film aufwartet, lässt er einen mit dem unguten Gefühl zurück, dass vieles gar nicht wirklich überspitzt ist. Aber ganz bestimmt wird alles gut …