von Simon Pühler
- PFITZENMAIER, Pascal/ HILLE, Gunter, REUTERS, Hella (Hg.): Bibliothek der Sexualwissenschaft: 36 Klassiker der Sexualwissenschaft als Faksimile auf DVD. Hille, Hamburg 2008. ISBN 978-3-86511-524-9.
Der Kulturwissenschaftler Pascal Pfitzenmaier hat zusammen mit Gunter Hille und Hella Reuters Klassiker der Sexualwissenschaft auf einer DVD herausgegeben. 36 teils vergriffene Werke sind nun im Projekt Gutenberg-DE in digitaler Neuauflage als faksimilierter e-Reprint erschienen. Dass hier tatsächlich gleich eine ganze „Bibliothek“ vorliegt, zeigt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieses ersten Teils der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“: Über 14.000 gescannte Buchseiten – darunter zahlreiche Illustrationen, Schwarz-Weiß-Fotografien und farbige Tafelanhänge – verbergen sich hinter den hier versammelten Titeln, die vor allem die Anfänge der Sexualwissenschaft im späten 19. Jahrhundert bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Bestseller wie Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886, hier in der Ausgabe von 1912) oder Schlüsselwerke der Berliner Sexpioniere Iwan Bloch, Albert Eulenburg und Magnus Hirschfeld können nun – dank einfacher Handhabung und Navigation – am Computer wiederentdeckt werden.
Es ist spannend zu beobachten, wie in den Werken Krafft-Ebings, Blochs, Eulenburgs und Hirschfelds einerseits Aufklärungs- bzw. Emanzipationsstrategien verfolgt werden, die einen wesentlichen Grund für die Entstehung und Entwicklung der Sexualwissenschaft darstellten, und andererseits, wie die Mediziner – oder besser gesagt Medizin-Schriftsteller – jenes noch weitgehend unbekannte Feld des modernen Eros erkundeten und einer breiten Öffentlichkeit vorstellten. Dass die wissenschaftliche Betrachtung des Sexes von Anfang an auf ein klar umrissenes Objekt verzichten musste, macht den ungeheuren Reiz, aber auch das unlösbar Problematische dieser Disziplin aus.
Neben der Sexualmedizin kommen hier jene Fächer zur Geltung, die heute dem Kanon der Kulturwissenschaften zugeschlagen werden (Ethnologie, Religions- und Literaturwissenschaften etc.). In ihrer verblüffenden wie auch schillernden Mixtur formatieren bzw. antizipieren sie bereits die (post-)moderne Generforschung. In Das Sexualleben unserer Zeit (1906) fordert Iwan Bloch, dass die Sexualforschung interdisziplinär arbeiten solle, „nicht bloß vom Standpunkte des Arztes, sondern auch von dem des Kulturhistorikers“ aus, um dem Einfluss der Sexualität auf alle Lebensbereiche gerecht zu werden.
Trotz derartiger Weitsicht empfiehlt sich generell eine kritische Lektüre der Abhandlungen, welche die Rollenbilder und die Geistesströmungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg miteinbeziehen. Einige Texte oder Textpassagen sind nur mit Vorsicht zu genießen. So verwechseln die Autoren – bis auf eine Ausnahme (Ellen Key) sind alle männlich – gerne Natur mit Kultur: beispielsweise Richard von Krafft-Ebing in der Psychopathia sexualis (1886/1912). Oder sie erklären persönliche, mitunter antisemitische oder misogyne Standpunkte zu unumstößlichen Sex-Wahrheiten: zum Beispiel Otto Weininger in Geschlecht und Charakter (1903), Paul Julius Möbius in Der physiologische Schwachsinn des Weibes (1906) und Ferdinand Freiherr von Reitzenstein in Das Weib bei den Naturvölkern (1923/1931)). Oder aber sie entwerfen im günstigsten Falle einfach ein alternatives Geschlecht, das anders wahrnimmt und begehrt, so Magnus Hirschfeld im zweiten Band der Sexualpathologie, Sexuelle Zwischenstufen: Das männliche Weib und der weibliche Mann (1918).
Obwohl die Autoren jene Zwischentöne und Unschärferelationen, in denen sich Sex stets unbewusst artikuliert, zwar schon hinreichend erkannten (darin begründet sich ihre interdisziplinäre Arbeitsweise), gingen sie in ihren Schlussfolgerungen nicht selten biologistischen oder moralischen Vorstellungen auf den Leim. Selbst der „Einstein des Sexes“, Magnus Hirschfeld, der mit seinem Postulat der sexuellen Zwischenstufen den Grundstein für die aktuelle „Queer-Theory“ legte und sich zudem für die Rechte von Homosexuellen stark machte, betrachtete das Schwulsein letztendlich als Degeneration mit Krankheitswert. Auch wenn die Forschung in den letzten Jahrzehnten viele Irrtümer, Halbwahrheiten und Lügen aus dem Weg räumen konnte, bleibt die Wissenschaft vom Sex ein schwammiges und äußerst streitbares Feld. Daher kein Wunder, wenn auf drängende Fragen zum Thema, wie sie sich zuletzt in den Debatten um das Inzestverbot oder um den Sex unter Minderjährigen stellten, keine einfachen oder zufriedenstellenden Antworten gefunden werden können und Politik und Rechtsprechung meistens ziemlich ratlos dastehen.
Umso mehr lohnt es, den Blick auf das historische Material zu werfen. Auch hier zeichnet sich der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Norm oder Gesetz (Tugend, Moral, Sitte, Tabus, Verbote) und den abseitigen Begierden des Einzelnen oder bestimmter Gruppen deutlich ab. Krafft-Ebings Psychopathologie ist dafür vielleicht das prominenteste Beispiel. Denn jene sexuellen Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienen, klassifizierte der Neurologe als pervers und nahm damit – ohne es zu bemerken – die Heterosexualität in ihrer bürgerlichen Ausprägung als absolutes Maß. Gerade deswegen war ja jede Abweichung – sei es nun die Homosexualität, die Onanie oder die sadomasochistische Lust – für den Autor und seine Leserschaft so ungemein interessant. Darin lag der große internationale Erfolg dieser Publikation, eine wissenschaftlich fundierte Freakshow, die perfekt an die Schaulust und Sensationsgier im 19. Jahrhundert angepasst war. Trotzdem hatte sie ihren Vorteil: Viele sogenannte „Perverse“ waren froh zu erfahren, dass sie mit ihren Leidenschaften nicht allein waren. Erste Netzwerke, in denen spezielle sexuelle Vorlieben ausgelebt werden konnten, bildeten sich heraus.
Drei weitere Werke der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ widmen sich dem Sadomasochismus beziehungsweise der historischen Person des Marquis de Sade. Dieser berüchtigte Adlige hatte im Frankreich des 18. Jahrhunderts quasi eine Psychopathologie avant la lettre erfunden, in der er alle Perversionen seiner Zeit vollständig, das heißt mit enzyklopädischen Anspruch, aufgestellt hatte. Mit dem bedeutsamen Unterschied jedoch, dass seine Wissenschaft keinem übergeordneten, gesellschaftlichen Auftrag folgte, sondern nur dem eigenen Lustgewinn. Sades Erkenntnisse offenbaren sich in den untrüglichen Zeichen von Lust und Schmerz, die immer nur experimentell – das heißt im sexuellen Akt selbst – erfahrbar werden. Dabei geht es um das Augenblickliche und Zufällige des Sexes, aber auch um dessen Gewalt und Monstrosität. Vor diesem Hintergrund fiel es Albert Eulenburg leicht, den Schwindel der Psychopathia sexualis aufzudecken. Zu Recht kritisiert er, dass sich Krafft-Ebings Sadomasochismus-Definition an einem „normalen“ heterosexuellen Geschlechterverhältnis orientiere, um überhaupt von krankhaften Abweichungen reden zu können. Auch Iwan Bloch, der sein umfangreiches Wissen über Sade in zwei Büchern unter dem Pseudonym Dr. Eugen Dühren publizierte (und dabei schon eine bemerkenswerte Diskursanalyse betrieb), bricht mit vielen Klischeevorstellungen seiner und unserer Zeit. Dass Frauen – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Moderne fast immer von gesellschaftlicher Macht und Politik ausgeschlossen seien und nur als Anhängsel oder Symptom des Mannes figurieren, wird hier in einem aufschlussreichen Kapitel über „Die Frau im 18. Jahrhundert“ widerlegt.
Ein anderer Schwerpunkt der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ liegt auf dem Themenfeld „Sexualität und Fremde“. Die hier gelisteten Werke nähern sich der Sexualität weniger über die individuelle Abweichung als über den ethnografischen Blick auf andere Kulturen an. So beleuchtet Iwan Blochs sechsbändige Sexualpsychologische Bibliothek (1910) das Liebesleben in Frankreich, Japan und Spanien; etwa zeitgleich erschienen die Ausführungen des Sexualethnologen Ferdinand Freiherr von Reitzenstein zu Liebe und Ehe im alten Orient oder im europäischen Altertum. Obwohl dieser mit seinen Lieblingsthemen „Liebe und Ehe“ den Blick über den Tellerrand wagte und sich in andere Zeiten und Räume begab, blieben seine Erkenntnisse doch eher begrenzt. Denn anstatt das Fremde tatsächlich in seiner Andersheit zu erkunden, diente es ihm vielmehr dazu, die eigenen sexistischen Vorurteile zu bestätigen. Reitzensteins Werke sind „kulturgeschichtliche Dokumente der Neugierde an der Sexualität, zugleich aber auch der Versuch einer Aneignung oder Unterwerfung des Fremden in der Gestalt der Frau“, schreiben die HerausgeberInnen in ihrer Einleitung.
Überhaupt scheint „die“ Frau und das Eheleben in der frühen Sexualwissenschaft eine wichtige Rolle gespielt zu haben, wie es auch in der Ratgeberliteratur eines Paolo Mantegazza oder Theodoor Hendrik van de Velde deutlich wird, die mit jeweils drei Werken auf der DVD vertreten sind. Beim Stöbern bzw. Mausklicken in diesen Werken beschleicht einen der Verdacht, dass es gerade die Institution der bürgerlichen Ehe selbst sei, die unter den versammelten Ethno-Objekten die meiste Fremdheit und Exotik besitzt. Auf jeden Fall stellt sie einen historischen Ausnahme- und Sonderfall dar. Mit ihr wurde eine mächtige Norm gesetzt, die in ihren sozialen Forderungen und Konsequenzen fragwürdig und unbefriedigend bleibt – besonders für Frauen, aber auch für Männer.
Insgesamt ist der vorliegende erste Teil der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ im Projekt Gutenberg-DE ein Glücksfall für die Forschung und interessierte Leserschaft. Dies liegt nicht nur daran, dass der mühsame Gang in die herkömmliche Bibliothek entfällt, sondern vielmehr daran, dass ein äußerst komplexes Wissensgebiet übersichtlich dargestellt und leicht zugänglich gemacht wurde. Im Wust der Sexual-, Gender- und Queer-Literatur – siehe zuletzt: Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus 2008 oder Nina Degele, Gender QueerStudies: Eine Einführung, UTB 2008 – wird es immer wichtiger, den Blick auf die Ursprünge und die Originalquellen nicht zu verlieren, das heißt, im Zweifelsfall schnell nachschlagen und vergleichen zu können. Zwar hätte die eine oder andere Textzusammenfassung noch ein bisschen länger und differenzierter ausfallen können – gerade bei den besonders problematischen Texten wäre eine genauere historische Einordnung bzw. ein Kommentar sehr hilfreich. Schade ist auch, dass eine Text-Suchfunktion nicht vorhanden ist. Doch bei der Menge des Materials (und auch bei dem wirklich sehr günstigen Preis) sind diese kleineren Mängel verzeihlich. Wir dürfen auf die Fortsetzung gespannt sein.