Mit dem Blick fürs Ungewöhnliche. Regisseurin Tonie Marshall im Gespräch mit Caroline Elias und Thomas Weber, 12.08.05

Im Rahmen der Reihe „Mit Frankreich am Set“ hatten Thomas Weber und Caroline Elias die Gelegenheit mit der französischen Regisseurin Tonie Marshall über die Filmszene in Frankreich und ihre eigenen Filme zu sprechen.

War es schwierig für Sie, die Finanzierung für Ihren ersten Film zu bekommen?

Nein, damit hatte ich ganz und gar keine Schwierigkeiten, denn er wurde von Produzent Charles Gassot finanziert, der damals gerade mit dem Film „Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss“ (La vie est un long fleuve tranquille) großen Erfolg gehabt hatte. Daher hatte er Kapital und bekam außerdem Referenzfilmförderung („fonds de soutien“ des CNC), so war mein Film leicht zu finanzieren, dennoch war er meiner Meinung nach zu teuer. Dafür hatte ich aber dann Probleme, das Geld für den zweiten Film zu finden.

Da waren Sie ja nicht allein, vielen Regisseuren geht es so.

Ja, in Frankreich ist der erste Film oft nicht so schwer zu finanzieren.

Wie kam die Finanzierung für „Pas très catholique“ am Ende doch zusammen?

In Frankreich muss man einen Produzenten finden, der gute Beziehungen zu Sendern, Verleihern und Filmfonds pflegt. Der Produzent hat den Film dann mit Canal+ und M6 koproduziert, außerdem gab es einen Vorschuss vom Verleih und Filmfonds-Geld, aber trotz der vielen Partner mussten wir mit sehr wenig Geld auskommen. Pas très catholique war eher ein Erfolg, und daher war es mit dem folgenden Film, Enfant de salaud, den wieder Gassot produziert hatte, einfacher. Der Film entstand als franko-belgische Koproduktion, denn wir hatten keine Möglichkeit in Paris auf einem sehr alten Friedhof zu drehen wie dem „Père Lachaise“. Wir entdeckten dann in Brüssel einen Friedhof, der ähnlich aussieht, so war es vorteilhaft, in Belgien die Hälfte des Films zu drehen, und wir haben auch ein sehr luxuriöses Haus dort gefunden, das in Paris sehr viel mehr gekostet hätte…

Der Film Pas très catholique ist auch heute noch sehr wichtig für Sie…

Ja, klar. Zunächst ist es so, dass ich diesen Film wirklich mag, wahrscheinlich ist es der Film, den ich am meisten mochte, es ist der, der mir am nächsten ist. Ich hatte gar nichts erwartet, und immer wenn man nichts erwartet, geschieht das Unerwartete. Ich wurde für die Berlinale ausgewählt, das war wunderbar. Und der Film lief gut in Frankreich, er lief gut in Deutschland.

Wie ist Ihr Verhältnis zur jungen Generation der Filmemacher der 90er Jahre, der „Génération Fémis“? Sind Sie da als Autodidaktin assoziiertes Mitglied?

Nein, aber es gibt diese Gruppe befreundeter Regisseure, und mit vielen von ihnen bin ich auch befreundet, z.B. mit Noémie Lvosky, Pascale Ferrand, Claire Denis und Nicole Gracia. Trotzdem: wir sind alle Individuen und das, was uns verbindet, ist, dass wir das Kino lieben und eine enge Beziehung zu ihm haben; Kino ist etwas Heiliges, das uns verbindet. Und darüber hinaus macht jeder von uns seine Filme, manchmal mögen wir die Filme der anderen nicht, aber das zerstört nicht das Verständnis, das wir füreinander aufbringen. Wir lieben das Kino mit Leidenschaft und wir respektieren uns aufgrund dieser Leidenschaft für das Kino.

Was ist ihre Haltung gegenüber der anderen großen Kinogeneration, der „Nouvelle Vague“?

Oh, mon Dieu! Ich verorte mich nur ungern innerhalb einer historischen Perspektive. Da bin ich diskreter, ich weiß nicht, wie man das beschreiben kann, aber ich sage nicht, ich „realisiere ein Werk“, ich mache die Filme, die ich machen möchte und die ich machen kann. Was die „Nouvelle Vague“ betrifft, nun, da denke ich an Filme von Godard oder Truffaut, Baisers volés zum Beispiel. Auch wenn er nicht der größte Film von Truffaut ist, so hat er mich doch stark inspiriert. Ich liebe auch Une femme est une femme. Die Unbeugsamkeit und die Energie dieser Generation hat der Generation danach viel gegeben …

Gehören Sie also einer Art „Nouvelle nouvelle vague“ an?

Nein, ich glaube nicht, dass die heutige Generation von Filmemachern etwas mit der Idee der „Nouvelle Vague“ zu tun hat. Damals entstand sie aus dem Bruch mit dem herrschenden Akademismus heraus, mit der überlieferten Art, Filme zu machen. Ich persönlich musste mich von gar nichts abgrenzen, denn den Bruch haben ja andere vor mir gemacht. Das ist wie mit den Nachgeborenen der „Résistance“… Sie werden mich also nicht sagen hören, ich sei im Widerstand gegen irgendetwas, das habe ich nicht nötig, das haben andere erledigt. Natürlich, ich bin Nutznießerin der Geschichte, von dem, was gut oder schlecht in ihr war. Aber all das, was heute den Filmmarkt bestimmt, die Digitalisierung, das Internet, diese Schnelligkeit sind Veränderungen, die nicht mit der Nouvelle Vague zu erklären sind. Das hat einfach mit der Zeit zu tun, in der wir leben. Wir drehen Filme über die Themen, die uns interessieren. Aber die Schnelllebigkeit erlaubt es vielen Filmen nicht mehr, sich im Kino zu beweisen, dabei wissen wir, dass sich diese Filme so lange wie möglich im Kino halten müssen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, was angesichts des Überangebots oft gar nicht mehr klappt, so dass viele Filme in der Masse untergehen.

Welche ist die störungsanfälligste Etappe der Filmherstellung?

Es gibt immer Probleme in den verschiedenen Phasen, in denen ein Film entsteht – während des Schreibprozesses, während der Dreharbeiten, beim Kinostart, da kann viel danebengehen. Aber ich habe viel gelernt als Schauspielerin, als Scriptgirl usw., und das war dann sehr nützlich bei meiner Arbeit als Produzentin für Arte. Da war die Funktion des „künstlerischen Produzenten“ zu besetzen, also jemand, der von Abteilung zu Abteilung flitzt, angefangen beim Drehbuch über Kostüme, Licht und Technik, und der einigermaßen weiß, welche Informationen ergänzt werden müssen. Und da ich mit Schauspielern genauso wie mit der Lichtabteilung oder dem Produktionsbüro umgehen kann, war das schon sehr praktisch. Ich komme mir deswegen nicht mehr wie eine kleine einsame Person vor, die völlig alleingelassen Filme dreht. Ich stelle mir nicht einmal mehr diese Frage, denn ich weiß, ich habe die Fähigkeit und das Wissen, mit Schauspielern zu arbeiten, oder auch wie die Dreharbeiten beschleunigt, wie man 26 Minuten in dreieinhalb Tagen dreht und welche Drehkapazität man dafür benötigt.

Es gibt Leute, die sagen, Sie haben eine weibliche Art Filme zu drehen. Die neunziger Jahre waren ein sehr frauendominiertes Jahrzehnt im französischen Kino. Es gab viele Frauen, die plötzlich ihre Filme machten oder die als Schauspielerin und Regisseurin hervortraten wie z.B. Valeria Bruni Tedeschi

Die wirklich Erste, die zu unserer Generation gehört, war die Schauspielerin und Regisseurin Christine Pascale, die auch mit ihrem Produzenten verheiratet war. Sie hat sich vor einigen Jahren umgebracht. Sie hatte eine kompromisslose Beziehung zum Kino. In Frankreich gab es anschließend viele Frauen, denen es plötzlich möglich war, Filme zu drehen. Als Regisseurin komme ich in der Welt viel herum und nirgendwo sonst gibt es so viele Regisseurinnen wie in Frankreich. Frauen werden so stark gefördert, dass die Männer manchmal das Gefühl haben, es gäbe eine Art von positiver Diskriminierung.

Heute gibt es nicht wenige Schauspielerinnen, die ins Regiefach wechseln. Wenn man als Zuschauer das Kino liebt, Schauspieler ist und dazu auch noch schreiben kann, ergibt sich dies zwangsläufig.

Warum, glauben Sie, sind es trotzdem so viele Frauen?

Nun, ich weiß es nicht. Vielleicht weil plötzlich die Produzenten und Finanziers die Frauen entdeckten, die erfolgreich waren wie z.B. Coline Serreau mit Trois hommes et un couffin (Drei Männer und ein Baby) mit 10 Mio. Eintritte in Frankreich.Nun gab es von einem auf den anderen Moment die Idee, dass Frauen Kino machen können, aber trotzdem hat man nie bemerkt, dass es nun außerordentlich weibliches Kino sei. Man könnte sagen, dass die neunziger Jahre sich dadurch auszeichneten, dass die Frauen plötzlich sehr viel direkter, deutlicher und differenzierter über Sexualität sprachen. Da sie selbst Frauen sind, gab es vielleicht eine andere Vertrauensbasis, auf der sie sich berechtigt fühlten, den Körper einer Schauspielerin zu benutzen, dass sie weiter gingen, sehr viel weiter gingen als die Männer, die, so könnte man sagen, immer noch die Klischees reproduzierten. Und das hat wahrscheinlich in besonderer Weise die Produzenten interessiert und die Fernsehkanäle. Heute gibt es in Frankreich fast genauso viele Regisseurinnen wie Regisseure.

Worin liegt für Sie der Grund zu dieser Veränderung des Kinos gerade in den neunziger Jahren?

Nun, das war eine Zeit, in der Canal+ begann, sich sehr für das Kino zu engagieren und Filme zu finanzieren und das hat vielen erlaubt, ihre Filme zu drehen; oft waren es die ersten Filme. Und wenn man die erste Finanzierungszusage hatte, war es nicht so schwer, weitere zu finden und dann gab es diesen Sog des Neuen. Denn das Neue steht immer für das Lebendige, das sich bewegt und etwas wagt. Das hat Lust auf mehr gemacht. Ich profitierte von dem, was Christine Pascale, Josiane Balasko und andere schon gemacht hatten, und ich fand einen Produzenten. Hätte ich den nicht gefunden, wäre ich da geblieben, wo ich war. (Charles Gassot war zunächst als Werbefilmproduzent sehr erfolgreich gewesen und hatte daher eine andere Beziehung zum Risiko.)

Wie verhält sich Canal+ heute?

Es gibt ein Überangebot an Filmen, was die Verwertungskette verändert. Ein Kinostart ist ziemlich teuer, die Filme halten sich nicht mehr so lange im Kino. Früher war die Ausstrahlung auf Canal+ kurz nach dem Kinostart, heute schieben sich Piraterie und DVD-Ver­öf­fent­lichung dazwischen. Die Filme sind nicht mehr taufrisch, wenn sie auf Canal+ zu sehen sind. Vor ein paar Jahren war das Fernsehen eine Möglichkeit, nach dem Filmstart noch im Gespräch zu bleiben, und heute kommt der Film oft gleich ins Fernsehen. Das hat die Reihenfolge der Finanzierung der Filme extrem verändert.

Wenn Sie die Filme betrachten, die in diesem Jahr schon angelaufen sind, dann bemerken sie, dass diese eher schlicht, sehr teuer und stark inspiriert vom Fernsehen sind, für das breite Publikum. Das hat viel verändert und Canal+ folgt diesem Trend. Es gibt eben nicht mehr die Produzenten wie Humbert Balsan oder Gilles Sandoz, und Pierre Chevalier hat Arte-cinema verlassen. Und Arte versucht insgesamt, ein größeres Publikum zu gewinnen, was zu einem Wettbewerb führt, der darauf ausgerichtet ist, die kurze Zeit der Auswertung möglichst profitabel zu nutzen. Der Kinostart ist nur die Werbephase für die DVD, die erst das Geld bringt. Der Film läuft vier bis sechs Wochen im Kino, und die DVD wird schnell nachgeschoben, um die Piraterie zu begrenzen.

In ihren Filmen spielen Frauen eine wichtige Rolle. Verweist das auf eine bestimmte Art von Feminismus?

Nein, ganz und gar nicht. Ich schreibe Rollen für Schauspielerinnen, mit denen ich gerne arbeiten möchte. Ich stelle mir diese Frage nicht.

Sie haben sehr starke Frauenfiguren in ihren Filmen…

In Pas très catholique ist es eine Figur, die sehr früh ihr Kind verlassen hat und ich habe ihr nie die Schuld dafür gegeben. Ich lasse das Bedauern darüber zu, aber keine Schuld. Das ist etwas ganz anderes. Die Figur fühlt sich berechtigt, ein Leben zu leben, das nicht unmittelbar den gesellschaftlichen Ansprüchen genügt, ohne sich dabei permanent schuldig zu fühlen, und trotzdem mit dem Schmerz, den so eine Entscheidung mit sich bringt, leben zu lernen. Denn für alles zahlen wir einen Preis. Die Filme, die ich mache, sind Komödien, die erzählen, dass das Leben hart ist.

Vielen Dank!

Das Gespräch führten Caroline Elias und Dr. Thomas Weber am 11.05.05 in Babelsberg im Rahmen der Reihe „Mit Frankreich am Set”. Dank an HFF, Institut Français, Mediaoffice und das MAE. Übersetzung: Dörte Richter