Hettche, Thomas: In dieser Sache sind Daten alles. Zur deutschen Neuausgabe von Bram Stokers Dracula, 17.03.08

Jonathan Harker, ein junger Londoner Anwalt, gerade erst von einer höchst gefahrvollen Geschäftsreise aus Rumänien zurück, betritt am Abend des 2. Oktober 1890 das eheliche Schlafzimmer: „Auf der Kante des Bettes kniete die weiße Gestalt seiner Frau. Neben ihr stand ein großer hagerer Mann, vollkommen in Schwarz gekleidet. Ihr weißes Nachthemd war mit Blut bespritzt, und Blut rann wie ein weißer Faden über des Mannes Brust, die er entblößt hatte.“

Mina Harker selbst berichtet: „Er riß sein Hemd auf und öffnete mit seinen langen Nägeln eine Ader an seiner Brust. Als das Blut zu spritzen begann, ergriff er meinen Nacken und presste meinen Mund auf die Wunde, so daß ich entweder ersticken oder schlucken musste.“ Sie schluckt. Und steht damit in Gefahr, selbst zum Vampir zu werden. Also erklären Jonathan Harker, der Irrenarzt Dr. Seward, der Amerikaner Quincey Morris, Lord Godalming und der holländische Privatgelehrte Abraham van Helsing Dracula jenen Krieg, von dem man weiß, wie er ausgeht.

Und doch: Die Geschichte des Vampirs ist heute seltsam verdeckt vom vagen Wissen um einen historischen Kern, verstellt vom flackernden Schattengemälde Friedrich W. Murnaus und der explodierenden Kinoorgie Francis Coppolas, verfälscht von den geklitterten Plots unzähliger Verfilmungen. Die Neuausgabe ist eine Gelegenheit, den Roman neu zu lesen.

Auf den Spuren von Sherlock Holmes und Siegmund Freud

Bram Stoker, 1847 bei Dublin geboren, lebte als Theaterkritiker und Impresario in London, wo er 1912 starb. „Dracula“, sein einziger großer literarischer Erfolg, erschien 1897: vier Jahre nachdem Sir Arthur Conan Doyle in seinem Tagebuch vermerkt hatte: „killed Holmes“; zwei Jahre nach der Veröffentlichung der „Studien über Hysterie“ Siegmund Freuds. Mit dem prototypischen Detektiv wie mit der Psychoanalyse hat der Roman einiges gemein. Er spielt größtenteils im London Conan Doyles, der ersten modernen Metropole. Wie Holmes und Watson gehören Jonathan Harker und seine Freunde zu jener Sorte von Yuppies, die man damals Dandys nannte, Großstadtmenschen, die auf der Suche nach Informationen über den Verbleib des Vampirs mit den Datenbanken ihrer Zeit, Adreßbüchern, Lexika, Fahr- und Stadtplänen, virtuos umzugehen und die Informationstechnologie von der Kamera über Telegramm und Phonographen zu nutzen verstehen. „Ich nahm ihr das Gepäck ab, bei dem sich auch eine Schreibmaschine befand, und wir fuhren mit der Untergrundbahn nach Fenchurch Street, nachdem ich meine Haushälterin durch Stadttelegramm angewiesen hatte.

Doch im Gegensatz zu Sherlock Holmes, der den Zweifel an der eigenen Rationalität noch mühsam mit Kokain unter euphorischer Kontrolle hält, geht der Weg der Vampirjäger angesichts der dunklen Gefahr ungebremst nach innen. Bram Stokers „Dracula“ ist auch die Geschichte eines Wirklichkeitsverlustes und eine Fallstudie des Schreibens.

Die semiotische Frage: “Liegt es in der Beschaffenheit des Dings selbst oder ist es nur das Medium?

Der Roman besteht, folgt man der Fiktion, aus zwei stenographierten und einem handschriftlichen Tagebuch, Abschriften von Phonographenwalzen, zahlreichen Telegrammen, unzähligen Briefen, einer Denkschrift, einem Logbuch und Ausschnitten aus Tageszeitungen. Die Vampirjäger bringen nicht nur Dracula zur Strecke, ihre Aufzeichnungen setzen sich dabei auch zum Bericht dieser Jagd zusammen.

Als Jonathan Harker sich zu Beginn des Romans nach Transsylvanien aufmacht, können ihn selbst die wüstesten Verwünschungen finsterer Rumänen nicht beeindrucken: „Ordog = Satan, Pokol = Hölle.“ Und als ihm ein Kruzifix geschenkt wird, weiß er „nicht recht, was ich damit anfangen sollte, denn als Mitglied der englischen Staatskirche hatte ich gelernt, solche Dinge als mehr oder minder götzendienerisch anzusehen“. Doch die Wirkung – „Seltsam, dies Ding“ – sensibilisiert ihn schnell für die semiotisch wichtige Frage: „Liegt das in der Beschaffenheit des Dings selbst, oder ist es nur das Medium?“

Gefangen auf Schloß Dracula beginnt er Tagebuch zu führen. „Ich muss etwas tun, sonst werde ich wahnsinnig; deshalb schreibe ich dieses Tagebuch“, und zwar als Stenogramm, damit der Vampir es nicht lesen kann. Und tatsächlich, Dracula „bemerkte beim Öffnen die ihm fremden Zeichen, ein finsterer Zug trat in sein Antlitz, und seine Augen funkelten bösartig.“ Schreiben scheint Jonathan der Ausweg aus der existentiellen Verunsicherung, ob das, was er erlebt, wirklich sei. Schreiben scheint ihm der Einstieg ins Verstehen.

Derweil beschäftigt sich seine Verlobte Mina in England mit einer völlig anderen Weise des Schreibens: „Wenn ich genügend stenographieren kann, bin ich imstande, sein Diktat aufzunehmen und dann mit der Schreibmaschine abzuschreiben; das übe ich auch eifrig.“ Mina, die berufstätige, moderne Frau, schreibt nicht, weil sie fürchtet, wahnsinnig zu werden, sondern weil sie versucht, „es so zu machen wie die Journalistinnen“.

Die zentrale Bedeutung der Textverarbeitung: die Schreibmaschine als Interface

Nur folgerichtig angesichts solcher Fixierung der beiden auf den Schreibakt, daß Jonathan – dem Vampir glücklich entronnen – das Tagebuch, in dem er das Ungeheure notierte, Mina zum Hochzeitsgeschenk macht. „Ich wickelte es“, erzählt Mina, „in weißes Papier; dann band ich es mit einem Endchen blauen Bandes, das ich um meinen Hals getragen hatte.“ Womit ebendieser frei wäre für den zweiten Teil des Abenteuers.

Denn schon ist auch Dracula in London. Sein erstes Opfer ist Minas Freundin Lucy, jene völlig unmoderne Frau, die ihr Tagebuch weder wie Mina in die Maschine tippt noch wie Dr. Seward in den Phonographen spricht oder es in Kurzschrift wie Jonathan verfaßt, sondern handschriftlich mit schnöder Tinte. Als die Freunde nach ihrem Tod beraten, wie der Gefahr zu begegnen sei, ist es Mina, die um die zentrale Bedeutung der Textverarbeitung für den Kampf mit dem Vampir weiß. „Ich bin zu allem bereit. Ich werde meine Schreibmaschine nehmen und sofort beginnen.“ Wobei den Produzenten all der Berichte und Tagebücher die Absichten der jungen Frau anfangs nicht ganz geheuer sind. „Auf dem Tisch, ihm gegenüber, stand etwas, was ich nach den Beschreibungen für einen Phonographen hielt. Ich hatte noch keinen gesehen und interessierte mich deshalb sehr für ihn. Ich war ganz entzückt über die Sache und rief aus: ‚Nun, das übertrifft ja sogar das Stenographieren! Wollen Sie mich etwas hören lassen? Sie haben doch die arme Lucy gepflegt. Darf ich nichts über ihr Sterben hören?’

Mina bekommt ihren Willen: „Ich legte die Metallgabel ans Ohr und lauschte.“ Und beginnt sofort, die Informationen dadurch verfügbar zu machen, daß sie eben das verschwinden läßt, was die Männer zum Schreiben brachte. „Ich habe das Gehörte auf meiner Maschine nachgeschrieben; kein anderer wird die Schläge ihres Herzens je wieder so deutlich hören, wie ich es durfte.“ Denn Mina Harker hat erkannt: „In dieser Sache sind Daten alles; ich denke, wenn wir das ganze Material fertig und in chronologische Ordnung gebracht haben, ist ein großer Schritt vorwärts getan.“ Und so tippt sie alle Tagebücher, Phonographenwalzen und Logbücher ab, erstellt Durchschläge und verteilt sie an die ratlosen Männer und koordiniert den Kampf gegen den Vampir.

Dracula weiß also sehr wohl, was er tut, als er Mina nicht nur beißt und sie zwingt, sein Blut zu trinken, sondern bei seiner Flucht auch nie die gesammelten Dossiers über sich vernichtet. Zu spät. Die emsige Schreiberin, die selbst in der Gefahr schwebt, eine Untote zu werden, hat ihren Texten längst Ewigkeit beschert: „Gottlob haben wir noch eine Kopie im Geldschrank.“ Mina macht es „wie die Journalistinnen“, indem sie die Daten in immer neue Formen transponiert bis zum Triumph der Maschinenschrift als Kopie im Geldschrank. Die Spur des Todes wird dort unterbrochen, wo der Text als unendliche Reproduktion unsterblich wird. Der Verlockung Draculas entspricht Minas Aufruf zum totalen Medienkrieg: „Nichts darf mehr verheimlicht werden.“

Tatsächlich steht der Datentransfer Mina Harkers dem Blutaustausch des Vampirs in nichts nach, wobei die gerade erfundene Schreibmaschine das Interface der verzweigten Datenströme darstellt und Mina die Übermittlungszentrale. Nicht van Helsing, sondern sie in ihrer Leidenschaft für Textverarbeitung, die sie nur notdürftig unter dem Anschein der bigotten Ehefrau verbirgt, ist die eigentliche Gegenspielerin Draculas.

Die Technik des Vampirs dagegen, sich selbst im Angriff auf andere Körper sozusagen handschriftlich zu kopieren, erweist sich als den medialen Bedingungen der Informationsgesellschaft immer weniger gewachsen. Während Mina mit Schreibmaschine, Phonograph und Telegramm die universale Kompatibilität feiert, die kein Original mehr kennen, versucht Draculas Biß, unzählige Originale herzustellen. Unheimlich an ihm ist dabei gerade der anachronistische Anspruch auf den Körper, den die züchtige Mina ständig wegschreibt und der doch wiederkehrt, wenn der Vampir seine Zähne in ihren Hals schlägt.

Im dritten Teil des Abenteuers, der Verfolgungsjagd nach Transsylvanien, wird die Identität von Daten- und Blutaustausch schließlich überdeutlich und Mina zum Medium im eigentlichen Sinn des Wortes. Die Hypnose van Helsings macht sie zum nachrichtentechnischen Instrument, das Bilder und Töne von Draculas Flucht überträgt und den Methoden des Vampirs wie Fledermausflug und Nebelwabern haushoch überlegen ist.

Der High-Tech-Krieg gegen das Böse als Verirrung

Stoker bedeutet dem Leser jedoch, den High-Tech-Krieg gegen das Böse als Verirrung, als Krankheit zu lesen, die mit dem Bösen verschwindet. Indem der Mund des besiegten Vampirs mit Knoblauch gefüllt wird und seine rotglühenden (Kamera-)Augen erlöschen, werden Mikrophon und Objektiv zurückgenommen und der Leser in die heile Welt der Schrift entlassen, in der das Buch mit einem mustergültigen Happy-End der Textverarbeitung schließt. „Ich nahm die Papiere aus dem feuerfesten Schrank, wo sie seit Vollendung unserer Aufgabe geruht hatten. Wir waren nachträglich erstaunt über den Umstand, daß in der ganzen Menge von Material, aus dem der Bericht sich zusammensetzt, kaum ein einziges authentisches Dokument sich befindet; nichts als eine Masse von Blättern mit Maschinenschrift.“

„Unser Schreibzeug schreibt mit an unseren Gedanken“, schrieb Nietzsche auf der gerade erworbenen Schreibmaschine. Es arbeitet auch in den Gedanken der Sekretärin Mina, die sich nach nichts mehr sehnt, als zum Diktat gerufen zu werden.

“Während Mina tippt, gerät ihre Freundin auf die Nachtseite des Maschinenschreibens“, bemerkt der Literaturwissenschaftler Friedrich Kittler lakonisch. Denn Eckzähne und Typenhebel erzeugen beide durch einen einzigen kurzen Druck Bisse oder Buchstaben an der richtigen Stelle von Papier oder Haut. Lucy führt in ihren Wunden und Träumen das Hauptmerkmal jener Frauenkrankheit vor, die zwei Jahre vor Stokers Roman Freuds „Studien über Hysterie“ beschrieben: das Beherrschtwerden von einem Diktator. Im Diktat als Diktator schließt die Hysterie den Vampir mit der medialen Entwicklung kurz, die Mina schon deshalb so hysterisch zu beherrschen sucht, weil sie selbst von ihr beherrscht wird.

“Nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss”, schrieb Nietzsche

Heute, da die Sprache tatsächlich „a virus from outer space“ zu sein scheint, wie Burroughs meinte, und der ungehinderte Daten- und Blutfluß angesichts elektronischen Krieges und von Aids tödlicher Alltag geworden ist, liegt die Aktualität des Romans nicht in der Gleichsetzung des Blutsaugers mit dem Virus. Vielmehr läßt sich Stokers Schilderung der Geburt des Vampirs aus dem Geiste unserer medialen Moderne als Gleichsetzungskritik lesen. Dracula ist die Kehrseite der heilen Datenwelt, in der wir heute noch so gefährdet leben wie Mina Harker, der die Hostie van Helsings ein Mal auf die Stirn brennt.

„Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“, formulierte es Nietzsche 1887 in der „Genealogie der Moral“. Angesichts der universalen Übersetzbarkeit von Daten, die kein Original und keinen Autor mehr kennen, verkörpert Dracula den dunklen Schreibmaschinenmythos einer buchstäblichen Schrift aus Malen und Wunden, einer Einschreibung auf dem Körper, deren Verstehen daran scheitert, daß der Beschriftete selbst ist, was er zu lesen versucht.

Bram Stoker: Dracula, 448 S.

* Erstmals abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30. März 1993

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