Rzayeva, Sevindsh: Gesellschaft kontra Persönlichkeit. Zum Menschenbild im Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ von Robert Musil, 15.06.07

Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil bedingt die Konzeption der Gesellschaft auch die Konzeption der Persönlichkeit; Gesellschaft und Persönlichkeit sind dialektisch verbunden: Grundlegende Eigenschaften der Persönlichkeit reifen in der Tiefe der gesellschaftlichen Beziehungen, die Persönlichkeit bewirkt ihrerseits soziale Tendenzen. Das bedeutet allerdings keineswegs die harmonische Vereinigung und Eintracht von Gesellschaft und Persönlichkeit. Tatsächlich fügt sich keine einzige Romanfigur bedingungslos ins Gesellschaftssystem ein.

Dies liegt vor allem daran, dass die Gesellschaft selbst kein logisches System darstellt, sondern zutiefst widersprüchlich ist und kein fruchtbares Feld für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit bietet. In Der Mann ohne Eigenschaften ist die Gesellschaft als eine aggressive Macht dargestellt, die jeden Versuch, sich zu einer Persönlichkeit zu entwickeln, im Keim erstickt. Daher tritt keine Figur – Ulrich vielleicht ausgenommen – auf, die für sich in Anspruch nehmen könnte, eine vollwertige Persönlichkeit zusein. Dem Zustand einer dem Untergang geweihten Gesellschaft entspricht der Verfall der Persönlichkeit. Dieser Verfall zeigt sich in verschiedenen Formen: die intellektuelle Impotenz des Generals von Stumm, das Fehlen moralischer Werte bei Arnheim, die psychische Unausgeglichenheit von Klarissa, die Plattheit der Gefühle bei Diotima, die Beschranktheit von Tutti, und schließlich die Unbändigkeit Ulrichs. Dies geht einher mit der totalen Verneinung irgendeines Lebenszwecks oder gültigen Weltordnung sowie der Überzeugung, dass sich niemals etwas ändern wird. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen, der Verlauf der Oktoberrevolution und ihr Münden im Stalinismus, und schließlich das Aufkommen des Faschismus und der Zweite Weltkrieg sollten zumindest das pessimistische Weltbild bestätigen.

Die Konzeption des Menschen ist nicht nur mit den sozialpolitischen Realitäten zur Entstehungszeit des Romans verbunden, sondern auch mit Traditionen der künstlerischen und philosophischen Geistesgeschichte. Die Vorstellung, Kunst und Leben zu vereinen, haben erstmals die deutschen Frühromantiker geprägt. Viele Musil-Forscher weisen auf Parallelen mit der Konzeption der romantischen Persönlichkeit sowie auf Einflüsse von Friedrich Hölderlin hin. Neben dem Werk Dostojewskis hatte besonders die Philosophie Friedrich Nietzsches Eindruck auf den österreichischen Schriftsteller gemacht. In seinen Tagebüchern und Artikeln formulierte Musil seine Vorstellung von einer Persönlichkeit, die sich vom Menschen seiner Zeit diametral unterscheidet. Er wollte sich nicht abfinden mit Unmoral, Willensschwäche, Charakterschwäche und intellektueller Unbeweglichkeit.

Wie Dostojewski beschäftigte sich Musil mit dem Grundproblem des Menschen zum Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts: der Entfremdung und Selbstentfremdung der Persönlichkeit. Beide Schriftsteller schildern Menschen, denen die menschlichen Eigenschaften abhanden kommen, und entwickeln daraus ihre Weltanschauung. Und diese Anschauung wird maßgeblich für das 20. Jahrhundert sein: die Vorstellung einer Welt, in der die Persönlichkeit sich nur eingeschränkt entwickeln kann.

‚Der Mann mit Eigenschaften’ ist in dieser Hinsicht ein entfremdeter Mensch, weil er im System der gesellschaftlichen Beziehungen eingeschlossen ist und deshalb ohne individuelle Eigenschaften dasteht. Ulrich dagegen, der ‚Mann ohne Eigenschaften’, ist die einzige nicht entfremdete Person in Roman. Er verkörpert nicht der Weisheit letzter Schluss oder die edelsten menschlichen Eigenschaften. Ein Mensch ‚ohne Eigenschaften’ zu sein ist die einzige Weise, die persönliche Integrität zu wahren.

So propagiert Musil einen neuen Menschen – den ‚Mann ohne Eigenschaften’, der frei ist von gesellschaftlichen Konventionen und sich quasi außerhalb von Zeit und Raum befindet. Diese Vorstellung ist das Ergebnis einer längerfristigen künstlerischen Entwicklung Musils, vom Frühroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß bis zu den späten Novellen. Aber diese Konzeption scheitert – was meiner Ansicht nach letztlich dazu führte, dass der Roman Der Mann ohne Eigenschaften niemals vollendet wurde.

In der Ästhetik Robert Musils spielt die Idee der romantischen Ironie eine zentrale Rolle. Dabei ist Ironie für den österreichischen Schriftsteller nicht nur künstlerisch-technisches Verfahren, sondern höchstwahrscheinlich das Universalverhältnis des Künstlers zur Wirklichkeit, insbesondere zur menschlichen Persönlichkeit. Musil glaubte, dass viele Mängel des Menschen mit dem „zu ernsten“ Verhältnis zu sich selbst zusammenhingen. Das ironische Verhältnis zur eigenen Person lässt den Menschen seine seelischen und intellektuellenFähigkeitenrealistisch einzuschätzen. Ein ironisches Verhältnis zu sich selbst führt dabei auf paradoxe Weise zu geistiger Reinigung und moralischer Erhöhung. Ironie entwickelt sich zu Musils Bewertungsmaßstab geistlicher und intellektueller Fähigkeiten. Gerade diese Eigenschaft ist die grundlegende Eigenschaft des Haupthelden Ulrich. ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ hat nämlich doch eine Eigenschaft – es ist die allgegenwärtige Ironie.

Oft wird vernachlässigt, dass es neben dem Bild des harmonischen Idealmenschen wie in Gemälden von Leonardo da Vincis oder Werken wie Boccaccios Dekameron und Petrarcas Sonetten noch eine pessimistischePersönlichkeitsvorstellung gab, die ihren künstlerischen Ausdruck in Cervantes’ Don Quichote und in Werken des deutschen Barock, aber auch in Stücken Shakespears wie Hamlet, Macbeth und König Lear fand. Und während Goethe beharrlich danach strebte, in seinen Werken einen harmonischen Menschen zu schildern, unternahmen es andere deutsche Dichter wie Novalis und Hölderlin, später auch E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine und andere, den geistig asymmetrischen Menschen darzustellen.

Das konstruierte Herangehen an den Bildaufbau und die ständige Kommentierung der geschilderten Ereignisse unterstreichen den ironischen Charakter von Musils Texten. Mit Ironie untersucht der Schriftsteller die Unterscheidungsmerkmale der Menschen ‚mit Eigenschaften’ und ‚ohne Eigenschaften’, er zeigt sie von verschiedenen Seiten und stellt sie einander gegenüber. Thomas Mann, ein Bewunderer Musils, schrieb: „Das Kunstsystem von Musil – ist die Waffe der Reinheit, der Richtigkeit, der Natürlichkeit gegen alles Fremdes, finsteres Falsches, gegen das, was er in seiner träumerischen Verachtung ‚die Eigenschaften’ nannte.“ [6, 367]

Aus Musils Tagebüchern ist ersichtlich, dass der Schriftsteller mehrere Varianten für den Schluss des am Ende unvollendeten Romans in Erwägung zog. Tatsächlich stellte keine ihn zufrieden. Aber unter den möglichen Fassungen verdient jene besondere Aufmerksamkeit, deren Konzept der Autor als „Utopie des induktiven Denkens oder der sozialen Anlagen“ bezeichnete. [2, 155] Das Prinzip des „Mann ohne Eigenschaften” ist die totale Verneinung, wohingegen die Liebe die unbedingteste Form gesellschaftlicher Bindung darstellt. Schon früh ist sich Musil der Gefahr bewusst: eine Liebe „zu zweit“ hat unvermeidlich egoistischen Charakter. Sie isoliert zwei Menschen von der Gesellschaft und vertieft den Graben zwischen individueller Persönlichkeit und Gesellschaft. Sowohl Ulrich als auch Agatha legen sich Rechenschaft über diese Gefahr ab, sind aber nicht bereit, ihre Gefühle zu leugnen. Stattdessen suchen sie nach einer allumfassenden Lösung. Durch die individuelle Liebe zueinander streben sie danach, den Weg zu den Herzen aller Menschen zu finden. Aber je näher sie ihnen kommen, desto mehr wird ihnen klar, dass sie nicht imstande sind, ihre Nächsten, geschweige denn die ganze Menschheit zu lieben. Ein Mensch, der alle anderen liebt, verliert seine Gefühle; die Liebe zerstreut sich, löst sich im Allgemeinen auf und verschwindet schließlich ganz. Ulrich beginnt zu begreifen, dass er nicht imstande ist, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. „Alles lieben und nichts im Einzelnen“, resümiert Ulrich schließlich die Hoffnungslosigkeit seiner Situation.

Es scheint mir, dass eine der grundlegenden Ursachen des Scheiterns des Experiments, sich ins System der gesellschaftlichen Beziehungen einzureihen, in Zusammenhang mit der Liebeskonzeption der deutschen Frühromantik steht. Musils Äußerungen stimmen verblüffend überein mit Sentenzen seines Lieblingsdichters Hölderlin.

Eine Zusammenstellung:

Hölderlin: „Meine Liebe gehört zur Menschheit, nicht lasterhaften, sklavisch unterwürfigen, konservativen, mit der wir sehr oft zusammenstoßen. Ich liebe die Menschheit von Zukunft.“

Musil: „Ich widme diesen Roman der deutschen Jugend. Nicht der heutigen, geistig verheerten nach dem Krieg – die sind nur spaßhafte Abenteurer, sondern der, die einmal kommen wird.“

Hölderlin: „Ich liebe den Menschen nicht menschlich.“

Musil: „Den Menschen lieben – nicht imstande sein, ihn zu lieben.“

Ulrich versucht den Aufstand gegen alle moralischen Vorschriften. Er entsagt den Gesellschaftsnormen und öffnet sich einer verbotenen Liebe. Dabei versucht Musils Protagonist, ein einmal erlebtes Gefühl wieder zu erleben und es für immer zu bewahren, es zum Sinn seines Lebens zu machen und nach seinen Gesetzen zu leben. Doch immer, wenn der Schriftsteller den Gefühlen seiner Figuren auf den Grund geht, erlischt deren vermeintliche Erhabenheit. Ulrichs vorübergehende Verliebtheit in die „Frau Major“ wird von Musil ironisch kommentiert. Der Autor teilt den Lesern mit, dass das Experiment, ein Anderer zu sein, meistens tragisch endet. A. Karelski charakterisiert Ulrichs Grundproblem präzise: „Musil will die beimischungslosen, sozusagen destillierten Formen von 2 Komponenten (Rationalismus und Emotionalität) erreichen. Dieses Streben hat dem klassischen Dilemma ‚Verstand – Gefühl’ in Musils Variante eine besondere Spannung und Schärfe verliehen: je klarer sich zwei Prinzipien wähnen, desto tiefer ist der Abgrund zwischen ihnen und desto unlösbarer die Aufgabe, sie zusammenzuführen ist.“ [5, 15]

Bei der Beschreibung der Liebe Ulrichs zu seiner Schwester bleibt der Autor auffällig neutral gegenüber der Blutschande, die doch Objekt der schärfsten und unversöhnlichsten Kritik zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte war. Doch der Inzest dient hier in erster Linie als Symbol. Er dient dem Zweck, dem Teufelskreis der Trostlosigkeit zu entrinnen. Aber auch dieser verwegene Schritt hilft ihnen nicht. Ulrich und Agatha übertreten die Normen der menschlichen Gemeinschaft und fühlen sich zu einander hingezogen. Aber das strenge Tabu des Inzests überschattet ihre Gefühle. Strebend zu lieben sind sie nicht imstande zu lieben. Die Beziehungen zwischen Ulrich und Agatha charakterisierend schreibt Musil: „Den Menschen lieben – und nicht imstande sein, ihn zu lieben.“

Literatur

  • Kraft, Herbert: Musil. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2003
  • Musil, Robert: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hamburg: Rowohlt Verlag 1955
  • Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften (hg. v. Adolf Frise). Hamburg: Rowohlt Verlag 1978
  • Музиль Р. О книгах Роберта Музиля. – В кн.: Называть вещи своими именами, стр. 367-373
  • Карельский А. Утопии Роберта Музиля.- Вкн.: Musil R. Ausgewählte Prosa. Moskau, 1980, стр. 5-27
  • Corino, Karl: Musil. Leben und Werke in Bildern und Texten. Hamburg: Rowohlt 1988
  • Honnef-Becker, Irmgard: Ulrich lächelte, Techniken der Relativierung in Robert Musils Roman «Der Mann ohne Eigenschaften». Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang 1991
  • „R. Musil“, in: Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur (hg. v. Heinz Lüdwig Arnold). München: Weidenbaum Piper Verlag 1983