Wer war der erste, der eine Geschichte in Echtzeit erzählte? Sie werden es nicht glauben – Heinrich von Kleist. Es handelt sich um die Anekdote aus dem letzten preussischen Kriege von 1810. Der Regisseur Zoltan Spirandelli drehte 1995 einen achtminütigen Film, bei dessen Kinovorführung ein Sprecher den Kleist-Text vorlas. Das Ergebnis: Der gesprochene Text beschrieb exakt die im Film gezeigten Aktionen. “Dieser Kerl, sprach der Wirt, sprengte, ganz vom Staub bedeckt, vor meinen Gasthof, und rief: ‘Herr Wirt!’ und da ich frage: was gibt’s ‘ein Glas Branntewein!’, antwortet er, indem er sein Schwert in die Scheide wirft: ‘mich dürstet.’ Gott im Himmel! sag ich: will er machen, daß er wegkömmt? Die Franzosen sind ja dicht vor dem Dorf! ‘Ei was’ spricht er, indem er dem Pferde die Zügel über den Hals legt. ‚Ich habe den ganzen Tag nichts genossen!’ Nun, er ist, glaube ich, vom Satan besessen-! He! Liese! ruf ich, und schaff ihm eine ganze Flasche Danziger herbei, und sage: da! und will ihm die ganze Flasche in die Hand drücken, damit er nur reite.“
Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl und Fräulein Else
In der Moderne ist die Suche nach der synchron erzählten Zeit eng verknüpft mit dem so genannten inneren Monolog.
Arthur Schnitzlers 1901 erschienene Erzählung Leutnant Gustl sowie Fräulein Else machen hier den Anfang. Aus letzterer ein Zitat: „Da ist ja die Tür. – Dorsday! Ich falle um. Dorsday! Dort steht er am Fenster und hört zu. Wie ist das möglich? Ich verzehre mich – ich werde verrückt – ich bin tot – und er hört einer fremden Dame Klavierspielen zu. Dort auf dem Divan sitzen zwei Herren. Der Blonde ist erst heute angekommen. Ich hab’ ihn aus dem Wagen steigen sehen. Die Dame ist gar nicht mehr jung. Sie ist schon ein paar Tage lang hier. Ich habe nicht gewußt, daß sie so schön Klavier spielt. Sie hat es gut. Alle Menschen haben es gut … nur ich bin verdammt… Dorsday! Dorsday!“ Zwischen den Zeilen sind die Partituren eines Klavierstücks von Schumann wiedergegeben. Zehn Takte, die während jenes Selbstgespräches im Zimmer gespielt werden.
James Joyce: Ulysses
Ein Tag hat 24 Stunden, das entspricht 1440 Minuten. Da das Lesen einer Buchseite etwa zwei Minuten dauert, würde ein Roman in Echtzeit also 720 Seiten haben. Das entspricht ungefähr der Länge von James Joyce Epos Ulysses, das 1922 erschien. Im Nausikaa-Kapitel dort heißt es: „Mr. Bloom sah ihr nach, wie sie davonhumpelte. Armes Mädchen! Deswegen also war sie auf dem Felsvorsprung sitzen geblieben, als die anderen einen Wettlauf machten. Dacht ich mir doch gleich, daß da irgendwas nicht stimmte, ihrem Gesichtsausdruck nach. Sitzengelassene Schönheit. Bei Frauen ist so ein Mangel gleich zehnfach schlimm. Aber macht sie gefällig. Bin ja bloß froh, daß ichs nicht gewußt hab, wie sie sich da produzierte. Trotzdem, ein kleiner heißer Teufel. Würde sich bestimmt nicht lange zieren. Kriegt man direkt Neugier drauf, wie auf ne Nonne oder ne Negerin oder ein Mädchen mit Brille.“
Virginia Woolf: Mrs Dallowayund Zum Leuchtturm
Aber Joyce tut nur selten so, als versuche er eine adäquate Abbildung des Bewusstseinsstroms. Der Großteil des Romans wird mit Stil- und Sprachklamauk bestritten. Fünf Jahre später lotete Virginia Woolf die Möglichkeiten ihres ganz persönlichen Sekundenstils aus. Hatte sie zuvor in Mrs Dalloway einen ganzen Tag im Rahmen eines üblichen 200-Seiten-Romans geschildert, besteht der erste Teil des 1927 erschienenen Buches Zum Leuchtturm auf einer 130-seitigen Schilderung eines Nachmittags. „Also saßen sie schweigend. Dann wurde sie sich bewußt, daß sie wollte, daß er irgendetwas sagte. Irgendetwas, irgendetwas, dachte sie, während sie weiterstrickte. Irgendetwas reicht schon. (…) Sag doch etwas, dachte sie, weil sie sich sehnte, nur seine Stimme zu hören. Denn der Schatten, das Ding, das sie beide einschloß, begann, so merkte sie, sich wieder um sie zu legen. Sag doch irgendetwas, bat sie, und schaute ihn wie hilfesuchend an. Er schwieg und ließ den Kompaß an seiner Uhrkette hin und her schwingen, während er an Scotts Romane und Balzacs Romane dachte.“ In der quälenden Langsamkeit tauchen immer wieder die gleichen Sätze auf. Eine Berücksichtigung dessen, dass wir, wenn der Strom unseres Gehirns aufgezeichnet würde, kein Drehbuch erhielten, sondern sich endlos wiederholende Lamentationen.
Der US-Film Gegen die Zeit mit Johnny Depp nahm sich erstmals im Film des Themas an. Der biedere Geschäftsmann, dessen Tochter gekidnappt wurde, soll in den nächsten neunzig Minuten einen Menschen töten, sonst stirbt das Mädchen. Anderthalb Stunden hart geschnittenes, solide erzähltes Krimikino. Der formale Griff mit der Übereinstimmung von erzählter und erlebter Zeit – so dies überhaupt übereinstimmt – fällt nicht auf.
Als Film in Echtzeit, oder sagen wir, simulierter Synchronzeit, ließe sich da eher Tom Tykwers Kinoerfolg Lola rennt bezeichnen. Die Heldin läuft in dem Tempo, das die Handlung vorgibt. Umgekehrt bestimmt sie mit ihrem Lauf die Geschwindigkeit der Geschehnisse.
Kiefer Sutherland in 24
Und nun: 24. Ein halbes Dutzend Regisseure und ein ganzes Dutzend Drehbuchschreiber lassen Schauspieler Kiefer Sutherland monatelang durch einen Fall laufen, der angeblich nur vierundzwanzig Stunden dauert. Hier zeigt sich das bizarre Gesetz der Fernsehserie überdeutlich: Es muss dauernd etwas passieren, Autoreifen quietschen, Schüsse krachen, Türen knallen, Flüche schallen. Aber gleichzeitig muss die Handlung auf der Stelle treten, weil sonst der Spaß schnell vorbei wäre. Wiederholt beteuert Agent Bauer, wie er sich um seine Familie sorgt. Die Belegschaft der Antiterrorbehörde ist hauptsächlich damit beschäftigt, gegen den Büronachbarn zu intrigieren. Der schwarze Präsidentschaftskandidat beteuert, dass ehrlich doch am längsten währt. Und zwar um sieben, um acht und um neun – und noch viele Male. Bösartigerweise könnte man dies mit Dialogen aus Gute Zeiten – schlechte Zeiten vergleichen, wo ein Laienschauspieler zum anderen Laienschauspieler sagt: Du kannst doch den Brief nicht vor mir verstecken! Der andere sagt: Ich wollte dich nur schonen. Der erste: Aber der Brief ist an mich adressiert! Der andere: Ich dachte, es wäre besser für dich. Der erste: Und dann versteckst du einen Brief für mich? Und so weiter, bis die Sendezeit totgeschlagen ist.
Fazit: Die Darstellung „in Echtzeit“ ist in der Literatur nur momentweise möglich. Aber auch im Film, der ja eigentlich prädestiniert sein müsste für eine synchrone Darstellung der Zeit, ist die Synchronität eine Fiktion. Das sieht man, wenn die die wirklichen Echtzeit-Filme betrachtet: Das Super-8-Video von Onkel Karls Ostseeurlaub.
Quellen
Bücher
- Heinrich von Kleist: Anekdote aus dem preussischen Kriege. In: ders. Sämtliche Werke und Briefe. Hanser: München 1985.
- Arthur Schnitzler: Fräulein Else und andere Erzählungen. Frankfurt a.M.: Fischer 1987.
- James Joyce: Ulysses (übers. von Hans Wollschläger). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981.
- Virginia Woolf: Zum Leuchtturm (Originaltitel To the lighthouse; übers. von Karin Kersten). Frankfurt a.M.: Fischer 1993.
Filme
- Gegen die Zeit. USA 1995. Regie: John Badham. Mit Johnny Depp und Christopher Walken.
- Lola rennt. D 1998. Regie: Tom Tykwer. Mit Franka Potente und Moritz Bleibtreu.
- 24. USA 2001. Regie: div. Mit Kiefer Sutherland und Sarah Clark.