von Michael Tillmann
- GAUCHON, Pascal: Le modèle français depuis 1945. PUF, Paris 2006 (zweite aktualisierte Auflage). ISBN 2-13055-443-1.
„Die Vorstellung, dass der Staat Träger des Allgemeinwohls sei, ist ein typisch französischer Gedanke, mit dem die Amerikaner nicht viel anfangen können.“ So jedenfalls urteilt der amerikanische Frankreich-Spezialist Ezra Suleiman. Und in der Tat könnte diese besondere Rolle des französischen Staates zumal bei der Wirtschaftsentwicklung als Leitgedanke zur Definition des französischen Wirtschaftsmodells dienen, dem Pascal Gauchon in seiner so knappen wie kenntnisreichen Studie nachspürt. Dabei widmet sich der Wirtschaftshistoriker auf den 127 Seiten dieses schmalen Bandes aus der Reihe Que sais-je? im Wesentlichen den Entwicklungen seit 1945, als Frankreich die Modernisierung seiner Wirtschaft nicht zuletzt auf dem Weg der Verstaatlichung und Konzentration zahlreicher Unternehmen betreibt und die für das Land in der Tat so typische Mischung aus marktwirtschaftlichen und planwirtschaftlichen Elementen begründet. Nach der starken Wachstumsphase im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg, den so genannten Trente Glorieuses, d.h. den dreißig glorreichen Jahren des Wirtschaftswunders, zeigt das Modell allerdings im Zuge der Studentenbewegung erste Risse: „In der zeitlichen Rückschau erscheint die Protestbewegung von Mai 1968 in Wirklichkeit als eine ‚liberal-libertäre‘ Bewegung, die nicht so sehr gegen die Konsumgesellschaft aufbegehrte, sondern vielmehr gegen die Pflichten und Zwänge, die mit ihr verbunden waren und die der Slogan métro-boulot-dodo, d.h. das entsagungsreiche Hin und Her zwischen heimischem Herd und Arbeitsplatz, treffend zum Ausdruck bringt. Dieser Bewegung ging es weniger um ein Streben nach Gleichheit und Brüderlichkeit als um eine Überhöhung der individuellen Freiheit.“
Kurz: Dem Modell kamen seine Wirtschaftssubjekte abhanden. Eine zumindest tendenzielle Abkehr lässt sich zudem unter dem Staatspräsidenten Georges Pompidou erkennen, dessen Politik sowohl eine stärkere Öffnung der französischen Wirtschaft nach außen einleitete als auch eine weitergehende Liberalisierung der Wirtschaft anstrebte. Diese liberaleren Ansätze, die unter dem Pompidou-Nachfolger und Schmidt-Vertrauten Valéry Giscard d’Estaing beschleunigt wurden, kamen dann allerdings mit dem Wahlsieg der Mitterrandschen Allianz aus Sozialisten und Kommunisten 1981 unter die Räder: „In den Augen der führenden sozialistischen Politiker hat sich das im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg definierte Gleichgewicht zwischen staatlicher Verwaltung, Arbeitnehmern und Kapitalisten allmählich zugunsten der Arbeitgeberschaft verschoben. Daher sollte der Staat wieder seine leitende Funktion übernehmen und die Arbeiter an ihn gebunden werden. Kurz: Es sollte wieder an die Logik des französischen Modells angeknüpft und die unvollendeten Modernisierungsbemühungen fortgesetzt werden.“ Andererseits war die Trendumkehr, mit der die sozialistisch dominierte Linksregierung letztlich durch die Stärkung der staatlichen Komponente wieder an die Ursprünge des französischen Wirtschaftsmodells anknüpfte, nicht von Dauer.
Angesichts der enttäuschenden Ergebnisse – stagnierendes Wirtschaftswachstum (1982: 2,4%), anhaltend hohe Arbeitslosigkeit (rund zwei Millionen Erwerbslose), Außenhandelsdefizit von 92 Milliarden Francs (1982), Abwertung des Franc 1981, 1982 und 1983 – steht Frankreich schließlich vor der Wahl, sich entweder von dem europäischen Währungssystem zu verabschieden, den Abwertungstrend der französischen Währung ungerührt hinzunehmen und dadurch an Kompetitivität zu gewinnen oder aber die Wirtschafts- und Finanzpolitik radikal umzugestalten und an die anderen großen Nationen anzupassen. Endet mit dieser gemeinhin als Wende bezeichneten Änderung des wirtschaftspolitischen Kurses die Sonderstellung Frankreichs, die – zumindest für ausländische Beobachter – bis zum Überdruss beanspruchte exception française? Sind die Sozialisten und an vorderster Front ihr bedeutendster Vertreter in Gestalt des Staatspräsidenten François Mitterrand letztlich die (unfreiwilligen) Totengräber des französischen Wirtschaftsmodells? In der Tat deutet vieles darauf hin, dass die spezifische Staat-Markt-Mischung Frankreichs Mitte der 80er Jahre, als auch die Globalisierungsprozesse ungeahnte Ausmaße erreichen, zu Ende geht. Aber schon seit Ende der 60er Jahre erweist sich ganz offensichtlich die Allianz zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Kräften als brüchig. Die zunehmende Abkehr von der tayloristisch organisierten Arbeitswelt zu einer netzförmigen, kurzfristig angelegten Funktionsweise legt zumindest die Vermutung nahe, dass damit gleichzeitig Konfliktlinien aufbrechen, die sich nicht ohne weiteres kitten lassen. Dass die Globalisierung und die Öffnung gegenüber den Weltmärkten letztlich zu territorialen Verschiebungen in der Wahrnehmung der wirtschaftlichen und staatlichen Akteure führen, erscheint insofern als unausweichlich. Nationalstaatliches Denken und Profitstreben in weltweitem Maßstab sind nur schwer unter einen Hut zu bringen. Je näher die Argumentation des Buches an das aktuelle Zeitgeschehen heranrückt, desto weniger leicht lässt sich ein roter Faden durch die einzelnen und bisweilen widersprüchlichen Regierungsmaßnahmen erkennen. Eine Stärke Pascal Gauchons ist es jedoch, dieser Schwierigkeit nicht aus dem Weg zu gehen und zumindest jene Versuche kurz zur Sprache zu bringen, die in der letzten Zeit unter der Bezeichnung Wirtschaftspatriotismus nach Wegen suchen, die eventuell zu einer modernisierten Variante des Modells zurückführen könnten.