von Céline Trautmann-Waller
- TRAUTMANN-WALLER, Céline: Aux origines d’une science allemande de la culture. Linguistique et psychologie des peuples chez Heymann Steinthal. CNRS éditions, Paris 2006. ISBN 978-2271064356.
Dieses Buch über den Linguisten, Anthropologen und Philosophen Heymann Steinthal (1823-1899) und über die Völkerpsychologie, die er mit seinem Freund Moritz Lazarus (1824-1903) begründete, versteht sich als Beitrag zu einer Kulturgeschichte Deutschlands zwischen 1840 und 1900 und zu einer Geschichte der wissenschaftlichen und intellektuellen Soziabilitäten im damaligen Berlin. Es untersucht die Entstehungsgeschichte der Kulturwissenschaften als einen der wesentlichen Aspekte der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert.
Die biographische Laufbahn Steinthals, von dem jüdischen Theologiestudenten bis zum Humboldtianer und zum Sprachwissenschaftler, zum Begründer einer Völkerpsychologie und zum Verteidiger der Ethik, fasst innerhalb einer einzigen Lebensspanne die allgemeine Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert zusammen, von dem Willen, in der Linguistik eine objektive und positive Methode festzulegen, bis zu den Versuchen, letztere auf den Bereich des kulturellen und sozialen Lebens allgemein auszudehnen. Die Analyse von Steinthals ersten Arbeiten ermöglicht es, seinen Übergang vom Humboldtianismus zu einer psychologischen Linguistik zu verdeutlichen. Letztere fordert eine theoretische Autonomie der Linguistik, die auf der Trennung von Grammatik und Logik beruht. In Paris, wo er sich zwischen 1852 und 1856 aufhielt, führte Steinthal die Infragestellung der Hegemonie des indogermanischen Paradigmas durch sein intensives Studium der chinesischen Sprache weiter. Seine Beteiligung an einer regen deutsch-französischen wissenschaftlichen Soziabilität ließ ihn zur selben Zeit der entstehenden französischen Sozialwissenschaften gewahr werden, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Ideologen, dem Werk Auguste Comtes und in den Aktivitäten verschiedener ethnologischer und anthropologischer Gesellschaften herausbildeten.
Die berühmte Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, die 1859 nach der Rückkehr Steinthals aus Paris von ihm und Lazarus gegründet wurde, stellt einen Versuch dar, sämtliche spezialisierte philologische Forschungen zu synthetisieren und verschiedene deutsche Geschichtsphilosophien zu verwissenschaftlichen, d.h. zu „empirisieren“ und zu „psychologisieren“. Indem die Zeitschrift Philologen, Linguisten, Ethnologen, Volkskundler und Anthropologen, erste Statistiker und zukünftige Soziologen, Psychologen und Erdkundler, Rechts-, Wirtschafts- und Kunsthistoriker, Romanisten, Slawisten oder Orientalisten versammelte, wollte sie auf die sich steigernde wissenschaftliche Spezialisierung reagieren und den Weg einer mehr erklärenden als deskriptiven Wissenschaft der kollektiven Vorstellungen weisen, die die tief liegenden Gesetze des Kulturlebens ergründen würde. Das ganze Projekt ist nicht zu trennen von der Krise des Idealismus, obwohl es noch viele Remanenzen desselben mit sich trägt. Die Völkerpsychologie von Steinthal und Lazarus, die Elemente der hegelschen Geschichtsphilosophie mit Intuitionen der humboldtschen Anthropologie und Prinzipien der von Johann Friedrich Herbart entwickelten Psychologie verband und an der auch eine gewisse Anzahl der ersten Neukantianer beteiligt waren, verkörpert also weniger eine philosophische Einheit, als die Beteiligung verschiedener philosophischer Tendenzen an einem gemeinsamen Projekt, das auf eine empirische Wissenschaft der Kulturen zielte.
Die genaue Untersuchung der zwanzig Bände, die zwischen 1859 und 1890 erschienen, schließt eine Lücke in der Forschung und erlaubt es, die Dynamik eines Diskursmilieus zu analysieren, das die extensive Philologie von August Boeckh mit der Kunstgeschichte der Schüler Franz Kuglers, der Anthropologie Rudolf Virchows und dessen progressivem Liberalismus, der von Wilhelm Griesinger unternommenen Reform der Psychiatrie, dem Realismus eines Paul Heyses oder eines Berthold Auerbach, der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums oder der Berliner Tradition der Statistik vernetzt. Historisch betrachtet erweist sich die Völkerpsychologie als ein „Durchgangsort“, der zu anderen neuen Disziplinen führte, ein „Durchgangsort“, wo sich auf sehr erhellende Art und Weise die Lebensläufe des Soziologen Georg Simmel und des Neukantianers Hermann Cohen, des Islamologen Ignaz Goldziher und des Begründers der Berliner Ethnologie Adolf Bastian begegnen. Gerade als Übergangserscheinung ist die Völkerpsychologie interessant, doch gerade als solche tendiert sie eben auch dazu, in den intellektuellen Biographien der einen oder anderen oder in den Darstellungen der wichtigsten intellektuellen Strömungen des 19. Jahrhunderts zu verschwinden.
Indem sie ein Diskursmilieu widerspiegelt, weist die Zeitschrift auch auf eine tiefe Umwandlung der öffentlichen Sphäre, die durch die Entwicklung der deutschen Gesellschaft und des politischen Lebens bedingt war. Wird die Zeitschrift während der ersten Jahre durch den relativen Optimismus der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts getragen, so liefert die Allgemeine Ethik (1885) Steinthals das Echo der Krisen, die kurz darauf das liberale Modell affizierten: der Gründerkrach von 1873, die innere Krise / Innenpolitik von 1878/79 und der Antisemitismusstreit. Mit der Ethik Steinthals stehen die letzten Jahre der Völkerpsychologie in Verbindung mit einer weiteren ethischen Bewegung, die versucht hat die reformistischen Sichten der Linksliberalen (Laizismus, Demokratie, Anti-Militarismus, Solidarität, Frauenemanzipation) durchzusetzen und die sich tendenziell den deutschen Sozialisten annäherte. Wenn die Geschichte dieser Bewegung heute wenig bekannt ist, so wohl deshalb weil zur selben Zeit der aufsteigende Antisemitismus ein zentraler Faktor der Volksideologie und der deutschen Politik wurde, indem er, über die Frage der jüdischen Integration hinaus, den liberalen Prinzipien und dem Bildungsideal widersprach. Obwohl die Völkerpsychologie von Steinthal und Lazarus heute oft dem Nationalismus der damaligen Zeit zu entsprechen scheint, litt sie in Wirklichkeit durch die Verteidigung eines universalistischen Humanitätsideals auch unter einem relativ asynchronen Charakter.
Als wichtiger deutscher Moment der Begründung der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften und eines modernen Kulturbegriffes in Europa erweist sich diese „Culturwissenschaft“ auch in mancher Hinsicht als Ergebnis einer Reihe von Transfers und Differenzierungsprozessen, durch die Deutschland mit einer guten Dosis Kritizismus, Psychologie und Anthropologie französische Modelle integrierte und umwandelte. Steinthal setzt Herbart, Herder, Vico, Humboldt und Ritter gegen die Naturalisierungen, deren sich die französischen Sozialwissenschaften seiner Meinung nach manchmal schuldig machen ein, gegen die rousseauistischen Theorien des Sprachursprungs, des „Contrat social“ und des „bon sauvage“, die seiner Meinung nach nicht berücksichtigen, wie sehr die Kultur unabdingbar zum Wesen selbst des Menschen gehört. Diese Studie zeigt, dass Steinthals Kulturwissenschaft, weit davon entfernt hierin ein Hindernis für den Universalismus zu sehen, im Gegenteil versucht letzteren auf pluralistischen Fundamenten aufzubauen.
© Céline Trautmann-Waller für passerelle.de, November 2006