Kunst und Kapitalismus. Von neuen Gemeinsamkeiten alter Gegensätze. Über ’Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers’ von Pierre-Michel Menger

Besprochenvon Michael Tillmann

Die Künstlerarbeit ist seit geraumer Zeit – zumindest was das Angebot an Künstlern betrifft – ein starker Wachstumsmarkt. In Frankreich hat sich zwischen 1987 und 2000 die Zahl der Künstler mehr als verdoppelt, während das Arbeitsvolumen in dem Betrachtungszeitraum nur etwa um das 1,5-fache gewachsen ist. Diese Zahlen veranschaulichen gleichzeitig die paradoxe Lage der Künstlerarbeitsmärkte, auf denen noch stärker als in der Vergangenheit auf Kurzzeitbeschäftigungen zurückgegriffen wird. Alles deutet darauf hin, dass die Künstlerberufe – zumindest das damit verbundene Idealbild eines kreativen, eigenständigen, unhierarchischen Arbeitens mit großem Selbstverwirklichungspotenzial – heute mehr denn je eine magische Anziehungskraft ausüben und dass andererseits die Künstlerarbeitsmärkte von einer auf die Spitze getriebenen Flexibilität geprägt sind, die die Kunst – wie Pierre-Michel Menger in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Essay zutreffend schreibt – zu einem „Experimentierfeld der Flexibilität“ machen. Insofern ist das neu erwachte Interesse der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an den Künstlerarbeitsmärkten angesichts eines wachsenden Flexibilisierungsdrucks durchaus verständlich. Überraschend ist es nur für all jene, die – wie die innovativen Kunstbewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts – zwischen Kunst (Innovation, Normbruch) und Markt (Stabilität, konventionelle Moralvorstellungen) einen unüberbrückbaren Gegensatz sehen. Dass es jedoch durchaus Berührungspunkte zwischen den beiden scheinbar so unversöhnlichen Welten gibt, lässt sich allein schon an dem berühmten Wort Schumpeters ablesen, der in Bezug auf den kapitalistischen Prozess von einer „schöpferischen Zerstörung“ sprach. Der Normbruch der Künste und das Innovativ-Schöpferische, das auf den Wirtschaftsmärkten einen Wettbewerbsvorteil garantiert und in den modernen Wissensgesellschaften neuartige Formen betrieblicher Organisation anzustoßen vermag, ist jedoch Pierre-Michel Menger zufolge nur ein Aspekt einer viel weiter zu fassenden Schnittmenge. Der Künstler – das haben nicht zuletzt Boltanski/ Chiapello (1999) in ihrer großen Kapitalismusstudie gezeigt – ist aufgrund seiner Ungebundenheit, seiner Unkonventionalität, seiner Kreativität und seiner Eigenständigkeit in den einschlägigen Managementtexten zu einem viel beschworenen Modell des modernen Arbeiters geworden. Seine Anpassungsfähigkeit und sein eigenverantwortliches Krisenmanagement verklären ihn zu einem mythischen Helden in einer unsicheren Arbeitswelt. Sein spezifisches Risikomanagement – Stichwort: Mehrfachbeschäftigung zur Absicherung gegen dauerhafte Unterbeschäftigung – scheinen auch auf anderen Arbeitsmärkten Nachahmer zu finden. Die Kluft, die sich in den Kunstberufen zwischen den Spitzenverdienern und der anonymen Masse auftut und die zum Teil einem logisch nicht nachzuvollziehenden Zufallsprinzip zu verdanken ist, lässt allerdings auch die Gefahren erahnen, die mit reputationsbasierten Marktmechanismen, wie sie insbesondere für die Künstlerberufe gelten, einhergehen. So kristallisieren sich in der Figur des Künstlers exemplarisch zentrale Fragen gesellschaftlicher Relevanz, die das Problem von individueller Leistungsfähigkeit, zum Teil beträchtlichen Einkommensungleichheiten, Formen einer flexiblen Arbeitsgestaltung und solidarischen Schutzmechanismen betreffen. Insofern ist der brillant geschriebene Essay Pierre-Michel Mengers sicherlich eine unumgängliche Begleitlektüre zu den aktuellen Diskussionen rund um die neue Arbeitsgesellschaft.

© passerelle.de, April 2006

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