von Michael Tillmann
- LEFEBVRE, Alain/ MÉDA, Dominique: Faut-il brûler le modèle social français ? Seuil, Paris 2006. ISBN 978-2020859707.
Die Interpretationen der Proteste, die der inzwischen zurückgezogene Ersteinstellungsvertrag CPE in Frankreich ausgelöst hat, divergieren. Während die Mehrzahl der politischen Beobachter darin ein weiteres Beispiel für die Reformunfähigkeit der französischen Gesellschaft zu erkennen vermeint, sind vor allem auf Seiten der Gewerkschaften Stimmen zu vernehmen, die darin vielmehr den möglichen Grundstein einer neuen, europaweiten sozialen Bewegung sehen und Paris mithin als Speerspitze im Kampf gegen einen völlig enthemmten Liberalismus. Dass Frankreich sich selbst gerne zum (universellen) Maßstab gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen nimmt, erschwert insofern die Debatte um die notwendigen Reformen des Sozialstaates, als es den Blick auf andere Länder verstellt, denen die scheinbare Quadratur des Kreises – eine hohe Beschäftigungsquote und ein ausgebautes (aber modernisiertes) Sozialversicherungssystem – gelungen ist. Letztlich werden also Wege, die die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates und seinen Fortbestand sichern könnten, aus ideologischer Beschränktheit und nationaler Verklärung heraus nicht beschritten. Das Anliegen der beiden Autoren Alain Lefebvre und Dominique Méda[1] besteht nun gerade darin, Anregungen aus dem Ausland aufzugreifen, um den französischen Sozialstaat zu erhalten. Gerade aus diesem Grund fordern sie nachhaltige Reformen, die sich ihrer Meinung nach an den nordeuropäischen Sozialmodellen orientieren sollten. Im Unterschied zu Frankreich und anderen Ländern[2] ist es Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland nämlich gelungen, trotz einer hohen Sozialleistungsquote die internationale Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft und ein hohes Beschäftigungsniveau der Arbeitnehmer zu garantieren. Dass gegen eine Übertragbarkeit der dänischen flexicurity, d.h. der Kombination von Elementen der Flexibilität (für Unternehmen und Arbeitnehmer) bei gleichzeitiger sozialer Absicherung und qualifizierender Fortbildungs- bzw. Umschulungsmöglichkeiten, keine unüberwindlichen kulturellen Hindernisse sprechen, veranschaulichen die beiden Autoren mit Nachdruck. Sehr wohl gilt es aber, auf die institutionellen Hindernisse einzuwirken, zu denen trotz aller Dezentralisierungsbemühungen seit den 80er Jahren natürlich zuallererst eine starke zentralstaatliche Machtkonzentration sowie schwache Gewerkschaften (zumindest hinsichtlich des gewerkschaftlichen Organisationsgrades) zählen, während das Subsidiaritätsprinzip gerade die Kommunen stärker in die Betreuung der Erwerbslosen einbinden sollte und starke, aber auf einen Vergleich ausgerichtete Gewerkschaften ein wichtiger Bestandteil des sozialen Friedens sind. So beweist auch dieser Essay wieder einmal, dass die wissenschaftliche Diskussion in Frankreich der tatsächlichen gesellschaftlichen Realität, die sich häufig in lähmenden Besitzstandswahrungsreflexen der unterschiedlichen Berufsgruppen erschöpft, um Längen voraus ist.[3]
© passerelle.de, April 2006
- Dominique Méda hatte in den 1990er Jahren in einer philosophisch angelegten Schrift das Ende der Arbeitsgesellschaft prophezeit (Méda 1995). Seitdem wirbt sie in wissenschaftlich fundierten Schriften für eine gerechtere Wirtschaftsordnung und zeigt Wege auf, die zwar nicht mehr aus der Arbeitsgesellschaft hinausführen, ihr jedoch ein menschlicheres Antlitz verleihen könnten (vgl. vor allem Méda 2002).↵
- Nach der Typologie Esping-Andersens gehört etwa auch Deutschland zu diesem konservativ-korporatistischen Sozialstaat, der sich von dem liberalen Typus (England) und dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat (Nordeuropa) durch die Art der Finanzierung, die Höhe der Umverteilung, die anthropologischen Grundvorstellungen und die politischen Zielsetzungen zum Teil deutlich unterscheidet.↵
- Vgl. etwa auch das hier rezensierte Buch von B. Gazier (2003) zu den Übergangsarbeitsmärkten, das ganz ähnliche Reformmöglichkeiten aufzeigt.↵