von Michael Tillmann
- GAZIER, Bernard: Tous Sublimes. Vers un nouveau plein-emploi. Flammarion, Paris 2003. ISBN 978-2082102858.
Angesichts einer anhaltenden Arbeitsmarktkrise in den meisten entwickelten Industrieländern und den damit verbundenen Belastungen des Sozialstaates müssen praktikable Lösungen gefunden werden, die sich nicht auf ideologische Grabenkämpfe zwischen radikalliberalen, rückwärtsgewandten und sozialutopischen Vorstellungen beschränken. Weder das alleinige Marktprinzip noch die nostalgische Verbrämung der industrieweltlichen Gesellschaftsorganisation noch utopisch anmutende Vorstellungen eines Bürgergeldes bieten einen Ausweg aus der strukturellen Krise der westlichen Arbeitswelt, der sowohl ein hohes Beschäftigungsniveau als auch einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den verschiedenen Lebenssphären der Mitglieder einer Gesellschaft garantieren würde. Demgegenüber ließe sich, folgt man Bernard Gazier, an bestehende Ansätze anknüpfen, auf deren Grundlage man ein neues und dauerhaftes sozialdemokratisches Arbeits- und damit auch Gerechtigkeitsmodell in Europa entwickeln könnte.
Dieses auf den deutschen Wirtschaftswissenschaftler Günther Schmid zurückgehende Konzept hat einen Namen: Übergangsarbeitsmärkte.[1] Dabei handelt es sich um die systematische Ausgestaltung und Absicherung von Übergängen zwischen dem klassischen Arbeitsverhältnis (angestellte Vollzeitbeschäftigung) und anderen Beschäftigungsformen (Ausbildung, Eigenarbeit, Hausarbeit, Mutter- bzw. Vaterschaft, Erwerbslosigkeit, Selbständigkeit, Rente usw.). Die Ausgestaltung dieser Übergangsarbeitsmärkte sollte Gazier zufolge auf den vier Prinzipien einer größeren individuellen Autonomie, der Solidarität zwischen den Menschen in Übergangssituationen und den Arbeitnehmern in gesicherten Anstellungsverhältnissen, der Effizienz aus staatlicher und privatwirtschaftlicher Steuerung und der dezentralisierten Entscheidungsfindung beruhen. Beispiele für derart ausgestaltete Übergänge lassen sich schon heute auf den europäischen Arbeitsmärkten finden: Die Voest-Alpine-Stahlstiftung etwa hilft Arbeitnehmern aus Betrieben, die der Stahlstiftung angehören, bei der Arbeitsuche und bietet umfangreiche Aus- und Fortbildungsprogramme. Die Besonderheit dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments besteht jedoch in seiner Finanzierung: Die Unternehmen, die Sozialkassen, die betroffenen Erwerbslosen sowie die Arbeitnehmer in den angeschlossenen Betrieben beteiligen sich an der Finanzierung. Das deutsche duale Ausbildungssystem, in dem die Lehrlinge ihre Ausbildung mit finanzieren, die Jobrotation in Dänemark, eine Teilzeitbeschäftigung von Arbeitnehmern im Vorruhestandsalter, gekoppelt mit einer Tätigkeit in gemeinnützigen Vereinen oder Assoziationen, sind ebenfalls einige der praktizierten bzw. praktikablen Lösungen, die Gazier in seinem Buch anführt. Damit lässt bzw. ließe sich verhindern, dass Exklusionsprozesse zu einer dauerhaften Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt führen. Das demokratische Risikopotential, das solche Exklusionsprozesse enthalten, ließe sich damit ebenfalls entschärfen. In letzter Konsequenz bietet das Modell der Übergangsarbeitsmärkte die Möglichkeit, einer gerechteren Gesellschaft. Neben ihren Pflichten und finanziellen Belastungen gewinnen die Arbeitnehmer eben auch an Autonomie. Ein Ausstieg aus dem Berufsleben aus Gründen der Mutter- bzw. Vaterschaft ist in einem derart konzipierten Arbeitsmarktmodell eben nicht gleichbedeutend mit beruflichem Abstieg, sozialer Prekarität oder finanzieller Abhängigkeit von Mann (Frau oder Familie). Insofern ist das Konzept der Übergangsarbeitsmärkte – wenn man versucht, es konsequent umzusetzen – weit mehr als ein arbeitsmarktpolitisches Instrument. Es ist ein Weg zu mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit (nicht nur, aber eben auch zwischen den Geschlechtern).
- Im Unterschied zu G. Schmid (2002) ist Gaziers Buch stärker essayistisch angelegt und insofern eine ausgezeichnete Ergänzung.↵