Über „Tote Saison“ von O.P. Zier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • ZIER, O.P.: Tote Saison. Residenz Verlag, St. Pölten; Salzburg 2007. ISBN 978-3-7017-1485-8 Pick It! .

Womit sieht sich der Leser dieses Kriminalromans von Anfang an konfrontiert? Mit dem ganz normalen Wahnsinn und der fanatischen Scheinheiligkeit einer durch und durch verkehrten Welt. Mit einer bizarren Farce über den Parteienfilz im Salzburger Land. Mit der geballten Niedertracht von zu jeder Schandtat bereiten Parteioberen und ihren liebedienernden Chargen, die für ihre Kariere alles zu tun bereit sind. Mit dem menschlichen Müll und Ausschuß, den die brutalisierte bürgerliche Gesellschaft in Hülle und Fülle nicht nur produziert, sondern in selbstdarstellerischer Absicht ihren abgründigen Zwecken dienstbar zu machen weiß. Mit Verschwörungen, ihren Machern und ihren schmarotzenden Theoretikern und wohlmeinenden interpretierenden Auslegern.

Womit also? O.P. Zier sagt es ohne Umschweife und gerade heraus: „Mit erkennbarer Verbitterung führte der Altlandeshauptmann, den in seiner Jugend die Ideen der christlichen Soziallehre begeistert hatten, aus, dass das größte Interesse der Partei momentan darin liege, eine Wirtschaftspolitik zu etablieren, bei der ein Unternehmen keine Mitarbeiter mehr kenne, sondern einzig und allein unerfreuliche Faktoren auf der Kostenebene, die seitens des Managements unter keinen Umständen mehr als menschliche Wesen gesehen werden dürften, weil sich solche Sentimentalitäten nur negativ auf die Bilanzen auswirkten. Um die daraus entstandene schiefe Optik auszugleichen, planten der Wirtschaftsflügel und befreundete Unternehmen groß angelegte Humanitäts-Events, konzipiert von professionellen PR-Beratern“. Es gehe nämlich letztlich darum, „das karitative Image der Partei … in den Menschen (zu) verfestigen, wenn man ihnen schon keinerlei soziale Sicherheiten mehr zugestehen könne.“ (383)

Das kommt einem seltsam vertraut vor, auch dann, wenn man mit den Ideen des sogenannten Neoliberalismus nicht gleich etwas anzufangen weiß … Denn wer kennt sie nicht oder hat jedenfalls von ihnen gehört, den „Chefleuten, die misstrauisch jedes Quäntchen Energie, das nach Dienstschluss noch in ihren Mitarbeiterinnen steckte, in die Nähe eines Diebstahls rückten. Kraft für sein eigenes Leben schien so ein halbes Kind in den Augen seiner Dienstgeber abends mitzunehmen wie unrechtmäßig vom Arbeitsplatz Entwendetes.“ (198) Und auch das gehört zum Altagsgeschäft jedes Politprofis, ganz unabhängig davon, welcher Partei er sich gerade zurechnet, seine Ausübung von Macht als eine „neue riesige Herausforderung auf sich“ zu nehmen, „um auch auf diesem Platz in großer Demut und mit ganzer Kraft und Hingabe“ beispielsweise Deutschland „zu dienen“. (385) „‚Und wie wurde Franz zum hoch dotierten Leiter dieser Einrichtung? Ahnungslose aufpassen!‘“ (233)

Das alles klingt sehr nach einem moralisch-angestrengten und anstrengenden, womöglich selbstgerechten Strafgericht. Ist es aber nicht, wie schon die frohgemut und launig angekündigte Aufklärung verdeutlicht. Denn in diesem Roman macht der Ton die Musik. Und dieser Ton hat es, die oben angeführten Beispiele belegten dies bereits, in sich und faustdick hinter den Ohren. Er ist betont kühl und sachlich, dabei jedoch getragen von schwebender und leichter Ironie. Dann wieder, vor allem im ersten Viertel, vernimmt man, dezent abgemildert, Anklänge an Thomas Bernhards besessenes und vernichtendes Daherschwadronieren vor dem Hintergrund eines wiederum und auch hier politisch motivierten Absurditätenkabinetts und eines in abscheulichster Verlogen- und Abgefeimtheit praktizierten und gehässig inszenierten Psychoterrors.

Genau hierin liegt das Geheimnis des Gelingens dieses ‚Schlüsselromans‘. Zwar permanent anzuklagen ohne zu klagen. Kühlen Kopfes und nüchtern eine, man mag es kaum glauben, lebensvolle Allegorie – wo Allegorien es normalerweise doch an sich haben, kühl, frostig und lebensfern zu sein – auf die Machenschaften der politisch Mächtigen und ihrer berechnenden Erfüllungsgehilfen aufs Papier gebracht zu haben. Das hat was, ist lehrreich und unterhält trotzdem prächtig.

Aber dieser spektakuläre Mordfall in der „toten Saison“, also im nieselig-tristen Alpenvorwinter, mit dem skandalöserweise wirtschaftlich so gar nichts los ist, hat vom Autor noch eine Dimension verpaßt bekommen, die einen sofort an Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ denken läßt, genauer an die in seinem ersten Teil im Zentrum stehende „Parallelaktion“. Unter diesem Decknamen, dies sei in Hinblick auf diejenigen resümiert, die diesen unglaublichen Roman eines anderen Österreichers (noch) nicht gelesen haben, verbergen sich die Vorbereitungen hochgestellter Persönlichkeiten, die das für 1918 zu erwartende 70-jährige Regierungsjubiläum des „Friedenskaisers“ Franz Josef gegenüber dem gleichzeitigen bloß 30-jährigen Kaiser Wilhelms II. zu glanzvollem Ausdruck und einem nie dagewesenen Event ausgestalten wollen. Eine Idee muß her, eine Jahrhundert- oder, besser noch, eine Jahrtausendidee, die alle bisher dagewesenen Ideen als läppisch und lachhaft erscheinen läßt und ausnahmslos in den Schatten stellt. Sie wird, so viel sei verraten, nicht wirklich gefunden. Das ganze verläuft sich irgendwie oder wird von der Realität eingeholt, nämlich der wüsten Begeisterung für die als groß empfundenen Begleitumstände des Weltkriegs Numero Eins. Denn ohne daß die Beteiligten und heillos Involvierten es zunächst selbst so recht bemerken, werden all ihre grotesk anmutenden, wichtigtuerisch-aufgeblasenen Bemühungen um das Finden der „erlösenden Idee“ in den enthusiastisch begrüßten Ausbruch des ‚Ringens der Völker‘ münden. Und das geplante „Weltösterreichjahr“ 1918 wird sich ironischerweise als das des Zusammenbruchs beider Monarchien erweisen. Was für ein Jokus. Es ist zum Totlachen, wenn es nicht so aberwitzig traurig wäre.

Genau diese Atmosphäre tieftraurigen Gelächters herzustellen ist auch O.P. Zier gelungen. Depravierten Charakteren, die einzig und allein die Größe des eigenen Landes und – mitlaufend – ihre eigene in ihren Köpfen haben, ist vieles zuzutrauen. Unter anderem auch dies, das Gebirgsmassiv der Hohen Tauern auszuschaben oder auszuhöhlen, um den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten der toten Saison machtvoll begegnen zu können. „‚Liebe FT-Mitglieder, vergesst das niemals: Alle Vorgaben, die aus dem MKZ des FT kommen, sind ab sofort für die Menschheit bindend!‘“ (311) Der Leser reibt sich die Augen und fragt: ‚Wie dies?‘ ‚Wovon, um Himmels willen, ist hier die Rede?‘ ‚Wer spricht? Ein Politiker der Alpenrepublik oder etwa einer von jenseits des Atlantik? …‘

Ganz einfach: Das „Macht- und Kompetenzzentrum – oder eben kurz: MKZ“ des FT – was sich hinter diesem Kürzel verbirgt wird hier nicht verraten, weil das Fahnden nach dessen Bedeutung den in diesen Irrsinn verstrickten Erzähler und unschuldig des Mordes schuldig Gewordenen selbst fast irrsinnig werden läßt („Alles konnte Zufall sein – aber auch das Gegenteil davon! Und wer jedes Ereignis in seinem Alltagsleben zwanghaft dahingehend hinterfragte, wurde mit Sicherheit – verrückt“ (188)) – hat eine Jahrtausendidee ausgeheckt, die Österreich zur Weltmachtführungsnation promovieren soll: Die „Rettung der alpinen Tourismus-Ökonomie“ per Vierjahreszeitenvereinheitlichung … Da geht es „um die Ausschaltung jahreszeitlich bedingter Konjunkturschwankungen zugunsten permanenter ökonomischer Spitzenresultate. Und so nebenbei werde die architektonische Idee der Entkernung in völlig neuartiger Weise in tiefste Tiefen vorangetrieben. Darüber hinaus werde in diesem geheimen Think-Tank (die Rede ist von dem MKZ des FT) der Stadtpartei St. Johann, einem exemplarischen Macht- und Kompetenzzentrum, an Überlebensstrategien für die christlich-soziale Partei von sensationeller Neuartigkeit gearbeitet.“ (390) Wahnsinn!! Und der Wahnsinn wird zur politischen Kraft, so daß Köpfe rollen müssen, selbst unter denen, die gar nichts anderes im Schilde führen und dasselbe selbst so oder so ähnlich auch immer schon gewollt haben.

Aber auch die halten sich auf altbewährte Art schadlos, indem sie ihren politischen und moralischen Niedergang als Dienst am großen Ganzen verkaufen. Mord und daraus reusultierender politischer Selbstmord als medienwirksame Selbstbeweihräucherung. Das kennt man und daran hat man sich, leider!, längst gewöhnt. Und auch O.P. Zier wird es mit dieser wunderbaren Gesellschaftssatire nicht gelingen, daß den Lesern vor dem Normalen dieses Wahnsinns, in dem beispielsweise einer einen Fallschirmsprung in den Freitod als letzte politische Selbstinszenierung seiner ach so wertvollen Politikerpersönlichkeit, die sich für die Partei und damit selbstredend auch für sein Land aufopfert, aufbereitet, speiübel wird.

Wer den Mord an Barbara Lochner denn nun eigentlich begangen hat?, fragen die kriminalistisch Interessierten unter den Lesern. Die Antwort auf diese Frage zögert der Romancier auf äußerst kunstvolle Weise bis kurz vor das nicht wirklich überraschende Ende hinaus. Denn, wie gesagt: Politikern ist, wenn es ihnen um ihre, Pardon: unsere Sache und damit immer auch ein wenig um sich selbst geht, einiges zuzutrauen.

 

Erstmals erschienen in: Marburger Forum, Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart, Jg. 8 (2007), Heft 6