Fuhrmann, Sandra: Der Geruch von Büchern – der Gestank von Geld, 14.10.2013

Sie duften, sie fühlen sich gut an, sie können Emotionen wecken und mit manchen gehen wir eine Beziehung fürs ganze Leben ein. Für viele sind Bücher mehr als ein Gebrauchsgegenstand. Wir besitzen sie über Jahrzehnte, und jedes Mal, wenn wir sie lesen, nehmen sie ein Stück unserer eigenen Geschichte in sich auf. Aber wie viel ist uns diese Beziehung eigentlich wert?

Buchpreisbindlung – sinnvoll oder sinnlos?

Der 11. März 2012 – ein „schwarzer Tag für den Schweizer Buchhandel“, titelt das Magazin Buch Markt. Es ist der Tag, an dem die Schweizer Bevölkerung über das Gesetz zur Buchpreisbindung abstimmt – und sich mit 58 % dagegen entscheidet. Die Buchpreisbindung zieht eine Kluft durch ganz Europa. Während beispielsweise Frankreich, Italien, die Niederlande und Österreich Preise für Bücher festlegen, fehlt diese Regelung in Belgien, Großbritannien, Irland oder Schweden.

In Deutschland sind die Preise für Bücher seit Oktober 2002 gesetzlich gebunden. Das bedeutet, dass genau wie bei Tabakwaren oder Arzneimitteln vom Produzenten, in diesem Fall den Verlagen, der Preis für ein Buch anfangs festgelegt werden muss. Dieser muss auch beim Verkauf vom Händler an den Endkunden eingehalten werden. Somit ist es zum Beispiel Discountern nicht möglich, ein Buch billiger an den Mann zu bringen, als das ein traditionelles Buchgeschäft könnte. Ausnahmen von der Regel sind lediglich Bibliotheken- und Schulbuchnachlässe, Kollegenrabatt, Lehrerprüfstücke oder Mängelexemplare.

Schleichpfade

Ein Gesetz – tausend Wege es zu umgehen. Amazon wählte den, beim Kauf von Büchern Gutscheine an seine Kunden zu verteilen. Im so genannten „Startgutscheinfall“ entschied das Gericht jedoch gegen den Online-Buchhändler und verbot diese Art des Preisdumping. Was aber, wenn die Gutscheine nicht vom Händler selbst, sondern von anderen Firmen aus Werbezwecken finanziert werden? Hier brachten gleich mehrere Fälle die Köpfe von Deutschlands Richtern zum rauchen. Ein Beispiel ist das der Firma Studibooks, die 10 % des Kaufpreises ihrer Fachbücher von Unternehmen finanzieren ließ. Auch hier fiel die Entscheidung des Gerichts zuungunsten des Händlers aus. Die richterliche Begründung lautete, dass Studibooks zwar letztendlich den festgelegten Preis der Bücher erhalte, jedoch durch die Erwähnung auf der Homepage des Buchhändlers ein Werbeeffekt für die Unterstützerfirmen entstehe. Das Geld für diese Werbung hatte Studibooks von den Firmen nie erhalten. Dementsprechend müsste der Buchhändler die Werbekosten zusätzlich zu den 10 % des Buchpreises von den Unternehmen verlangen. Das aber war nicht geschehen.

Die Schleichwege der Händler sind gut getarnt. Gerade für Kunden dürfte es schwierig sein, ihnen auf die Fährte zu kommen. Die mit der Überwachung der Preisbindung beauftragten Preisbindungstreuhänder sind der Meinung, dass entscheidend sei, ob der Kunde im Angebot des Händlers eine Vergünstigung erkenne. So nämlich schafft sich der Verkäufer einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen. Genau das soll das Gesetz aber ausschließen.

Größe vs. Innovation?

Buchpreisbindung – der Beschützer der Kleinen und Schwachen? Das sehen nicht alle so. Philip Karger ist ehemaliger Geschäftsführer einer Schweizer Buchhandlung. Kleinen Buchhändlern nützt eine Preisbindung seiner Meinung nach nichts. Die Chancen, die sich ohne das Gesetz gerade für kleine Händler auftun, sieht er in der Innovativität der Unternehmer. Der Marketingexperte Leander Watting betrachtet die Preisbindung gerade für den Online-Markt sogar als Gefahr. Karger prognostiziert derweil, dass in fünf bis zehn Jahren 75 % des Buchmarkts elektronisch sein werden. Eine ähnliche Entwicklung, wie wir sie in den letzten Jahren in der Musikbranche erlebt haben.

Den unerschütterlichen Liebhabern von Papiergeruch, rauen Seiten unter den Fingern und Eselsohren, die die Geschichte von Jahren der wiederholten Lektüre erzählen, dürften an dieser Stelle die Tränen kommen. E-Books machen inzwischen 35 % von Amazons Buchverkäufen aus. Die Reader machen digitalisierte Bücher in Sekundenschnelle abrufbar. Dateien sind wesentlich günstiger als gedruckte Bücher. Gerade Amazon bietet unbekannten Autoren die Möglichkeit ihre Werke auf diesem Weg als so genannte „Direct Publisher“ zu veröffentlichen. Das wird auch Konsequenzen für die Buchpreise haben. Jüngst bot der Berliner Verlag “Berlin Story” ein E-Book kostenlos zum Download an – und die Kunden konnten den Betrag spenden, den ihnen das Buch wert war. Doch genau das wurde verboten – wegen der Buchpreisbindung.

Das Internet öffnet viele Türen und ermöglicht uns immer wieder neue Vertriebswege. Was man in Deutschland nicht bekommt, kann man sich im Internet von ausländischen Anbietern besorgen – und dann vielleicht auch ohne Buchpreisbindung. Diese Entwicklung kann man nicht aufhalten, stattdessen müssen sich die Verlage fragen, wie sie auf die Digitalisierung reagieren. Am 23. April ist Welttag des Buches. Vielleicht ein Anlass für jeden sich ganz persönlich die Frage zu stellen: Wie viel sind mir Bücher eigentlich wert?

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 20.04.2012 auf media-bubble.de.

Busch, Nicolai: Ich poste, also bin ich, 11.10.2013

Das Streben nach digitaler Unsterblichkeit im Netz ist groß. Eine Facebook-App macht es jetzt möglich, über den eigenen Tod hinaus mit Angehörigen zu kommunizieren. Es ist höchste Zeit, für ein Recht auf Vergessen im Internet einzustehen.

Totgeglaubte leben länger

M. ist gestorben. M.’s Tod kam für ihn selbst nicht überraschend. Die Krankheit hatte sich vor Jahren schon als unheilbar erwiesen. Freunde und Verwandte wollen es trotzdem nicht wahrhaben, verspüren Sinnleere und Zukunftsangst, können nicht schlafen und haben keinen Appetit. Verlassenheits- und Schuldgefühle bestimmen den Alltag. Erst nach vielen Monaten lässt sie der Gedanke an M. weniger verzweifeln. Das Hier und Jetzt scheint wieder greifbar. Neue Beziehungen machen die Zukunft wieder sinnvoll. Doch plötzlich erscheinen Postings und Videobotschaften von M. auf M.’s Facebook-Pinnwand.

Die Geister, die ich rief, werd’ ich nun nicht los

Ein makaberer, pietätloser Scherz? Nein, denn M. hat zu Lebzeiten dem sozialen Netzwerk Dead Social den Auftrag erteilt, eigenverfasste Nachrichten posthum auf Facebook und Twitter zu veröffentlichen. Jede Woche erreicht die Hinterbliebenen eine Nachricht, ein Video oder ein Foto. M. ist wieder präsent – er ist unsterblich. Dass jede Beziehung vergänglich ist und dass Verluste nach bewältigter Trauer ein neues Leben in sich bergen, daran hat M.  damals nicht gedacht. Der verstorbene, “innere Begleiter“ nimmt wieder Raum ein im Leben der Überlebenden. Einen Raum, dessen Aussehen und Grenzen der Tote Dank Dead Social selbstbestimmt. Er fordert Beschäftigung und besteht darauf, nicht verdrängt zu werden. Glück oder Wahnsinn? Eines ist sicher: Die schwere Last der Trauer, sie ist jetzt wieder spürbar und wird es vorerst bleiben.

If I die, eine Facebook-App zur Sicherung der eigenen, digitalen Unsterblichkeit, Virtuelle Friedhöfe, oder gar die automatische Vererbung digitaler Daten, sind heute gefragter denn je. Niemand möchte schließlich vergessen werden. Solange das digitale Herz schlägt, sehnt sich der narzisstische Social-Networker nach der Einmaligkeit und Exklusivität des persönlichen Profils. Er stilisiert sich, inszeniert sich und muss doch erkennen, dass es beinahe unmöglich ist und bleibt, sich die absolute Aufmerksamkeit der grenzenlosen Netzwelt einzufordern. Denn in den Informationsfluten sozialer Netzwerke versteckt sich abermals ein unauflösbarer Widerspruch: Jeder will unsterblich sein, aber niemand will sich ewig erinnern.

Vergessen ist existenziell

Menschen wollen vergessen und Menschen müssen vergessen, solange sie sich als wandelbare Persönlichkeiten begreifen. Die allumfassende Erhaltung eines Zustandes macht keinen Sinn, solange wir uns geistig entwickeln, Neues erfahren und dem Vergangenen glücklich gedenken wollen. Eben aus diesen Gründen verbannte die klassische Moderne den Tod aus dem Leben. Auf städtischen Friedhöfen ließ man anonyme Urnenhaine mit weiten, namenlosen Rasenflächen anlegen. Die Beerdigung als große, aufwendige Zeremonie wurde seltener, der “einfache Abtrag“ immer häufiger, wie der Sozial- und Kulturhistoriker Norbert Fischer bemerkt.

Erst die Postmoderne nimmt den Toten in den digitalen Alltag auf. Zwar verschluckt sie das lebende Subjekt, doch durch den Tod verhilft sie dem ungehörten Einzelnen wieder zu etwas Aufsehen und durchaus zweifelhafter Aufmerksamkeit. Obwohl man die eigene Paranoia um den Missbrauch von Nutzerdaten durch Facebook und Co. täglich pflegt, hat man sich doch an die maximale, unabänderliche Transparenz im Internet gewöhnt. Das Geheimnis im Netz ist keines mehr. Und vielleicht gelingt es allein dem toten bzw. unsterblichen User, unsere Sehnsucht nach digitaler Intimität durch seine Albernheit bis in alle Ewigkeit zu wecken.

Was bilden wir uns eigentlich ein?

Denn als albern darf man die digitalen Bestatter und Wiederbelebten in gewisser Hinsicht durchaus bezeichnen. Sie gehören jener Gattung an, die Sascha Lobo erst kürzlich als die des digitalen Spießers bezeichnete, einem Zeitgenossen, dem das Internet ausschließlich zur eigenen Selbstbestätigung dient. Es sind jene, die selbst noch im Moment des Todes nach digitalem Größenwahn trachten und ihren Computer deshalb zum Träger pseudo-religiöser Erwartungen erklären. Dabei ist „die Selbstbesinnung des Individuums doch nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens“, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer einmal schrieb.

Selbstverständlich ist es allein die berechtigte Furcht vor dem Tod, die zu derartiger, digitaler Großspurigkeit einlädt. Glaubt man dem Futorologen Dr. Ian Pearson, sollte es im Jahre 2050 gar möglich sein, menschliches Bewusstsein vollständig digital zu speichern. Bis dahin bleibt wohl genug Zeit, um entweder weiter fleißig digitale Grabsteine zu liken, oder sich die Frage zu stellen: Wie wird es in Zukunft möglich sein, tausende tote, digitale Identitäten endgültig zu löschen? Denn nur so kann verdrängt werden, was verdrängt werden muss.

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 12. Juni 2012 auf media-bubble.de.

Das Geheimnis hinter der Maske

Besprochen von Nicolai Busch

  • The Dark Knight Rises, Regie: Christopher Nolan, Produktion: USA, Großbritannien, Laufzeit: 165 Minuten.

Es ist sicher kaum möglich, “The Dark Knight Rises“ zu sehen, ohne an Christopher Nolans zweiten Teil der Batman-Triologie zu denken. Wer den 2008 erschienenen Vorgänger erlebt hat, erinnert sich vor allem an eines sehr genau: Ein von tiefen Narben geziertes, weiß-rot geschminktes Gesicht mit grün gefärbten Haaren und gelben Zähnen, flatternde Spielkarten mit Hofnarren darauf und grässlich schallendes Gelächter. In seiner vielleicht brillantesten Rolle als Joker bleibt Heath Ledger für viele unvergessen.

Rückblick – der Joker – das authentische Böse

Auch wer Nolans neuen Batman sieht, wird sich an die Figur des Jokers erinnern müssen. Gerade weil der Joker jenen Typus des bösartigen Widersachers darstellt, den man in “TDKR“ schmerzlich vermisst. Man vermisst den Widerling, der Batman, einen Superhelden, mit durchaus fragwürdigen Motiven und zwiespältiger Identität in den Selbstzweifel treibt. Man vermisst das authentische Böse, das der versnobten Gesellschaft Gothams einen Spiegel vorhält, um sie schließlich ihrer Lügen zu strafen. Und seien wir ehrlich – eine Comic-Geschichte, in der der Held die kriminellen Folgen eines ausufernden kapitalistischen Systems bekämpft, zu welchen er als überaus wohlhabender Unternehmer theoretisch selbst beiträgt, lässt einen Bösewicht vermissen, der diesem Helden seine alberne Maske entreißt. In Erinnerung ist uns Heath Ledger in seiner großartigen Rolle vor allem geblieben, weil wir als Zuschauer erkennen mussten, dass das Böse als lustig geschminkter Psychopath funktioniert, während das Gute Gothams im schwarzen Multifunktionsoverall nur einen halbwegs authentischen Eindruck vermittelt.

Batman – Die irritierende Zwiespältigkeit des Guten

In Nolans aktuellstem Meisterwerk fehlt dieser “Alles-entlarvende-Widersacher“ nicht nur vollständig, er scheint in einer Welt, in der man „nicht mehr neu anfangen kann“, wie Selina Kyle alias Catwoman im Film bald bekennt, auch nicht länger notwendig. Es braucht den entlarvenden Widersacher nicht, weil im letzten Teil der Trilogie die Lüge nicht aus dem Handeln einzelner Personen resultiert. Im neusten Batman-Film ist die Lüge, welche die Gesellschaft vor dem Chaos bewahrt, eine viel größere – ja, eine systemimmanente. Wir erinnern uns, dass es in “TDK“ dem Helden primär darum ging, Verantwortung für das Morden des allerorts geachteten Staatsanwalts Harvey Dent zu übernehmen, um das öffentliche Ansehen und das Moralverständnis der Bürger Gothams nicht zu gefährden. Im aktuellsten Werk Christopher Nolans scheint dieselbe Moral der Menschen nun allein von der Erhaltung eines sich auch außerfilmisch in der Legitimationskrise befindenden Finanzsystems abhängig. In “TDKR“ ist es nicht die Moral und auch nicht das Leben, es ist das kapitalistische System, an das sich der Held und die Bewohner Gothams klammern, während der Bösewicht Bane mit der atomaren Vernichtung Gothams droht. Und es ist der Milliardär Bruce Wayne, der als Märtyrer lieber selbst draufginge, als dass eine bürgerliche Revolution die Welt auslöscht und damit den amerikanischen Liberalismus beendet.

Die Apokalypse als einzige Lösung der Systemkrise im Film

Was die im neuen Batman stattfindende, sozialistische Revolution selbst betrifft, so bedeutet diese scheinbar nicht mehr und nicht weniger als die ultimative Zerstörung Gothams und damit die Zerstörung jeder möglichen Form eines gesellschaftlichem Systems. Schnell wird deutlich: In Nolans letztem Streich ist der Feind nur ein hoffnungsloser, sozialistischer Terrorist, dem die Zerstörung allen Lebens näher liegt, als irgendeine neue, gesellschaftliche Ordnung zu etablieren oder das alte System zu reformieren. Schon der Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Zizek hat 2005 darauf aufmerksam gemacht, dass es Hollywood heute näher liegt, den Planeten Erde durch einen fiktiven Kometen oder einen Virus in Schutt und Asche zu legen, als den Weg aus der Systemkrise, oder eine Debatte konträrer politisch-wirtschaftlicher Vorstellungen spannend zu inszenieren. Der seit jeher beliebte Endzeitfilm liegt wieder voll im Trend, auch weil die westliche Bevölkerung kontinuierlich jegliche Hoffnung auf eine politische Lösung der Krise verliert.

Das Motiv der Maske bei Brecht und Nolan

Das war nicht immer so: Vor langer Zeit vertrat einmal ein deutscher Dramatiker die Vorstellung, ein Schauspiel müsse die Zuschauer dazu bewegen, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Dieser Dramatiker ließ seine Schauspieler bewusst aus der Rolle fallen und veranlasste sie unter anderem dazu Masken zu tragen, was einen kritischen Abstand zwischen Zuschauer und Figur zur Folge haben sollte. Die Rede ist selbstverständlich von Bertolt Brecht und dessen Idee des epischen Theaters. Anders als bei Brecht dient die Maske im Hollywoodfilm nur scheinbar der Verfremdung der Figur und viel eher der Verfremdung einer durch die Figur verinnerlichten Ideologie. Bei Nolan scheint der sympathische Milliardär Bruce Wayne so sehr mit der kapitalistischen Idee verhaftet, dass es für den Zuschauer unmöglich wird, jener Idee noch kritisch entgegenzutreten. Wenn in “TDKR“ der maskierte Held die Welt rettet, verliert sich die kritische Distanz des Zuschauers in der tragischen Darbietung eines in jedem Fall unausweichlichen und unveränderbaren Schicksals. Im Moment da Gotham die Auslöschung droht, spielen auch der soziale Kontext und die wahren Motive des die Menschheit rettenden Finanzjongleurs genauso wenig eine Rolle, wie jene des Widersachers und Revolutionärs Bane. Im Moment des Abspanns zählt allein die Freude über das gerade erlebte, 250 Millionen Dollar teure Actionabenteuer. Und erst wenn im Kinosaal das Licht angeht, kommt dem ein oder anderen vielleicht der Gedanke an eine großartige These des Philosophen Guy Debord: „Das Spektakel ist das Kapital in einem solchen Grad der Anhäufung, dass es zum Bilde wird.“

 

Diese Rezension erschien zuerst am 9. August 2012 auf media-bubble.de.

Thiel, Pascal: Internet und Meinungsfreiheit im Lichte der UN, 11.10.2013

Paris, Palais de Chaillot, am 10. Dezember 1948: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet mit Resolution RES 217 A (III) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UDHR). In 30 Artikeln hatte eine Menschenrechtskommission um US-Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt zuvor ein Paket international konsensueller Menschenrechte formuliert. Im Laufe der Jahre durch einige Übereinkommen erweitert, gilt sie als Grundlage der UN-Menschenrechtsarbeit.

In Artikel 19 der Erklärung ist die freie Meinungsäußerung (= Meinungsfreiheit) festgeschrieben. Dort heißt es:

Everyone has the right to freedom of opinion and expression; this right includes freedom to hold opinions without interference and to seek, receive and impart information and ideas through any media and regardless of frontiers.

Im Lichte unserer heutigen Zeit, dem digitalen, dem Internetzeitalter, eine Formulierung mit Weitsicht. Denn der Artikel schreibt Meinungsfreiheit in jedem Kommunikationsmedium vor: Somit auch im Internet.

Freie Meinung im Internet

Dass das Internet ein zweischneidiges Schwert ist, brachte 2011 auf einer Podiumsdiskussion des UN-Menschenrechtsrats Norwegen auf den Punkt. Einerseits bescheinigte der skandinavische Staat dem Internet einen „unglaublichen Mobilisierungseffekt“, andererseits zeigte es sich besorgt vom Potential desselben, „Menschenrechte zu untergraben“.

Ersteres wird vor allem durch drei Säulen ermöglicht: Die Information durch das Internet, der Ausdruck im Internet und die Organisation über das Internet. Die Bündelung dieser Faktoren findet in sozialen Netzwerken statt. Es ergeben sich neue Möglichkeiten zur Wahrnehmung der Äußerungs- und Meinungsfreiheit.

Beispiel Ägypten: Noch in den Wirren der Revolution entsteht der Begriff „Facebookrevolution“. Glaubt man dem Blogger und Journalisten Richard Gutjahr, der Anfang 2011 selbst in Kairo weilte, boten soziale Netzwerke wie Facebook oder MSN vor allem Jugendlichen eine gute Möglichkeit, den jahrzehntelang aufgestauten Unmut zu kanalisieren: „[Die Jugendlichen] lösen sich von der Mundpropaganda und verschieben sich zugunsten digitaler Chaträume und Internet-Netzwerke.“ Zwar fällt die Revolution nicht allein auf soziale Medien zurück, dennoch habe es „die schnelle Ausbreitung der Proteste […] ohne die Netzwerke wohl nicht gegeben.“

Auch die Vereinten Nationen haben diese Entwicklung erkannt. Der UN-Sonderberichterstatter zur Förderung und des Schutzes des Rechts auf freie Meinungsäußerung Frank La Rue beschreibt das Internet in einem Bericht (A/HRC/17/27) vom 16. Mai 2011 vor dem Menschenrechtsrat als „entscheidendes Mittel“ (§ 20) bei der Wahrnehmung des Rechts zur freien Meinung und Meinungsäußerung.

Probleme

Im gleichen Atemzug warnt La Rue doch auch vor zwei zentralen Problemen bezüglich des Internets: vor dem oftmals nicht vorhandenen Zugang zum Internet bzw. die Inexistenz einer Infrastruktur zur Nutzung des Internets und das Problem inhaltsbezogener Restriktionen von staatlicher Seite.

Gerade in Entwicklungsländern seien die Menschen bei der Internetnutzung oftmals mit Hindernissen konfrontiert, so UN-Sonderberichterstatter La Rue. Auch daher bilden die Entwicklungsländer die Kerngruppe der „Feinde des Internets 2012“ von  „Reporter ohne Grenzen“ (ROG). Mit Weißrussland, China, Iran, Saudi Arabien, Syrien, Turkmenistan, Usbekistan und Vietnam sind acht von zehn der „Feinde des Internets“ Entwicklungsländer. Als besonders bedenklich gelten der Iran und China, da in diesen Staaten die Internetüberwachung zusehends intensiviert wird.

Gerade China fiel in der Vergangenheit immer wieder mit Negativschlagzeilen auf – zudem befindet sich das Land seit Jahren mit Google in einem Streit, der seit 2010 durch das einstweilige Zerwürfnis der Volksrepublik mit dem Internetkonzern geprägt ist. Damals hatte Google China vorgeworfen, E-Mail-Konten von Gmail-Nutzern gehackt zu haben.

Während in vielen Ländern die staatliche Regulierung des Internets kontrovers diskutiert wird, ist dies in mindestens ebenso vielen Ländern Realität: Diese inhaltsbezogenen Restriktionen sind  zumeist nicht ausreichend legitimiert, sondern basieren auf willkürlich bis rechtswidrig beschlossenen Gesetzen.

Dies und mehr kritisiert UN-Sonderberichterstatter La Rue in seinem Bericht. Doch auch die oftmals fehlende Transparenz bei der staatlich durchgeführten Sperrung von Internetseiten ist ihm ein Dorn im Auge. Als besorgniserregend erachtet er zudem die Schaffung neuer Gesetze, die einerseits den Ausdruck im Internet nachträglich als kriminell erklären und andererseits „vorsorglich“ die Meinungsfreiheit im Internet einschränken. Außerdem kritisiert er verstärkt stattfindende Eingriffe von Staaten in die Arbeit von Intermediären. Intermediäre sind private, digitale „Organisationen“, die Intermediationsfunktionen wahrnehmen, das heißt ähnlich einer Agentur dem Internetnutzer Dienstleistungen vermitteln.

Weiterhin verurteilt der Sonderberichterstatter die Unterbrechung des Internetzugangs in vielen Staaten als eklatante Verletzung von Art. 19 UDHR. La Rue zeigt sich zudem besorgt über die Zunahme von Cyber-Angriffen: Es sei die Pflicht eines jeden Staates, seine Bürger vor digitalen Angriffen Dritter zu schützen, insbesondere bei Gefährdung der Meinungsfreiheit. Zudem komme es dadurch immer wieder zu Verletzungen des Rechts auf Privatsphäre.

Noch viel zu tun

Zusammenfassend ist festzuhalten: Ist die Internetfreiheit nicht gegeben, so kann keine Meinungsfreiheit über das Internet wahrgenommen werden – und der Mensch ist somit in seiner Handlungsfreiheit nach der UDHR eingeschränkt.

Das Internet Governance Forum (IGF) in Nairobi, Kenia, 2011, bezeichnete das Internet als „Raum mit begrenzter Regulation“. Doch wie das erreicht werden kann, steht weiter in den Sternen: Auf konkrete Lösungswege wartet man bislang noch.

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 26. Oktober 2012 auf media-bubble.de.

P.D. James – Der Tod kommt nach Pemberley

Besprochen von Pia Klein

  • P.D. James: Der Tod kommt nach Pemberley. Kriminalroman. Droemer 2013. 384 Seiten, 19,99 Euro.

Die bekannte Krimiautorin P.D. James wagt sich an daran, „Stolz und Vorurteil“, den Klassiker von  Jane Austen, weiterzuschreiben. Ein Unterfangen, welches bekanntermaßen nicht im Sinne Austens gewesen wäre, hat die doch in ihrem Roman „Northanger Abbey“ unmissverständlich klargemacht, dass sie von Schauergeschichten überhaupt nichts hält. Dennoch kommt bei James der Tod nach Pemberley.

Einige Jahre sind vergangen, seit die Schwestern Elizabeth und Jane Bennet einen Mann fürs Leben gefunden haben. Während eines stürmischen Herbstes steht der alljährliche Ball Lady Annes vor der Tür, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Plötzlich fallen Schüsse im Wald. Die Jüngste der Bennet-Schwestern, Lydia, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Es gibt einen Toten, und jemand muss ins Gefängnis. Es bleiben Fragen: War es Wickhams Schuld? Was stimmt nicht mit dem Haus im Wald? Wen wird Darcys Schwester  Giorgiana heiraten? Und welches Geheimnis haben die Eheleute Lizzy und Mr. Darcy vor einander? Es gibt viele Indizien, aber Beweise leider keine. Nur wer die Lektüre bis zum letzten Kapitel durchhält, bekommt die Antworten.

Die Autorin beginnt mit einer Zusammenfassung für Nicht-Austen-Kenner, bei der die moderne Krimiautorin wunderbar den Ton ihres Vorbildes trifft. Die dann folgende Krimigeschichte aber entwickelt sich enttäuschend. Zunächst hat man den Eindruck, Lizzy würde sich wie Miss Marple auf die Suche nach dem Mörder machen, der ihr kleines Paradies in Gefahr bringt. Doch stattdessen wird die Gedankenwelt ihres Gatten, Mr. Darcy, ausgebreitet. Schließlich liegt die Lösung des Rätsels bei der Herkunft eines unehelichen Kindes, das bei den Protagonisten des Jane Austen-Romans „Emma“ ein neues Zuhause findet.

P.D. James ist sichtlich bemüht, den Stil des großen Vorbilds zu erreichen. Dies gelingt ihr aber nur zu Beginn des Romans. Was dann folgt, sind Verwicklungen, die den Leser seltsam unberührt lassen, weil es ihr nicht gelingt, das Seelenleben ihrer Figuren glaubhaft zu schildern. Die Charaktere sind zwar zahlreich, aber farblos. Insgesamt funktioniert „Der Tod kommt nach Pemberley“ weder als Krimi noch als Fortsetzung eines Klassikers.

Die fiktive Realität. Dr. Christian Hißnauer im Gespräch mit Alexander Karl, 09.10.2013

Egal ob Doku-Soap oder Reportage – Dokumentationen in allen erdenklichen Facetten flimmern tagtäglich über die Bildschirme. Doch eines zeichnet sie alle aus: Sie enthalten immer auch Fiktion. Ausführlich hat sich Dr. Christian Hißnauer, Jahrgang 1973, mit den diversen Doku-Formaten beschäftigt und promovierte 2010 mit seiner Arbeit über „Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen“ an der Universität Göttingen. Heute ist er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.

Alexander Karl sprach mit ihm über die Fiktion in Dokumentationen, die Darstellung der RAF und Daniela Katzenberger.

Herr Hißnauer, für Sie zählen auch Reality-TV-Formate wie Big Brother zur Dokumentation. Worin liegt das wissenschaftliche Interesse, Formate wie “Big Brother” und “Daniela Katzenberger – Natürlich blond” zu untersuchen?

Christian Hißnauer: Es gibt unterschiedliche Ansätze, mit denen man die diversen dokumentarischen Formate bewerten kann. Bei einer Reportage lassen sich journalismusethische Maßstäbe anlegen, anhand derer auch bewertet werden kann. Das ist bei “Big Brother” und “Daniela Katzenberger – Natürlich blond” anders. Hier greifen keine journalistischen Standards, es geht nur um Unterhaltung. Da wird beispielsweise Daniela Katzenberger in allerlei Situationen gezeigt und wie sie darauf reagiert. Etwa, wie sie sich ihre Brüste neu machen lässt. Das kann man unterhaltsam finden oder nicht, aber mehr will dieses Format nicht. Eine klassische Dokumentation über Brustvergrößerung würde hingegen viel mehr Hintergrundberichte bringen und auch das Kriterium der faktischen Richtigkeit würde eine Rolle spielen. Das ist bei Daniela Katzenberger vollkommen egal. Im Zweifelsfalle sogar, ob sie sich die Brüste hat machen lassen oder nicht.

Egal ob Doku-Soap, Reality-TV oder klassische Reportage: In all diesen Formaten schaut man Menschen – ob Schauspieler oder nicht – zu. Man bekommt Einblicke in ihre Lebenswelt. Hat Dokumentarismus auch immer etwas mit Voyeurismus zu tun?

Die Frage ist: Wo fängt Voyeurismus an? Wenn eine Sozialreportage Einblicke in fremde Lebensbereiche gibt, besteht immer die Gefahr, dass es voyeuristisch wird. Es kommt auf den Standpunkt an, aber auch auf die Inszenierung. Wenn bei Reality-TV-Programmen nur Höhepunkte aneinander gereiht werden, dann wirkt es schneller voyeuristischer als in einer klassischen Reportage, in der die Protagonisten ausführlich zu Wort kommen. Letztendlich zeigt man aber durchaus die gleichen Sachen.

Sie sagen, dass Dokumentationen immer fiktionale Aspekte enthalten.

Ja, bei jeder Art von Dokumentation spielt der Autor mit fiktionalen Aspekten – und das auf ganz verschiedenen Arten. Ein Beispiel: Als Autor legt man den Anfangspunkt und den Endpunkt einer Geschichte fest. Genauso die Zwischenschritte. Damit suggeriert man als Autor, dass alles Wichtige erzählt wurde. Alles, was ausgeblendet wird, wird somit automatisch zum Nicht-Wichtigen. Für den Protagonisten, den man darstellt, kann das ganz anders aussehen. Ganz stark hat man das bei Eberhard Fechner, der aus ganz verschiedenen Interviews einen Film zusammensetzt. Dabei schneidet er die Menschen so zusammen, als würden sie miteinander reden. Und das, obwohl die Interviews vielleicht tausende von Kilometern voneinander entfernt aufgenommen wurden. Das ist erfundene Geschichte auf der Basis von Fakten, weil das Erzählte die Schöpfung des Autors ist.

Dokumentarismus umfasst also ein weites Feld. Doch wenn der Dokumentarismus-Begriff so stark zwischen Realität und Fiktion schwankt – warum entscheidet man sich dann, ein Buch über Fernsehdokumentarismus zu schreiben?

Zum einen ist das Thema auch dadurch spannend und es gibt bisher wenig Literatur zum Fernsehdokumentarismus. Zum anderen haben wir täglich mit Dokumentationen und Doku-Soaps zu tun, die mal mehr oder weniger erfunden sind. Die Frage ist also: Wie unterscheiden sich die Formate? Wie geht der Zuschauer damit um?

Der Zuschauer scheint vor allem in den letzten Jahren sein Gefallen an Doku-Soaps, wie eben “Daniela Katzenberger – Natürlich blond“, gefunden zu haben.

Das stimmt, sie sind ja auch oft krawallig. Aber man muss davon ausgehen, dass es verschiedene Nutzungsmotive gibt. Einige Zuschauer erheben sich über die Formate und verstehen, dass die Sendung gefaked ist. Andere erhoffen sich tatsächlich Lebensberatung von “Raus aus den Schulden“. Das ist nicht neu, sondern gab es auch schon bei den Daily-Talkshows in den 1990er Jahren.

Fernab von Daniela Katzenberger und Co. beschäftigen Sie sich auch intensiv mit der Geschichte und Darstellung der RAF. Warum setzen Sie sich – wie auch die deutsche Fernsehlandschaft – so intensiv mit diesem Thema auseinander?

Es gibt unheimlich viele Filme und Dokumentationen, die sich mit der RAF beschäftigen. Mir geht es darum, wie über die Medien Geschichtsbilder erzeugt werden. Und die verändern sich. Jede Generation macht sich sein eigenes Bild von der RAF, genauso wie auch von Hitler.

Was bedeutet das konkret?

Wir haben heute andere Filme zu diesen Themen als vor zwanzig Jahren. Die Aussagen sind auch andere. Beispielsweise die Landshut-Entführung von 1977 in Mogadischu: Wenn wir Dokumentationen aus den siebziger oder achtziger Jahren sehen, wird dies gerahmt in dem Thema des palästinensischen und internationalen Terrorismus. Damals spielte die RAF wenn überhaupt nur am Rande eine Rolle. Heute tritt die Rahmung in dem Bild des internationalen Terrorismus zurück. Stattdessen wird die Landshut-Entführung als eine Hilfsaktion für die RAF dargestellt, sogar teilweise so, als hätte die RAF dies in Auftrag gegeben – was wohl so nicht ganz stimmt. Damit werden nicht nur die Entführung, sondern auch ihre Opfer der RAF zugeschrieben. Das bekannte Ziel der RAF waren staatliche Repräsentanten und Wirtschaftsbosse. Jetzt ist es die ganz normale Bevölkerung, jeder Urlaubsflieger hätte ein Opfer werden können. Und durch die neuen Opferbilder entstehen auch neue Geschichtsbilder.

Kann man davon ausgehen, dass auch die NSU bald so ausführlich behandelt wird?

Bei der NSU verhält es sich anders, alleine schon durch die Opferstruktur. Momentan richtet sich der Fokus ganz stark auf das Versagen des Staates, was übrigens auch im ganzen RAF-Diskurs keine Rolle mehr spielt. Wir wissen etwa, dass die ersten Waffen damals vom Verfassungsschutz in die Szene gebracht worden sind. Es wird immer gesagt, dass die Terroristen reden sollten. Aber auch der Verfassungsschutz sollte hier – ähnlich wie beim NSU – sein Schweigen aufgeben. Übrigens fehlt heute im RAF-Diskurs ein Opferbild – nämlich jene, die unschuldig bei Hausdurchsuchungen oder Polizeikontrollen erschossenen worden sind. Davon gibt es mindestens fünf Menschen. Und das wird völlig tot geschwiegen.

Das Buch zum Interview: Hißnauer, Christian: Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen. UVK, 2011. 416 Seiten, 32,00 Euro.

 

Das Interview erschien zuerst am 21. November 2012 auf media-bubble.de.

„Coffeeshop“: Multimediales Erzählen in der ‚Literatur‘

Besprochen von Alexander Karl

Das ist der Literaturbranche bestimmt nicht Latte (Macchiato): Denn Coffeeshop von Gerlis Zillgens stellt einen Bruch mit den gängigen Buchkonventionen dar. Zunächst einmal ist es kein haptisches Buch, sondern eine E-Book-Serie mit 12 Episoden (wahlweise auch als Hörbuch oder als Read & Listen Version verfügbar). Darin erlebt die Sachensucherin Sandra die unterschiedlichsten Abenteuer mit ihren drei besten Freunden, deren zentraler Treffpunkt der „Coffeeshop“ ist, das Café ihres schwulen Freundes Captain. Allein die Episodenhaftigkeit und somit die strukturelle Anlehnung an TV-Serien mag für den Literaturbetrieb ungewöhnlich sein. Dabei stellt dies aber nur Basis-Version der Erzählung dar. Denn die „Coffeeshop“-App sorgt für ein kunterbuntes Story-Erlebnis.

Multimediale App

Multimedial wird Coffeeshop vor allem durch die App, die es parallel zu den anderen Produkten gibt: Jede der 12 Episoden in der App besteht nicht nur aus geschriebener Handlung, sondern reichert sie multimedial an. Kurze Filme greifen Handlungselemente auf, führen sie aus und kommentieren sie. Comicsequenzen zeigen die Gedanken der Protagonistin Sandra. Zudem werden Gespräche mit ihrem Vater auf rein auditiver Ebene eingebunden. Hinzu kommen weitere Elemente, um weiter in das „Coffeeshop“-Universum einzutauchen: Die Tagesgerichte des Coffeeshops lassen sich mittels der abrufbaren Rezepte nachkochen und Steckbriefe fassen die Eigenheiten der Protagonisten zusammen. Eine weitere Perspektive auf die Handlung wird durch die jeweils zur Episode passenden Kolumnen von Captain geboten. Hinzu kommen ein Spiel sowie Musik- und Büchertipps der Protagonistin, wobei letztere ins Web ausgelagert sind. Zusätzlich kann man sich die Episoden auch vorlesen lassen.

All das, was sonst transmedial ist

Mit dieser App geht Coffeeshop weit über das hinaus, was der Literaturliebhaber alter Couleur kennt: Statt ‚nur‘ gedruckte Worte auf Papier zu liefern, schafft Coffeeshop ein multimediales Erlebnis, das weit über die eigentliche Buchlektüre hinausgeht und innerhalb einer App all das versammelt, was in TV-Serien sonst gerne transmedial ausgelagert wird. Etwa bei der Erfolgsserie Breaking Bad, die online mit den Blogs der Figuren Marie und Hank sowie Graphic Novel Games und einigen Minisoden aufwartet – wie Jason Mittell in seinem online vorab publizierten Buch Complex TV : The Poetics of Contemporary Television Storytelling beschreibt, dienen die transmedialen Erzählungen von Breaking Bad vor allem dazu, den (Neben-)Figuren zusätzliche Tiefe zu verleihen. Ähnliches lässt sich auch bei Coffeeshop mit der Kolumne von Captain feststellen, da die eigentlichen Episoden aus Sandras Ich-Perspektive erzählt werden. Und auch die kurzen Videos ermöglichen Kommentare der weiteren Hauptdarsteller und Nebenfiguren, etwa Sandras Eltern.

Doch wie neu ist dieses Vorgehen? „Coffeeshop ist ein multimediales Projekt, bei dem erstmals ein Verlag und eine Filmproduktionsfirma zusammenarbeiten und ihre Stärken in einer neuen Form des Storytellings verbinden“, heißt es in einer Presseinformation.

Mehr noch: Coffeeshop stellt ein Beispiel für Paradigmenwechsel der Buchwelt dar, die zusehends mit hochwertig produzierten (und komplexen) TV-Serien konkurrieren muss, die als Romane der Neuzeit gefeiert werden. Daher scheint es nur logisch, die Stärken der unterschiedlichen Medien zu vereinen und dadurch ein multimediales Gesamterlebnis zu schaffen.

 

Die Rezension erschien zuerst am 11. Juni 2013 auf media-bubble.de.

Paulette – Eine raubeinige Krimikomödie nach einer wahren Geschichte

Besprochen von Pia Klein

  • Paulette. Frankreich 2012. 87 Min. Regie: Jérôme Enrico. Mit Bernadette Lafont, Carmen Maura, Dominique Lavanant.

Die alte Paulette lebt in einem der berüchtigten Pariser Banlieues. Früher betrieb sie mit ihrem Mann ein Café. Nun ist der Mann gestorben. Das Café ist von Asiaten aufgekauft worden. Die Rente reicht hinten und vorne nicht. Paulette weiß sich aber mit Erfindungsreichtum und Schätzen aus den Müllcontainern zu helfen. Bis sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen kann und ihre komplette Wohnungseinrichtung gepfändet wird. In ihrer Verzweiflung eifert die alte Dame schließlich den Halbstarken im Viertel nach und wird eine Hasch-Dealerin. Darin ist sie bald so erfolgreich, dass sie den professionellen Drogenhändlern zur missliebigen Konkurrentin wird.

Die Ausländer haben ihr alles weggenommen. Darüber klagt sie bei ihrem Beichtvater, der zwar schwarz ist, es aber Paulette zufolge verdient hätte weiß zu sein. Schwarz ist auch der Mann, den ihre Tochter geheiratet hat. Doch der ist praktischerweise Polizist. Was liegt da näher, den Schwiegersohn auf dem Revier zu besuchen und ihm die Geheimnisse der Drogenfahndung zu entlocken? Ein brutaler Kontrast zum schwarzen Humor des Films ergibt sich, als Paulette von konkurrierenden Dealern zusammengeschlagen wird. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Regisseur Jérôme Enrico eine wahre Begebenheit erzählt. Das Ende kommt dennoch sehr aufgesetzt daher. Die neue Bilderbuchfamilie verkauft Haschkekse in Holland – ganz legal. Warum kauft die raffinierte Alte mit dem Geld aus der Dealerei nicht ihr Café von den Asiaten zurück?
Bernadette Lafont spielt die Charaktere der Paulette wunderbar griesgrämig überzeugend und ist die eigentliche Attraktion des Films. Ein würdiger Abschluss der Filmkarriere der im Juli 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Schauspielerin.

 

Oh Boy

Besprochen von Pauline Fois

  • Oh Boy. Deutschland 2012. Regie : Jan Ole Gerster. Mit : Tom Schilling, Frederike Kempter u.a. 88 min.

Niko hat sein Jura-Studium vor zwei Jahren abgebrochen, was sein Vater schließlich  entdeckt. Seine Freundin hat ihn verlassen. Er beschließt, nach Berlin zu ziehen. Der Kinozuschauer erlebt nun Nikos ersten Tag in der Hauptstadt. Sein Nachbar empfängt ihn mit einem selbstgemachten Kuchen und erzählt ihm weinend nach fünf Minuten von seinen Eheproblemen. In einem Café erkennt ihn eine Frau, die während der Schule in ihn verliebt war. Dann wird seine Karte vom Geldautomat verschluckt und er muss seinen Vater um Geld bitten. Es sind Alltagszenen, die scheinbar willkürlich aneinander gereiht werden. Sie werden aber immer tragischer.

Obwohl der Film in der Gegenwart spielt, ist er in Schwarzweiß gedreht. Diese nostalgische Stimmung wird verstärkt durch einen jazzigen Soundtrack. Der Film ist eine gelungene Mischung aus Tragödie und Komödie. Er schildert den Snobismus Berliner Lokalitäten, in dem es fast unmöglich ist, einen „normalen“ Kaffee zu bestellen. Am Ende lernt Niko in einem Café einen alten Mann kennen, der ihm sein Leid mit der neuen Zeit klagt. Die beiden verstehen sich gut, doch als der alte Mann das Café verlässt, trifft ihn der Schlag. Niko folgt ihm ins Krankenhaus. Aber da er kein Verwandter ist, erfährt er nicht einmal den Namen des gerade Verstorbenen.

Der Film ist gerade aufgrund seiner ruhigen Erzählweise interessant. Zeitweise vergisst man die Handlung über den schönen Bildern und der stimmungsvollen Musik. „Oh Boy“ ist ein Gegenentwurf zu den Erfordernissen unserer hektischen, erfolgsorientierten Zeit. Niko träumt von einem neuen Anfang in einer großen Stadt, in der niemand ihn kennt. Als Französin würde ich diesen  mit sechs „Lolas“ prämierten Film mehr empfehlen als „Lola rennt“. Selbst wenn Tykwers rasanter Kinoerfolg gut gemacht ist, hat er nicht die Tiefe von Gersters Film. Hat ein Erwachsener das Recht, ein Leben als Träumer zu führen? Sollte er nicht besser einen Job finden als vom Vermögen des Vaters zu leben? Während man mit „Lola rennt“ einfach eine gute Zeit hat, lädt „Oh Boy“ dazu ein, sich wie der Protagonist mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen.

Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Besprochen von Hans W. Giessen

  • Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 425 S., EUR 74,90.

Dass ich das Thema des Buches wichtig finde, wird bereits daran sichtbar, dass ich für besprochen@avinus bereits Texte zu Robert D. Putnam und zum Buch von Youssef Courbage und Emmanuel Todd geschrieben habe, die ähnliche Fragestellungen betreffen. Der Band von Courbage und Todd mit dem französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist eine direkte Reaktion auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996. Auch Christoph Antweiler beschäftigt sich mit diesen Fragen, und bis zu einem gewissen Grad ist auch sein Buch ein Rejoinder Huntingtons.

Dabei geht es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich mitunter mit Unverständnis gegenüberstehen, manchmal antagonistisch, und es sogar kulturell motivierte Terrorakte und Kriege gibt. Es geht darum, dass man Kulturen nicht auf ihre Gegensätze reduzieren kann. Denn es gibt auch zahlreiche anthropologische Konstanten beziehungsweise „Universalien“. Sie sind in der Realität immer wieder Brücken zwischen den Kulturen. Zudem wandeln sich Kulturen: Vom Wikinger zum heutigen Skandinavier war es ein weiter Weg, der offenbar innerhalb einer „Kultur“ zurückgelegt wurde. Es ist also falsch, Kulturen als unwandelbar und einander unverständlich darzustellen. Mehr noch: Es kann sogar gefährlich sein, denn das hieße ja, es wäre bestenfalls ein Nebeneinander möglich, schlimmstenfalls wären Krieg und Terror die einzigen Möglichkeiten des Kontakts, keineswegs aber wäre ein friedliches Miteinander auf der Erde denkbar.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade Ethnologen nur auf die Differenzen der verschiedenen Kulturen abstellen. Dafür gibt es viele prominente Beispiele, von Franz Boas bis Clifford Geertz. Gewiss, sie verstehen sich als empirische Wissenschaftler, und hier fällt eher das Unterschiedliche auf – das man sogar messen kann, wie es Geert Hofstede gemacht hat. Seine Ergebnisse sind das statistische Resultat von rund 100.000 Fragebögen. Diese Ergebnisse ermöglichen in der Tat ein besseres Verständnis kulturabhängigen Verhaltens.

Allerdings spielt menschliches Verhalten sich auf mehreren Ebenen ab, wie nicht zuletzt Hofstede selbst bestätigt. Jedes Individuum ist einzigartig und verhält sich in spezifischen Situationen so wie kein anderer Mensch sich verhalten würde. Dann gibt es in der Tat die Ebene der Kultur. Vergleichbar wichtige (und messbare) Ebenen sind aber auch soziale Stellung oder der weltanschauliche Kontext. Ich kann mich oft besser mit einem türkischen Universitätsangehörigen unterhalten (mit dem ich, trotz unterschiedlicher Kultur und Sprache, doch einiges an Erfahrung gemeinsam habe) als Mitgliedern des eigenen Kulturkreises, die aus einem ganz anderen Milieu stammen.

Schließlich gibt es eine weitere Ebene – ebenfalls von Hofstede bestätigt –  die von vielen Ethnologen aber offenbar ignoriert wird: diejenige anthropologischer Konstanten, das, „was allen Menschen gemein ist“, die „Universalien“, wie Christoph Antweiler sie nennt. „Was ist den Menschen gemeinsam?“ lautet der Titel seines Buches.

Christoph Antweiler wurde 1956 im Rheinland geboren, studierte in Köln Ethnologie, Paläontologe und Geologe und promovierte in Ethnologie. Seine Feldforschung hat er auf der indonesischen Insel Sulawesi durchgeführt; die dabei entstandene Studie arbeitete er zu seiner Kölner Habilitation aus. Zunächst hatte er den Ethnologie-Lehrstuhl an der Universität Trier inne, heute ist er an der Universität Bonn tätig. Inzwischen hat er sich zu einer der prominentesten Stimmen in Deutschland entwickelt, die nach Gemeinsamkeiten menschlichen Verhaltens trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen sucht.

Antweiler wehrt sich dagegen, dass „kulturelle Differenz gegenwärtig die globale Leitwährung des Denkens über Kultur“ ist und dass von einem „wieder erstarkten Denken von Kulturen als Kugeln, Monaden oder Containern“ geredet wird. Auch wenn diese Aussage ein wenig zu verallgemeinernd ist – in der Tendenz hat er bedauerlicherweise recht. Dennoch kippt Antweiler nicht ins andere Extrem. In der Einleitung macht der Autor deutlich, um was es ihm geht:

Autoren werden von Journalisten oft gebeten, ihr Buch in einem Satz zusammenzufassen. Angesichts dieses umfangreichen Buches gönne ich mir für diese Kurzformel drei Sätze: Es existiert eine enorme Vielzahl zwischen und innerhalb der Kulturen der Menschen, aber es gibt dennoch viele Phänomene, die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen. Diese Universalien sind teilweise in der Biologie des Menschen begründet, teils haben sie aber auch andere, soziale, kulturelle und systemische Ursachen. Wir brauchen Kenntnisse über Universalien für eine empirisch fundierte Humanwissenschaft und dieses Wissen ist auch praktisch relevant für realistische Lösungen menschlichen Zusammenlebens.

Antweiler will also die „Universalienforschung rehabilitieren“, indem er Universalität und Vielfalt zusammenbringt, „statt sie gegeneinander auszuspielen“, wobei sein Schwerpunkt bei den von den meisten Fachkollegen vernachlässigten Universalien liegt.

Der Einführung folgt ein historischer Überblick über das „Denken über Universalien“. Dabei überschreitet Antweiler wiederholt die Grenzen des Faches Ethnologie – sein Buch ist im besten Sinn interdisziplinär. Es behandelt entgegen der heutigen eindimensional ethnologischen Sicht „uralte Fragen zu Menschen und Kulturen“. Antweilers Spektrum reicht von der philosophischen Anthropologie (die nach dem „Wesen des Menschen“ fragt) bis hin zu Hofstedes ökonomischen Blick, dazwischen finden sich soziologische oder psychologische Ansätze. Auf dieser Grundlage gelingt es Christoph Antweiler, eine profunde Basis menschlicher Universalien zusammenstellen. Neben der sozialwissenschaftlichen und kulturellen Vorgehensweise richtet sich seine Aufmerksamkeit außerdem auf die „evolutionäre Erklärung“ (evolutionary explanation) als „dritte grundlegende Möglichkeit, Universalien zu erklären“. Ein Glossar, eine umfassende Bibliographie, ein Register mit Stichworten und Autorennamen sowie ein Anhang mit neun Universalienlisten runden das Werk ab.