Kant, auf den Alois Riehl im ersten Band dieses nach der zweiten Auflage zitierten Dreiteilers Bezug nimmt, sagt in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft: „‘alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als notwendig einzusehen, vermittelst des Wortes: unbedingt wegwerfen, macht mir noch lange nicht begreiflich, ob ich alsdann durch meinen Begriff eines unbedingt Notwendigen noch etwas, oder vielleicht gar nichts denke‘“ (I, 569). Und Alois Riehl respondiert: „Auf der Höhe der Abstraktion drehen wir uns mit dem Dogmatiker ewig im leeren Kreise der Begriffe, erst durch die Beziehung auf das Wirkliche wird unser Wissen zum Beurteilen von etwas, was da ist, wird das jungfräuliche Denken durch gegenständlichen Inhalt befruchtet, und damit allererst Erkenntnis“ (I, 182).
Alois Riehl, dessen Art es nie war, wie ‚in der Diplomatie üblich, die Sprache nur zu gebrauchen, um seine wahre Meinung zu verbergen‘ (I, 190), hat es sich stets angelegen sein lassen, die realistische Seite des Transzendentalismus Kants herauszustreichen. Genauso wie der Denker vom Pregel stand er der ‚fanatischen‘ Anschauung der Apostel des Absoluten skeptisch gegenüber, deswegen nämlich, weil „‘die anschauende Kenntnis der anderen Welt allhier nur erlangt werden (kann, F.-P.H.), indem man etwas von demjenigen Verstande einbüßt, welchen man für die gegenwärtige nötig hat‘“ (I, 321). So auch in seinem Hauptwerk, das im ersten, historisch angelegten Band sowohl die geschichtlichen Voraussetzungen der kritischen Philosophie Kants – also vor allem Locke, Hume und Wolff – als auch die kritische Philosophie des Königsberger Philosophen bis zur Kritik der reinen Vernunft in ihrem theoretischen Teil behandelt. Insgesamt gilt Riehls Interesse dem theoretischen Bereich wissenschaftlichen Forschens, so daß Fragen moralphilosophischen Inhalts allenfalls im dritten Teil relativ stiefmütterlich auf ca. 60 Seiten gestreift werden.
In der Tendenz folgt diese Darstellung der Vorgabe anderer Theoretiker des Neukantianismus, die auch bereits die ganze neuere Philosophie seit Descartes als wie auch immer gelungene oder vorläufige Hinführung zur kritischen Philosophie Kants verstanden wissen wollten. Aus seiner Aktualisierungsabsicht macht Riehl denn auch keinen Hehl, wenn er sich – pars pro toto – beispielsweise wie folgt äußert: „Jener glückliche Gedanke („zuvor das Vermögen unseres Verstandes zu prüfen“, F.-P.H.) enthielt den Keim der kritischen Philosophie; er eröffnete die Reihe der Betrachtungen, die von Locke zu Kant führen und durch diesen bis zur Gegenwart reichen“ (I, 25). Dieser Absicht kontrastieren freilich die hübschen und beherzigenswerten Bemerkungen, daß man sich abgewöhnen sollte, „eingewurzelte falsche Auffassungen für Kants eigene Meinungen auszugeben und sehr überflüssigerweise als solche zu bekämpfen“ (I, 448). „Es gibt immer Ausleger, die, sooft sich ihre Begriffe verwirren, dem Autor einen Widerspruch anrechnen“ (I, 535).
Laut Riehl kann theoretische Philosophie nach der beginnenden Verselbständigung der diversen Wissenschaftsdisziplinen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nur noch Grundlagenforschung im Sinne einer kritischen Wissenschaftstheorie sein. Sie hat sich von dem ihr von alters her charakteristischen Anspruch, Gesamtwissenschaft zu sein, zu verabschieden und sich als eine Allgemeinwissenschaft oder Wissenschaftslehre zu etablieren, „die sich als solche von den Einzelwissenschaften bestimmt unterscheidet, ohne doch aus dem Zusammenhange mit diesen herauszutreten“ (I, 2). Daß Riehl nicht nur in dieser Publikation den ständigen gedanklichen Austausch mit den Naturwissenschaften sucht, macht diesen Dreiteiler zu mehr als einer im Formellen und Methodischen verharrenden Grundlagenforschung und darum lesenswert. Denn was ist Wissenschaftstheorie normalerweise heutzutage, wofür Kant sie übrigens bereits zum gut Teil damals hielt? Sie „‘sieht aus wie eine Art von Gespenst, das, wenn man es gehascht zu haben glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst und zwar hiervon auch nur die Hand, die darnach hascht, vor sich findet‘“ (I, 406).
Jede Form des Idealismus macht die Grenzen ihres jeweiligen Begreifens zu Grenzen der Dinge. Das gilt sowohl für den Okkasionalismus und Probabilismus als auch für die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik. Dieser Theorie zufolge ist die Welt der Quanten nicht auf eine bestimmte Weise, sondern sie hängt von den Bedingungen ab, unter denen wir die Welt beobachten. Dagegen gilt: Nur unter der Voraussetzung der empirischen Realität der Dinge, und darin stimmt Riehl mit dem kritischen Ontologen Nicolai Hartmann überein, die unabhängig von unserem Anschauen und Denken Bestand haben, ist die Erkenntnis überhaupt ein Problem, wohingegen sie in allen anderen denkbaren Fällen zu einem bloßen Konstrukt verkommt. Denn „Urteile sind nicht lediglich begriffliche Vereinigungen von Vorstellungen, sie gelten auch, sie bedeuten etwas vom Gegenstande, der durch sie beurteilt wird, mit einem Worte: sie sind Erkenntnisse. Die Beziehung auf ein Objekt ist dem Urteil wesentlich und muß daher in seine Realdefinition aufgenommen werden. Nicht jeder Satz ist ein Urteil, sondern nur derjenige ist es, bei welchem Wahrheit oder Falschheit stattfinden kann, bemerkte schon Aristoteles, und es ist ein Fehler der formalistischen Logik, sich diese Bemerkung des Aristoteles nicht zunutze gemacht zu haben. Wir können Begriffe willkürlich und zugleich in formal richtiger Weise verbinden, ohne durch diese Verbindung etwas zu erkennen oder auch nur erkennen zu wollen, d.i. ohne in Wahrheit zu urteilen. Schon die bloße Behauptung von Existenz und ebenso das Wiedererkennen eines Dinges auf Grund seiner früheren, nunmehr zur Vorstellung gewordenen Wahrnehmung zeigen diese dem Urteil unerläßliche Beziehung auf einen Gegenstand“ (I, 411). – In diesem Kontext hat eine witzige Bemerkung Lockes ihre Stelle: „‘wer so skeptisch ist, daß ihm die Wirklichkeit der Dinge, die er sieht und fühlt, ungewiß zu sein scheint, möge mit seinen bloßen Vorstellungen anfangen was ihm beliebt, mit mir wird er nie Streit bekommen, kann er doch nie gewiß sein, ob wirklich ich es bin, der seine Meinung bestreitet‘“ (I, 86 f.).
Umgekehrt freilich gilt ebenso, daß das Bestreben, „‘alle Erkenntnis auf Empirie zu gründen, … in der Leugnung aller Möglichkeit von objektiver Erkenntnis‘“ endet (I, 202). In dieser einem Mißverständnis vorbeugenden Ansicht ist sich Riehl mit dem Naturwissenschaftler und Entdecker des Satzes von der Erhaltung der Energie Hermann von Helmholtz einig. Die begriffliche Allgemeinheit ist nämlich von anderer Art als die empirische. Empirische Erkenntnisse haben lediglich eine komparative Allgemeinheit. Selbst dann nämlich, wenn, was in der Praxis de facto auszuschließen ist, eine Durchmusterung und Vergleichung aller Fälle möglich sein sollte, fehlte es doch immer noch an dem für die wissenschaftliche Einsicht Entscheidenden: der Grund ihres übereinstimmenden Verhaltens bliebe nach wie vor im Verborgenen. „Schon die empirische Forschung kennt zur Feststellung allgemeiner Tatsachen zwei Wege: außer der Induktion durch Vergleichung vieler Fälle die vollständige Analyse eines Falles. Der erste Weg, es ist der Weg der generalisierenden Abstraktion, führt zu Regeln der Übereinstimmung, zu empirischen Regeln, der zweite allein, die analytische Methode, verhilft uns zur Erkenntnis einfacher Tatsachen, zur Erkenntnis von Gesetzen der Natur, und die Verallgemeinerung tritt hier an das Ende des Verfahrens. So zerlegt der Chemiker eine zusammengesetzte Substanz in ihre Elemente und stellt sie aus diesen durch Verbindung wieder her; durch Analyse und ihre Umkehrung, die Synthese, erforscht er den chemischen Aufbau eines Körpers und überträgt, was er so durch sorgfältige Einzeluntersuchung gefunden, auf alle Stoffe der gleichen Art“ (I, 444 f.).
Im Erkennen wird also, allgemein gesprochen, das Veränderliche auf das Unveränderliche und mit sich Identische zurückgeführt, nämlich auf beharrliche Elemente und ihre beständig sich gleichbleibenden Beziehungen, die als Naturgesetze zu apostrophieren sind. Soweit dies gelingt, sind die gesetzmäßigen Abläufe der Natur in ihren wissenschaftlichen Begriff überführt. Konkret gesprochen: es „gibt außer den Empfindungen einzelner Töne von bestimmter Höhe und Stärke nicht noch ein Tonempfinden überhaupt, nicht ein Sehen im allgemeinen, das neben den besonderen Licht- und Farbempfindungen, oder diesen übergeordnet, bestünde“ (II, 74). Und sollten philosophierende Naturforscher das alles auch ganz anders, nämlich beispielsweise so sehen, daß unsere Empfindungen die wirklichen Dinge selbst seien, dann ist das Beispiel Machs „geeignet, zu zeigen, wie gering der Einfluß ist, den erkenntnistheoretische Grundanschauungen auf die Praxis der Naturforschung zu nehmen pflegen“ (II, 42). Die Sinnlichkeit ist keine Schranke des Erkennens; sie ist in Wahrheit vielmehr eine Erkenntnisbedingung. Im Begriff des Erkennens aber liegt es, „daß Objekt und Subjekt für dasselbe auseinander treten müssen, um aufeinander bezogen werden zu können“ (III, 23).
Wissenschaftshistorisch lernt man bei Gelegenheit der Lektüre dieses Wälzers einiges. Beispielsweise, daß „Gauß durch die räumliche Deutung der komplexen Zahlen auf die Hypothese von mehr als dreidimensionalen Räumen verfiel“ (I, 325). Darüber hinaus, daß „von Kries schon 1882 gegen die Meßbarkeit intensiver Größen und damit gegen jede psychophysische Maßformel“ Einspruch erhoben hat, so daß „von einer Messung der Empfindungen nicht länger die Rede sein“ kann. „Meßbar im Sinne der exakten Wissenschaft sind immer nur Objekte, nicht Empfindungen, extensive Größen und Größenbeziehungen, nicht Intensitäten“ (II, 59). Und auch dieses historische Kurzresümee ist der Kenntnisnahme wert: „Gründe der Methode bestimmten die exakte Naturwissenschaft nach dem Vorbilde ihres Urhebers Galilei, nur eine Seite der Wirklichkeit, die der Messung und Berechnung zugängliche Seite, in Betracht zu ziehen. Die logische Voraussetzung für die Anwendung der messenden und rechnenden Methode ist die Gleichartigkeit der Größen. Also muß die theoretische Naturforschung von der Ungleichartigkeit der Qualitäten abstrahieren und kann von ihren Objekten nur die allgemeinen mechanischen Eigenschaften, genauer: nur deren Form berücksichtigen. Denn auch aus diesen Eigenschaften läßt sie alles weg, was dabei zur Empfindung gehört: Druck und Widerstandsempfindung, Andrang und Gegenstrebung. Nach dieser Abstraktion besteht die Welt der exakten Naturwissenschaft aus materiellen Einheiten, Elektronen und Atomen, ausgestattet mit bloßen Formen von Eigenschaften, mit Gestalt und Größe und einer selbst nur abstrakten Wirkungsweise, der Bewegung“ (II, 81). Pars pro toto sei noch erwähnt, daß nach „Plancks Quantentheorie … die Emission von Strahlen in bestimmten Energieelementen“ erfolgt, „deren Größe im Verhältnis zur Schwingungsfrequenz wächst“ (II, 98). Mit einem Bonmot sei diese Aufzählung beschlossen: Nach Poincaré soll „unsere Geometrie nicht einmal ‚wahr‘ sein und ihr Vorzug lediglich in ihrer größeren Bequemlichkeit bestehen. Sollen wir also wirklich glauben, von unseren halbtierischen Vorfahren seien nur allein diejenigen zur Auslese und Fortpflanzung gelangt, die ‚zu bequem‘ waren, den Raum anders als Euklidisch vorzustellen, die prähistorischen Ahnen eines Gauß und Lobatschewsky dagegen in der Konkurrenz ums Dasein unterlegen, – vielleicht nur, weil es eine Konkurrenz um mathematische Lehrstühle noch nicht gegeben hätte?“ (II, 110).
Was die wissenschaftlichen Einsichten der systematisch angelegten Bände zwei und drei seines Hauptwerkes betrifft, in dessen zweiten Teil es sich genau genommen um eine Psychologie, oder, besser, eine Logik der Intelligenz handelt, scheinen mir folgende Einsichten der denkenden Betrachtung und Aufnahme wert: An „Kindern“ ist „die allmähliche Hervorbildung des Selbst- und des davon untrennbaren Objektbewußtseins, an Gestörten seine Rückbildung und unter Umständen seine Regenerierung“ zu beobachten. „Das Spiel der Empfindungen unmittelbar vor dem Einschlafen gibt uns ein Beispiel für das Vorhandensein eines Bewußtseins, dessen einzigen Inhalt neutrale Empfindungen und unbezogene Gefühle bilden“ (II, 88). „Fälle von nahezu reiner Wirkung der Assoziation sind das Kommen und Gehen der Vorstellungen vor dem Einschlafen und die allerdings pathologisch affizierte Ideenflucht im Irresein“ (II, 152), in dem der ordnende Verstand im Extremfall ausgeschaltet ist. „Sein und Erkennen haben nämlich wirklich in dem Augenblicke aufgehört, entgegengesetzt zu sein, in welchem das Bewußtsein in Bewußtlosigkeit übergegangen ist. Wer aus einer Ohnmacht zu sich kommt, oder aus einem traumlosen Schlafe erwacht, kommt aus dem Reich der ‚Dinge an sich‘ her; er ist aus dem Zustande des bloßen Seins (des Seins für andere) in den des empfundenen und gewußten Seins (des Seins auch für sich selbst) übergegangen“ (III, 30).
Der Erwähnung wert ist auch, daß Riehl, wie später dann Nicolai Hartmann, an einer Auffassung der Zeit Kritik geübt hat, wie sie für die relativistische Physik des 20. Jahrhunderts insgesamt charakteristisch werden sollte. Ihm zufolge fällt nämlich kein Vorgang, mag es sich nun um den „Fluß der Ideen“ oder die „Geschwindigkeit der Lichtbewegung“ handeln, mit der Zeit selbst zusammen. Umgekehrt gilt: „ein jeder wird vielmehr als Bestimmung, als Teil der Zeit, durch sie also und in ihr vorgestellt“ (II, 103). Auch der Raum ist von den einzelnen „Raumverhältnissen“ der „Lage und Gestalt“ unabhängig. Er ist kein bloßes „Aggregat ausgedehnter Dinge oder die Summe reiner Koexistenzverhältnisse“ (II, 130). Zum Problem der Infinitesimalrechnung erfährt der Leser, daß nur „diskrete Mannigfaltigkeiten … numerisch bestimmbar“ sind. Das „Stetige dagegen setzt der exakten Darstellung durch Zahlen eine Grenze, die durch das ‚Kontinuum‘ der reellen Zahlen nicht aufgehoben wird. Dies Zahlenkontinuum ist immer noch eine diskrete Mannigfaltigkeit“ (II, 117). Hätte freilich die Mathematik „nur die Aufgabe, auf die Hilbert sie beschränken will, nämlich ‚reine Symbole zu kombinieren und daraus Schlüsse zu ziehen, ohne sich um ihre Bedeutung zu kümmern‘, so müßte das Wort, das Russel wohl nur im Scherze äußerte, im Ernste von ihr gelten: sie sei ‚die Wissenschaft, bei der man nicht weiß, wovon man redet und ob, was man sagt, richtig ist‘“ (II, 119).
„Die Kausaliät“, so erfährt man des weiteren, „ist die Anwendung des Satzes vom Grunde auf die zeitliche Veränderung der Erscheinungen, oder kurz: das Prinzip des Grundes in der Zeit“ (II, 274). Damit hat es genauso seine Richtigkeit wie mit dem kritischen Hinweis darauf, daß durch „das Hineintragen praktischer Begriffe, namentlich des Begriffs des Zwecks, in die äußere Natur … die Erkenntnis derselben verdorben, ja unmöglich gemacht“ wird (III, 19). „Denn die Wissenschaft als solche kennt den Begriff der Norm und des Sollens nicht“ (III, 20). Man kann nämlich „nicht aus ethischen Gründen glauben, was man aus wissenschaftlichen für falsch erkannt hat“ (III, 342). Und auch dagegen ist nichts einzuwenden, daß „die Wahrnehmung der Sinne … nichts weniger als eine durchgehende Regelmäßigkeit in der Abfolge der Erscheinungen“ zeigt, „und statt die Überzeugung vom ursächlichen Zusammenhange der Dinge, könnte man mit weit mehr Grund den Glauben an Gesetzlosigkeit und Wunder, welcher noch gegenwärtig bei der Mehrzahl der Menschen vorherrscht, als vererbte Erfahrung der Gattung erklären“ (III, 80). Diesem Wunder- und Gespensterglauben aber tritt der (Natur-) Forscher dadurch entgegen, daß er „die Erscheinung, die er erklären will, selbst hervorruft und künstlich neue Umstände einführt, um sie vollständig kennenzulernen. Zwischen diesen beiden Stufen Erfahrung zu machen liegt die gesamte, ihrer selbst bewußte, bisherige Denkarbeit der Menschheit“ (III, 81).
Daß aber Riehl ein Aufklärer im besten Sinne des Wortes ist, geht am schönsten wohl aus folgenden Einwänden gegen die abgehobenen Ismen der ihren Geist und den anderer parteilich-willkürlich bornierenden Weltanschauungs- und Glaubenspropheten hervor: „So ist es immer irgendein einzelner, hervorstechender Charakterzug, es sei des Denkens oder der Wirklichkeit, der mit Ausschluß der übrigen Beschaffenheiten der Dinge und Richtungen des Denkens zur metaphysischen Idee erhoben und zur Alleinherrschaft im Systeme berufen wird. Es kommt bei metaphysischen Erklärungen das meiste, wenn nicht alles, auf die Kunst der Auslegung oder besser Zurechtlegung an, – und man könnte wirklich über die Wahl einer metaphysischen Hypothese statt Neigung oder Geschmack auch das Los entscheiden lassen. – Ein angesehener metaphysischer Denker unserer Zeit fordert uns auf, unsere Erfahrung von der Welt durch die Anschauung einer der Erfahrung entzogenen übersinnlichen Fortsetzung der Welt zu ergänzen und die Verknüpfungen der Dinge nach einem Plane, nach einer Idee zu interpretieren, die wir doch seinem eigenen Geständnis zufolge nicht kennen sollen. Was bedeutet hier das Wort Anschauung und woher wußte Lotze so genau, daß das Unbekannte gerade eine Idee sein müsse, woher nahm er das Recht, das systematische Bedürfnis der Vernunft nicht bloß zu idealisieren, sondern überdies zu personifizieren, indem er die Idee in eine einheitliche intelligente Macht verwandelte? Zugegeben, daß sich das geistige Sein und Wirken nicht aus der Materie erklären läßt – und welcher wissenschaftliche Denker würde dies nicht zugeben? – folgt daraus, daß die Materie aus dem Geiste erklärt werden muß? Metaphysische Hypothesen sind Opiate für den Verstand; sie betäuben denselben, statt ihn zu beleben und aufzuklären. Sie erzeugen den Schein eines allumfassenden Wissens, das, wenn man Wunsch und Erfüllung für einerlei halten will, nicht einmal schwer zu erlangen ist“ (III, 86; vgl. ebenso 97 f., 103 f., 107, 110 ff. u. passim).
Der aufmerksame Leser merkt, daß sich der Kreis dieser Kurzdarstellung damit wieder geschlossen hat. Deshalb bietet es sich an, diese Empfehlung mit den Worten eines anderen Aufklärers – gemeint ist Hume – zu beschließen. „‘Die größte Torheit nächst derjenigen, eine evidente Wahrheit zu leugnen, ist die, wenn man sich zu viele Mühe gibt, sie zu verteidigen‘“ (III, 166), nicht ohne zum hoffentlich vorläufig letzten Mal den bedenkenswerten Worten des Autors dieses Dreiteilers nachzudenken: „Es ist, wie ich glaube, weder eine billige noch die richtige Beurteilung einer Theorie, wenn man ihren Wert nach demjenigen bemißt, was sie noch nicht zu erklären vermochte, statt ihn darnach zu bestimmen, was sie tatsächlich erklärt hat“(III, 320).