Abstiegsangst der Mittelschicht. Über ‚Abstiegsangst der Mittelschicht‘ von Louis Cauvel

Besprochenvon Michael Tillmann

Deutschland hat seine Unterschichtendebatte. Frankreich diskutiert über die Zukunft seiner Mittelschicht. Dass eine solche öffentliche Auseinandersetzung zwangsläufig ihre Unschärfen hat, liegt nicht zuletzt an der Schwammigkeit des Begriffs selber. Allein schon der Umstand, dass der französische Terminus gewöhnlich im Plural gebraucht wird, deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Bevölkerungskategorie nicht um einen einheitlichen, monolithischen Block handelt. Dabei rechnen sich einer neueren Umfrage zufolge spontan immerhin 75% aller Franzosen der bzw. den Mittelschichten zu. Zur näheren Bestimmung dieses mittleren Gliedes im gesellschaftlichen Schichtungsgefüge stützt sich Louis Chauvel[1] in diesem neuen Band der République des Idées auf eine aus drei Kriterien bestehende Definition. Demnach gehören all jene zur Mittelschicht, die über ein durchschnittliches Einkommen verfügen, die zu den Berufsgruppen mit mittlerem Qualifikations- bzw. Kompetenzniveau zählen (d.h. im Großen und Ganzen die von dem französischen Statistikamt als professions intermédiaires eingestuften Berufe) und die sich gleichzeitig in dem für diese Schichten spezifischen Fortschrittsglauben wieder erkennen und ihr Schicksal bzw. das ihrer Kinder mit dieser Klasse identifizieren.

Gerade in diesem letzten Punkt unterscheiden sich Louis Chauvel zufolge die französischen Mittelschichten von ähnlichen Klassen in anderen entwickelten Ländern. Letztlich ist die französische Mittelschicht eine im definitorischen Detail sicherlich bestreitbare Realität. Vor allem aber ist sie ein Gesellschaftsprojekt, insofern sie sich selbst gewissermaßen als Inkarnation des Fortschrittsgedankens und der Modernität schlechthin versteht. Die Epoche des rasanten Wirtschaftswachstums in den drei Nachkriegsjahrzehnten jedenfalls vermochte die gesellschaftlichen Kräfte in einer Art und Weise zu binden, dass manche – ähnlich wie in Deutschland – den Traum von einer moyennisation, einer dauerhaften „Vermittelschichtung“ der Gesellschaft nähren konnten. Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft französischen Zuschnitts steht nun allerdings vor dem Dilemma, dass nach den „glorreichen“ Wachstumsjahren der Trente glorieuses, die ihre innere Einheit zementierten, die „kargen“ Wachstumsjahre der Trente piteuses – wie es nur halb spaßhaft heißt – den Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl der Mittelschichten auf eine schwere Belastungsprobe stellen. Die nachwachsenden Generationen haben im Vergleich mit der Wirtschaftswundergeneration durchschnittlich zwar ein höheres Ausbildungsniveau und könnten so zu tatkräftigen Mitstreitern der Mittelschicht heranwachsen. In Wahrheit jedoch erleben sie einen schmerzhaften Prozess der generationenspezifischen Deklassierung – und das in einer Gesellschaft, die lange Zeit felsenfest dem Glauben eines stetigen Fortschritts anhing. Dieser Fluch der späten Geburt nährt soziale Abstiegsängste, die auch politischen Sprengstoff in sich bergen. Während die Mittelschicht mit ihrem „humanistischen Individualismus“ als Erbe der 68er Bewegung für darunter liegende Schichten eine ideologische Leitfunktion haben konnte, solange die wirtschaftliche Entwicklung einen stetigen Wohlstandsgewinn verhieß, geht als Folge der weit verbreiteten Deklassierungsängste innerhalb der Mittelschicht, begleitet von sozialräumlichen Abschottungstendenzen wie sie etwa Éric Maurin beschrieben hat, auch deren ideologische Attraktivität verloren – und damit ein den demokratischen Prozess in Frankreich stabilisierendes Element.

© www.passerelle.de, Dezember 2006

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Louis Chauvel hat sich vor allem mit seiner erstmals 1998 erschienenen Studie zur generationenspezifischen Entwicklungsdynamik, Le destin des générations. Structure sociale et cohortes en France au XXe siècle, in Frankreich einen Namen gemacht, in der er das Geburtsjahr als weithin unterschätzten Ungleichheitsfaktor ausmacht und anhand umfangreicher Zahlenreihen anschaulich darstellt. Inzwischen hat sich das Augenmerk der Öffentlichkeit, nicht zuletzt infolge der Ausschreitungen in den französischen Banlieues Ende 2005 und den Studentenprotesten gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes für Jungarbeitnehmer einige Wochen später, zu einem Allgemeinplatz der öffentlichen Debatte entwickelt. Einige seiner kleineren Schriften sind frei zugänglich (vgl. dazu den Internetauftritt von Louis Chauvel).