Weber, Thomas: Über neuere Ansätze zum Grundeinkommen, 11.01.08

Der Vorschlag eines allgemeinen, bedingungslosen Grundeinkommens, das jedem Bürger zustehen und ihm eine Grundversorgung ermöglichen soll, wird von Kritikern gern als unfinanzierbar und unrealistisch verworfen.

Doch gerade in einer Zeit, in der die Nationalstaaten durch supranationale politische Organisationen und global organisierte Kapitalmärkte in ihrer Wirkungsmächtigkeit marginalisiert werden und angesichts eines drohenden (und auf Grund demographischer Faktoren, von Globalisierung und Rationalisierung schon seit Jahrzehnten abzusehenden) Kollapses der Sozialsysteme in Deutschland fragt es sich, ob man es sich heute überhaupt noch leisten kann, auf die Diskussion hierüber zu verzichten.

Die Ausgaben für die Rentenversicherung und die Arbeitsförderung haben sich seit 1991 fast verdoppelt, die Ausgaben für die Krankenversicherungen sowie die Sozial- und Jugendhilfe sind seither um rund 50 % gestiegen. Inzwischen ist weit über die Hälfte des Bundeshaushalts durch die verschiedenen Etatposten für Sozialausgaben festgelegt – Tendenz: dramatisch steigend.

Wurde nicht längst durch die Hintertür eine Art von kompliziert konditioniertem Grundeinkommen eingeführt, kontrolliert und verwaltet durch eine Sozialbürokratie wie z.B. der Bundesagentur für Arbeit, die– wie in den letzten Jahren bekannt wurde – nur 10% ihres Potentials überhaupt ihrer eigentlichen Aufgabe, der Vermittlung von Arbeit, widmet, und die nicht erst seit der Einführung von Hartz IV die Bürger mit z. T. aberwitzigen und ebenso ineffizienten Kontroll- und Bearbeitungsmaßnahmen traktiert? Die Effizienz des Systems darf bezweifelt werden. (So beklagt etwa der Bund der Steuerzahler Jahr für Jahr – alle Haushaltsposten zusammengenommen – rund 30 Mrd. EUR an Verschwendungen.)

Auch die Behauptung, dass der nächste Aufschwung schon Geld in die öffentlichen Kassen spülen werde und die Arbeitslosigkeit drastisch sinke, erscheint nach einem Blick auf die Statistik als Rechtfertigung ungeeignet (woran nunmehr drei Bundeskanzler – Schmidt, Kohl und Schröder – letzthin scheiterten): Zwar geht die Arbeitslosigkeit in Phasen des Aufschwungs kurzfristig etwas zurück, nimmt jedoch in der Tendenz mittel- und langfristig seit Jahrzehnten immer weiter zu.

Einer der Gründe hierfür ist sicher, dass der Faktor Arbeit (und vor allem der Faktor Arbeit) mit viel zu hohen Abgaben belastet wird, die kaum mehr erwirtschaftet werden können, schon gar nicht mit schlecht- oder unqualifizierten Jobs, deren Produktivität unterhalb der Rentablitätsschwelle liegt. Dies führt de facto zu einer fortschreitenden Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, die nicht mehr oder zumindest immer schlechter vertraglich abgesichert werden, um reguläre, sozialversicherungspflichtige (und damit teure) Arbeitsverträge zu vermeiden (auch Formen der Schwarzarbeit müssen hier genannt werden) – eine Entwicklung, an der der Staat sich trotz gegenteiliger Beteuerungen teilweise sogar selbst beteiligt.

Ordnungspolitische Vorstellungen, die eine Rückkehr zu traditionellen sozialversicherungspflichtigen Festanstellungen erzwingen wollen, blenden die Dynamik eines Systems aus, das einen „Rückwärtsgang“ nicht kennt.
Auch ein garantiertes Grundeinkommen stellt keine einfache Lösung der aktuellen Finanzierungsprobleme dar, da es kaum darum gehen kann, einfach nur mehr Geld zu fordern, das längst nicht mehr vorhanden ist. Wohl aber könnte es um Verteilungsgerechtigkeit und eine größere Effizienz des Systems gehen, die zugleich auch eine wirtschaftliche Dynamik entfaltet, die diesem Land seit Jahren abgeht.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen, gekoppelt mit einem einfacheren, auch für den Bürger überschaubaren Steuersystem und einem Ab- und Umbau der Bürokratie, wäre nicht nur ein Beitrag zu einer größeren sozialen Gerechtigkeit und einer angemessenen sozialen Absicherung, sondern auch zu einem effizienteren Wirtschaften, von dem gerade auch kleine und mittlere Unternehmen (in denen die meisten Arbeitsplätze entstehen) besonders profitieren würden.

Über die konkreten Wege und Umsetzungsmöglichkeiten eines Grundeinkommen kann und wird sicher im Einzelnen zu streiten sein.

Vorschläge reichen vom Bürgergeld über eine negative Einkommenssteuer bis hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen und werden inzwischen von zahlreichen, z. T. völlig unterschiedlichen Akteuren gefordert wie etwa von dem Kulturwissenschaftler und Direktor der Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin, Wolfgang Engler (www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=4901), oder dem Chef der Drogeriemarkt-Kette DM Götz Werner (www.unternimm-die-zukunft.de).

Weitere Hinweise zu dieser breit angelegten Debatte finden sich beispielsweise unter www.archiv-grundeinkommen.de, einer Website, die Links zu wichtigen Artikeln zum Themenfeld zusammengestellt hat und auch Kritiker eines Grundeinkommens nicht unerwähnt lässt. Spannend ist auch das Netzwerk Grundeinkommen (www.netzwerk-grundeinkommen.de), das vor allem politische Bündnisse zur Bekanntmachung und Durchsetzung eines Grundeinkommens voranbringen möchte und zuletzt im Oktober 2005 zusammen mit dem Österreichischen Netzwerk Grundeinkommen und sozialer Zusammenarbeit (www.grundeinkommen.at) und zahlreichen anderen Organisationen die Konferenz „Grundeinkommen – In Freiheit tätig sein“ (www.grundeinkommen2005.org) in Wien organisierte.

Die Debatte über ein Grundeinkommen wird nicht nur in nationalen Kontexten, sondern weltweit geführt (siehe dazu auch: http://www.etes.ucl.ac.be/BIEN/Index.html).

Hier im AVINUS Magazin stellen wir daher nicht nur das Vorwort (www.avinus.de/html/vorwort2.html) des 2002 erschienenen Bandes des Wiener Sozialwissenschaftlers Manfred Füllsack: Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommen vor, sondern die gleichfalls von Manfred Füllsack herausgegebene Sammlung von englischsprachigen Aufsätzen von international renommierten Experten zum Thema. Eine um einige Aufsätze erweiterte deutsche Version der Texte ist bereits unter dem Titel Globale soziale Sicherheit? Grundeinkommen weltweit beim Avinus-Verlag erschienen.

Busilacchi, Gianluca: Two Problems, One Solution: The Earth Basis Income, 11.01.08

Abstract

The great inequality in the distribution of world resources is well represented by the co-existence of two opposite phenomena: the scarcity of resources that relegates billions of individuals in extreme poverty conditions, and the over-consumption of resources by a minority of inhabitants who waste and pollute the planet earth.

In addition to the serious ethical paradox produced by the combination of these negative forces, every year poverty and pollution cause severe economic losses, both directly and for negative externalities. Is it possible to reverse this ethical and economic paradox and find a joint solution to these two forms of world pollution?

This paper illustrates a simple model of earth basic income, which could serve as an easy solution to both problems: a taxation mechanism on waste production as a means to finance basic income.

Introduction

Poverty and earth pollution are two main problems that the world still faces in the 21st century. The advancement of civilization, economic growth, social and cultural progress, together with the diffusion of civil and political rights have not been sufficient to resolve these issues over the years.

Paradoxically, the attainment of ever greater wealth over time on a global scale and the increasing inequality of capital distribution highlight the persistence of over-consumption of resources by a minority of inhabitants of the planet – consequently producing great quantities of waste and acuting the lack of those resources for the majority of the world population.

Besides the serious ethical paradox caused by the simultaneous existence of these opposing phenomena, every year the negative externalities of poverty and pollution cause severe economic damage, both directly and indirectly.

According to the United Nations Environmental Program (UNEP), gas emissions from greenhouses, which are one factor of the planet’s overheating, produce economic damage that can be estimated at around 150 billion dollars every year. Intangible damage of an ethical, environmental and natural kind should be obviously added to this figure.

Apart from being one of the ‘evils’ of our time, to use Beveridge’s term, poverty causes serious ethical, social and economical damage: people die of hunger, children grow up in poverty with few opportunities for a better life, whole populations suffer dire hygienic and dietary conditions. The socio-economic circumstances in which poverty develops also give rise to other social ‘evils’: disease, illiteracy and crime.

In Western countries poverty develops in rich societies, thus causing further social and ethical problems such as wide social inequalities, social exclusion and marginalization, relational and familial fragility, and depression. In short, poverty causes direct damage to economic systems – as well as indirectly, this being though less visible but yet quantifiable.

If we add the damage caused by environmental pollution to that caused by poverty, which can be defined as a special form of ‘social pollution’, we find out that the world economic system yearly suffers considerable losses.

The paradoxical question addressed by this brief article is a very simple one: can these two ‘types of damage’ be converted into something positive?

The operation appears to be a rather complex one: the product of two elements with negative value is positive for mathematicians – this is, however, not the case for social scientists. But it is possible to propose a model of global basic income financed from environmental damage and, consequently, to derive solutions from ‘the waste’.

The taxation of pollution in order to finance a basic income capable of defeating poverty may be the simple solution to this dual issue.

A simple simulation model

Approximately ten years ago, Michel Genet and Philippe Van Parijs suggested a model of basic income for all European citizens, the Eurogrant, which based on a direct financing from energy taxes.[1] The authors ended their paper with several questions, one of which advocated the implementation of this instrument outside Europe.

The idea proposed in this paper reprises the central principle of Genet and Van Parijs’s model – to finance basic income by means of an ecological tax –, but it gives the model global dimensions and uses a slightly different taxation system. Instead of an energy tax, the world basic income, termed ‘Earth Basic Income’ (EBI), could be financed by means of a tax on greenhouse gas emissions.

The main difference, however, is that in this case ecological taxation itself would be the goal of the model and not a mere financial instrument for basic income. In that way, a double result would be pursued: on the one hand, to finance EBI in order to fight poverty on the entire planet and, on the other, to encourage the achievement of a minimum level of greenhouse gas emissions so that earth pollution can be reduced.

Since both problems may possibly be solved by a taxation system that operates, in the former case, as a financing instrument and as a ‘negative’ incentivization policy in the latter, the issue must be considered a problem of optimal taxation with two constraints.

The first constraint concerns the level of pollution that can be ‘tolerated’ by the planet.

For convenience, pollution intensity is a value that can be based on the threshold magnitudes of greenhouse gas emissions established at the Kyoto Conference on Bio-Climatic Change in 1997. According to the Kyoto Protocol, industrialized countries and countries with transitional economies, such as the Eastern European countries, must effect a 5% reduction of their greenhouse gas emissions, with respect to values of 1990, from 2008 to 2012.[2]

This average percentage value is obtained, when considering the reductions of 8% in emissions by the European Union, 7% by the USA, and 6% by Japan. Other countries must only attempt to stabilize their emissions, and in the case of outstanding countries, such as Iceland, they may even slightly increase them. Developing countries are exempted from this commitment so that limits are not imposed on their socio-economic development.

These reductions are in fact considerable – especially for the most industrialized countries such as the USA – because in the same period of time the production rate of these gases is expected to increase by about 20%: the net result would be therefore a potential 25% reduction of emissions. Not surprisingly, countries such as the USA and Australia have decided not to ratify the Treaty. However, concerns about the Treaty not entering into force dissolved this year as Russia announced its ratification. The requirements set out in section 25[3] of the Treaty were consequently fulfilled; and the Kyoto Protocol legally came into force on 16th February 2005.

A commitment of this kind entails very high costs for the economic systems of some of the countries involved in the Kyoto negotiations, in particular for nations like the USA, Canada, Japan and New Zealand, whose production systems use very large amounts of energy; for them the costs of signing the Treaty would be relatively higher than, for example, for Europe (see table 1).

Table 1. CO2 emissions and costs of Kyoto Treaty

Country

CO2 emissions

(millions of tons)

Emission reduction

(Kyoto constraint)

GDP variation in 2010 (%)

Source: OCSE, 1999

It is at this point that the mechanism described in this paper could be implemented. Its central aim may be enlightened by the following questions: In the absence of a binding legislation, how can these costs be off-set for the industrialized countries? And, how can a virtuous behavior, which leads to better climatic conditions and economic advantages, be stimulated?

One way could be to tax a country that doesn’t adopt a virtuous behavior proportionally to its deviation. This would motivate a government to set a limit on its emissions, in order to become exempt from the tax. Countries that do not comply with this restriction would be taxed on the value of gas emissions that exceed the established threshold:

1.) Ti= (XPi – XSi) t

The amount of ecological taxes (Ti ) collected in country ‘i’ would therefore be proportional to the difference between the gas emissions established in Kyoto for this country (XSi) and the gas emissions produced by it (XPi), multiplied by the ecological tax (t).

One possible hypothesis adjustable to the model presupposes each country to provide itself with monitoring systems able to distribute the taxation amount (Ti) among polluting enterprises according to the emissions they produce.

Under a second hypothesis, the tax does not determine secondary effects that may retroact on the model, for instance by decreasing wages or increasing commodity prices, and may partially bypass the effects of introducing a basic income. This could be controlled by means of a compensatory mechanism, for example, by eliminating other ecological taxes on enterprises in order to maintain prices and wages stable. The reduction of public revenue due to a lower ecological taxation could be off-set by the decrease of social expenditure on social assistance measures that would partially lose their purpose with the implementation of the EBI.

Having identified our first goal, i.e. the fulfillment of the Kyoto parameters for greenhouse gas emissions, let us now see how this could be related to financing a basic income.

The second constraint lays on the exogenously fixed amount of EBI.

The tax amount Ti in all the ‘k’ taxed countries can be used to finance the EBI for the entire world population, or at least part of it. Let us take as an example the population of age (pop):

k

2.) EBI * pop = ∑ Ti

i=1

Nonetheless, two problems arise from this simple equation. The first involves an ethical issue. Indeed, it could be argued that in such a way the EBI would be financed, at the end, with money deriving indirectly from pollution. An instrument used to fight poverty would end up depending on the existence of greenhouse gas emissions that surpass the levels permitted. Yet, there is a straightforward answer for this objection: firstly, the money would derive from the fight against pollution, not from pollution itself; secondly, the fact that the model uses a constant exogenous value of EBI does not determine a variation in the sum of basic income account due to greenhouse gas emissions.

This gives rise to the second problem. The fact that the EBI is independent of the value of produced gases and that it is actually fixed exogenously, proposes a difficulty when calculating the taxation level. Or, in other words: how can ‘t’ be determined, being it a value dependant from a variable such as (XPi), which might, or better should, change over time?

The same issue also arises from a mathematical perspective if equation 2 is substituted by equation 1:

3.) ∑ t = ∑ Ti / ∑ (XPi – XSi) = EBI * pop / ∑ (XPi – XSi)

There seem to be three different solutions to the problem of a temporally changing variable: to propose a different taxation system for each country; to choose a tax that varies over time; or to allow the total amount of taxes collected to finance the EBI, that is to say, letting ‘∑ Ti’ vary.

In the first case, (t) would depend on the decisions taken by individual countries (ti). At this point the summatory of (t) values would not be equal to the product of (t), multiplied by the number (k) of taxed countries:

4.) ∑ t = k * t ≠ ∑ ti

Each country would determine its own tax amount and taxation system (by adopting, for instance, a proportional system, or a progressive one, or by implementing other parameters), as long as the required amount (Ti) is achieved. A drawback may possibly be different taxation systems having evident and dangerous consequences on market mechanisms.

A second solution consists on choosing a tax (t) that is the same for all countries but varies over time. This could certainly ensure a constant flow of ‘∑ Ti’ resources to the EBI for each time period taken up into consideration (tt=0,1,2…n), independently of the values of greenhouse gases emitted above tolerable levels. At this point equation 3 should be modified as following:

5.) tt=0,1,2…n = ∑ Ti / k * ∑ (XPi t=0,1,2…n – XSi)

In such a case the variability of (t) is strictly temporal: it depends on the emissions produced over the number of years (n) by the various countries (XPi t=0,1,2…n). The product of these two variabilities would ensure, besides, a constant flow of resources.

Still, the variability of (t) over time may be followed by two further problems. The first one regards the emergence of numerous opportunities for free riding. If the total amount of emissions (the denominator in equation 5) changes due to the virtuous (or vicious) behavior of a number of countries, the effects of (t) variations will affect too those countries that have kept out of action.[4] The second problem suggests that the impossibility of knowing future (t) values could bring difficulties to economic systems, in which taxed enterprises operate.

It seems therefore that the only feasible option for solving the problem of variability is to determine a ‘∑ Ti’ amount that varies over time. Evidently, this third solution may, however, cause distress as EBI financing may be in danger, should ecological taxes decrease.

This paradoxical scenario is dangerous both in ethical terms and in terms of the measure’s financial efficacy. If the taxation and/or incentivization mechanism achieves the results expected, pollution levels could decrease; but in such case, the same would happen to the resources available for EBI financing. This seems at first sight to be a trade-off between the fight against poverty and the fight against pollution. Yet, in reality, this ethical dilemma can be easily avoided: as mentioned above, pollution and poverty produce economic as well as social damage. A reduction in the economic costs of these phenomena could therefore be used as added value for the operation, from which additional financial sources could be derived.

A Guarantee Fund (GF) could be activated for security reasons when introducing the EBI. In this way, should emission levels decrease significantly, the maintenance of the measure over time would remain ensured. Equation 2 would therefore change into:

k

6.) EBI * pop + GF = ∑ Ti

i=1

The organization responsible for managing the EBI within, say, the United Nations could use the GF to assure activities related to the implementation and monitoring of EBI. These activities would include an analysis of the profits produced by the reduction of greenhouse gas emissions. This added value would be analogously produced by the mechanism introduced together with the EBI. The resources generated through this operation could be transferred to the GF in order to sustain it.[5]

Conclusions

This short paper has not sought to describe a complete financing model of basic income. Its aim has been rather to raise some points for consideration. My intention, further on, is to ‘fill’ this simple theoretical model with data on the worldwide production of greenhouse gases; so that, as a result, the model’s ability to implement basic income on a global scale becomes quantifiable.

I have raised at least two considerations that go beyond commonplaces on the possibility of financing basic income and on the strength of its ethical justifications:

– We can image a mechanism able to adjust a system of incentives and constraints and with which to attempt to solve two of the major issues of this century: poverty and earth pollution. The solution to both problems may be a mix of taxation on greenhouse gas emissions and a basic income for the entire world population financed with this tax. This highlights a basic principle of the EBI functioning mechanism: a minimum global re-distribution of the resources of the richest countries to the poorest ones – from those which most exploit the planet’s resources (partially destroying the planet) to those which make less use of the same resources – seems ethically fair. Since the planet belongs to everybody, a minimum part of its resources should be destined to the worst-off.

– Finding a system to finance basic income on a world scale is certainly a difficult operation, yet it is not utopian. Likewise, the possible perverse effects exerted on the economic system by this financing system and by the introduction of this measure may be controlled and restrained with a series of compensatory mechanisms. I have sought in this paper to prove the existence of different taxation solutions for basic income. I have described a taxation system based on greenhouse gas emissions (and expressed my preference for a fixed-tax system). I believe that the real problem with implementing a basic income on a global scale (and also with reducing greenhouse gases) is not the devising of theoretical models that can be applied and sustained over time. The real problem is governance: Now, who might actually manage both, a revolutionary policy like the above exposed and the needed natural capacity and authority (political, juridical and legislative) still remains the main question.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Genet M./Van Parijs P.: “Eurogrant”, in: Basic Income Research Group (BIRG), Bulletin no.15, July, 1992.
  2. These gases are carbon dioxide (CO2), methane (CH4), nitrogen dioxide (N20), hydrofluoric carbon (HFC), perfluorated carbon (PFC) and sulfur hexafluoride (SF6). Reference year is 1990 for the first three gases and 1995 for the remaining three.
  3. Section 25 states that the Treaty will be effective only when it has been ratified by at least 55 industrialized countries, representing not less than 55% of CO2 emissions (according to 1990 data).
  4. Not only might the incentive produced by the taxation system disappear due to this mechanism, but it could also have the opposite effect. In order to maintain total resources constant, the more virtuous the average behavior (reduction of emissions), the higher the ecological tax (t) will be.
  5. With the passing of time, the resources of the GF could be invested in economic activities to sustain specific programs for pollution reduction, especially in the poorest countries. The reduction of pollution may also reduce poverty by creating virtuous circles (on hygiene conditions, territorial development, etc.).

„Der Alltag auf der Welt muss sich ändern“. UNO-Vize Achim Steiner im Interview mit Camilo Jiménez über das Weltklima, 08.03.07

UNO-Vize und UNEP-Chef Achim Steiner spricht über die Folgen des jüngsten Weltklimaberichts, über die Möglichkeit eines Weltklimagipfels und erklärt, warum der Alltag des Menschen sich in den nächsten Jahren rasch verändern wird.

Der am 2. Februar 2007 in Paris veröffentlichte Weltklimabericht des von der UNEP geleiteten IPCC stellte dreierlei fest: Der Klimawandel ist im vollen Zug, der Mensch ist für diesen verantwortlich und es muss dringend gehandelt werden, um das Schlimmste zu vermeiden. Was wird die Strategie der UNO sein, um dies zu erreichen?

Wir konzentrieren uns jetzt auf drei Handlungsprioritäten: Als Erstes, im Rahmen der UN-Klimakonvention schnellstmöglich viel ambitiösere Ziele bei der Reduzierung von CO2-Emissionen zu erreichen. Das Kyotoprotokoll läuft 2012 aus. Wenn wir es Ende dieses Jahres bei der Klimakonventionskonferenz in Bali nicht schaffen, einen signifikanten Sprung vorwärts zu machen, damit wir ein Nachfolge-Abkommen bis 2009 verhandelt bekommen, dann haben wir ein sehr großes Problem. Die erste Priorität ist also, den internationalen Konsens weiter zu stärken. Zweitens: Schnellstmöglich den Entwicklungsländern Mittel und Wissen – vor allem im Bereich der Anpassungsstrategien – bereit zu stellen, um sie dabei zu unterstützen, sich in einer Welt zu bewegen, die vom Klimawandel geprägt ist. Drittens ist unser Ziel auch die sog. Befreiung der Energiewirtschaft vom CO2. Hier wollen wir vor allem im Bereich Energieeffizienz, Energieeinsparungspotenzial und erneuerbare Energien Ländern eine andere Zukunft für die Strom- und Energieversorgung ermöglichen.

Wie genau sollen dies die ärmsten Entwicklungsländer zustande bringen?

Gerade durch die Entwicklung der erneuerbaren Energien gibt es in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren eine Riesenchance für diese Länder. In vielen Ländern Lateinamerikas, Asiens und Afrikas muss sehr viel Energieinfrastruktur ausgewechselt und sehr viel Neues gebaut werden – in China, wie man sagt, muss jede Woche ein Kohlekraftwerk errichtet werden und in Afrika wird eine ganze neue Generation von Energieinfrastruktur mit Milliarden von Dollars gebaut. Wenn wir jetzt einen großen qualitativen Sprung schaffen, haben wir die Energieversorgung für die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre gerade in den Entwicklungsländern beeinflusst.

Es gibt aber sehr wenig Zeit…

Ja, es gibt sehr wenig Zeit und vor allem: Je mehr Zeit vergeht, umso teurer wird es. Davon ist man überzeugt, wenn man den IPCC-Bericht und den Stern-Bericht von 2006 zusammenkoppelt. Nicht zu handeln, hat jetzt einen ökonomischen Preis; dieses ist für viel zu lange Zeit vergessen worden, weil man immer nur berücksichtigt hat, wie viel es kostet, zu handeln. Doch das Nicht-Handeln ist heute teurer geworden als das Handeln. Das ist vielleicht der große Schwenk bei der ganzen Klimadiskussion.

Vor wenigen Wochen haben Sie von der Möglichkeit eines Weltklimagipfels gesprochen. Wie sehen jetzt die Chancen einer solchen Veranstaltung aus und, realistisch betrachtet, was für Ergebnisse könnte ein Weltklimatreffen bringen?

Gemeinsam mit dem Exekutiv-Sekretär des UNO-Rahmenübereinkommens über Klimaänderungen (UNFCC) haben wir dem Generalsekretär in verschiedenen Gesprächen diese Idee vorgeschlagen. Nun hängt es nur davon ab, ob Regierungsoberhäupter und vor allem die Staaten, die die größte Verantwortung für den Klimawandel tragen und auch die größten Handlungsmöglichkeiten haben, ein Interesse daran haben, einen solchen Gipfel zu nutzen.

Haben Sie dabei die Unterstützung des UNO-Generalsekretärs bekommen?

Ja. Klar ist aber, dass Ban Ki-Moon nicht da einberufen wird, wenn die Bereitschaft, einen großen Sprung nach vorne zu machen, nicht da ist. Das Ziel eines solchen Gipfels wäre es, nicht ein Endergebnis zu verhandeln, sondern das Endziel gemeinsam zu vereinbaren und dem Prozess, der dann mit den Verhandlungen für 2012 in Bali beginnen soll, einen höheren Anspruch sowie politisches Moment zu geben. Im Moment handeln auch die Diskussionen, die wir und auch der Generalsekretär mit seinen Mitarbeitern in New York mit verschiedenen Staaten besprechen, darum, ob es irgendwann dazu kommt, dass im Zusammenhang der Generalversammlung im September in New York ein solcher politischer Gipfel stattfinden und somit große Fortschritte ermöglichen kann. Der Gipfel sollte gerade ein Signal davon geben, dass die Vereinten Nationen letztendlich den besten Rahmen bilden, um eine globale Vereinbarung und den Beginn eines Klimaprozesses zu ermöglichen.

Aber sollten Länder wie Indien und China oder Regionen wie Lateinamerika nicht auch mit einbezogen werden?

Es steht zunächst fest, dass die G-8 die Vorreiterrolle übernehmen muss. Denn letztlich sind heute die Industrieländer gefragt, da sie zum großen Teil die historische Verantwortung für den Klimawandel tragen. Nichtsdestotrotz dürfen wir nicht weiter mit der Klimaproblematik so umgehen, dass die einen sagen: Ja, ihr habt das verursacht, also macht ihr erstmal. Und die Anderen sagen wiederum: Ja, wenn ihr nicht mitmacht, dann machen wir nicht weiter; denn z.B. Lateinamerika hat inzwischen auch die Verantwortung für 12% der CO2-Emissionen weltweit. Es ist nicht so, als ob wir Lateinamerika, China, Indien und andere Länder dabei nicht brauchen. Jedenfalls bin ich der Überzeugung, dass der endgültige Auswahl nur stattfinden wird, wenn man am Tisch sitzt und darüber diskutiert, wer hat die größte Verantwortung und wer hat die größten Möglichkeiten, bei der Reduzierung der CO2-Emissionen einen Beitrag zu leisten.

Was lässt Sie denken, dass alle Verantwortlichen – auch die im Privatsektor! – sich diesmal doch für den Klimawandel engagieren werden?

Ich glaube, im Augenblick geschehen drei sehr wichtige Dinge. Erstens: die Öffentlichkeit. Diese hat inzwischen, wenn sie auch nicht unbedingt die Wissenschaft versteht, doch so weit akzeptiert, dass das Phänomen Klimawandel wirklich eine große Bedrohung für unsere Zukunft lokal, aber auch global bedeutet. Und sie verlangt zunehmend von den politischen Führern, dass etwas geschieht. Zweitens ist vor allem in Entwicklungsländern in den letzten Jahren sehr deutlich geworden, dass der Klimawandel sehr wohl Konsequenzen für die Menschen und für die wirtschaftliche Entwicklung hat und dass es daher auch in diesen Ländern ein gesteigertes Interesse daran geben muss, in einem globalen Klimakonsens nach Möglichkeiten zu suchen, wie man auf den Klimawandel reagieren kann. Und drittens: die Unternehmen. Vor drei Wochen hat man in den USA gesehen, wie zehn Unternehmen an George W. Bush geschrieben haben, dass sie eine 30%ige Reduzierung der CO2 Emissionen möchten. Unternehmen, die mit einem 10- bis 20-jährigen Produktions- oder Investitionszyklus arbeiten und globale Unternehmen sind, haben erkannt, dass der Klimawandel zu einer kritischen Variabel, also zu einem Faktor für ihre Wettbewerbsfähigkeiten in der Zukunft wird; und sie wollen letztlich, dass eine globale Vereinbarung ihnen Sicherheit im globalen Markt gibt.

Aber da fehlt doch das Wichtigste: das internationale, politische Engagement.

Ich glaube, diese drei Kräfte schaffen zumindest eine andere Dynamik. Nun kommt es natürlich darauf an, ob einzelne politische Regierungsoberhäupter auch den politischen Willen oder sogar noch mehr den politischen Mut haben, hier eine Führungsrolle zu übernehmen, denn es ist nicht einfach.

Worauf wird sich jetzt der normale Bürger einstellen müssen, um seinen Beitrag für den Stopp des Klimawandels zu leisten?

Der Alltag des Menschen auf der Welt wird sich ändern müssen – für Einige mehr als für Andere. Die Zukunft wird jedenfalls nicht mehr so sein wie die Vergangenheit. Das beginnt damit, dass man schon seit einigen Jahren in vielen Entwicklungsländern erlebt, wie die Extreme zwischen Trockenheit und Flut, Dürre und Überschwemmung immer größere Konsequenzen haben. Z.B. in Kenia erleben wir gerade mit dem El Niño-Effekt die Wiederkehr des Rifttal-Fiebers, eines Phänomens, das nur auftritt, wenn Überschwemmungen in sehr intensiven Regenzeiten stattfinden. Es ist ein Krankheitsherd, der inzwischen 140 Menschen in nur drei Monaten das Leben gekostet hat, eine Krankheit, die sogar vorhersagbar war nach der Erfahrung mit früheren El Niño-Aktivitäten. Also: Im Gesundheitssystem werden sich die Sachen ändern müssen, aber auch in der Landwirtschaft, denn Leute, die in marginalen Zonen landwirtschaftlich tätig sind, werden nicht mehr dort arbeiten und leben können, weil sie dort nichts mehr zu wirtschaften haben werden.

Gemeint war eigentlich der Bürger Europas oder Nordamerikas.

In Europa und in Nordamerika haben wir heute schon viele Möglichkeiten, unseren Konsum so zu verändern, dass wir unsere CO2-Emissionen reduzieren können: beim Häuserbau, Energienutzung, Fahrzeugkauf, Kauf landwirtschaftlicher Produkte, Auswechseln von Glühbirnen. Aber das ist nicht nur in Industrieländern der Fall: Ich habe gehört, dass Kuba in den nächsten zwei Jahren alle Glühbirnen und alle Eisschränke auf der Insel ersetzen will – tolle Aktion! Damit spart sich das Land ein gesamtes Kraftwerk ein, das es sonst bauen müsste. Das sind Beispiele, wie auch der Einzelne heute bereits einen Beitrag leisten kann, der – kollektiv zusammengezählt – sehr wohl einen Unterschied macht.

Wie will die UNEP die Einleitung solcher neuen Gewohnheiten bewirken?

Das wird vor allem durch unsere Arbeit an den Richtlinien für den im Rahmen des Kyotoprotokolls gültigen Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) stattfinden. Wir haben gerade eine große Vereinbarung getroffen, um gemeinsam vor allem den Ländern Afrikas und den ärmsten Entwicklungsländern aktiv dabei zu helfen, in den CDM zu kommen. Im Bereich der erneuerbaren Energien machen wir zurzeit große Fortschritte: Wir haben eine Studie gemacht in einer ganzen Reihe von Ländern, wo wir das Investitionspotenzial für erneuerbare Energien auf der Grundlage einer Potentialanalyse für Solar- und Windenergien gemacht haben. Damit ermöglichen wir einzelnen Ländern in Afrika, an Investoren heranzutreten. Also zu sagen: Hier, das hat die UNO als unser Potenzial anerkannt, habt ihr Interesse zu investieren?

Ein Beispiel?

Wir arbeiten mit einem Teeproduzenten in Kenia, wo wir Kleinwasserkraftwerke einbringen, um Dieselaggregate durch normale, fossile Brennstoffe nutzende Stromgeneratoren zu ersetzen. Sein Geschäft wird nicht beeinträchtigt, und dafür haben wir es zu einem umweltfreundlichen Unternehmen gemacht.

In einer Mitteilung unterstrich vor kurzem Ban Ki-Moon, dass gerade die ärmsten Drittweltländer diejenigen sein würden, die am meisten von der Umweltkatastrophe betroffen wären. Wie kann die Dritte Welt vor dem Schreckenszenario, das der IPCC-Bericht für sie mit klaren Worten voraussagt, gerettet werden?

Wir sind im Moment an einem Punkt, in dem in den Regierungen sowie in den Unternehmen der Dritten Welt endlich das Bewusstsein dafür geschärft werden muss, dass wir die Veränderung des Klimas in unsere gesamte Entwicklungsplanung einbeziehen müssen. Zum Einen: Wie gehen wir mit der Infrastruktur um, die wir heute schon haben? Wie passen wir uns mit diesem Kapitalstock an eine Welt an, die morgen anders sein wird als heute? Und Zweitens: Wie schaffen wir es, in den Investitionen und in der Infrastruktur, Transport, Verkehr, Energie, heute schon eine Klima orientierte Investition zu schaffen, die Ländern wie z.B. Peru, Kolumbien oder Argentinien ermöglicht, diese Chance nicht zu verpassen?

Was heißt das konkret?

In den nächsten Jahren werden wir noch extremere Entwicklungen erleben, die den Preis des Klimawandels vor allem für Entwicklungsländer noch weiter hoch schrauben wird. Die beste Antwort auf die Frage, wie sich Entwicklungsländer vor der Katastrophe noch retten können, ist: Sie müssen sich vorbereiten. Deswegen gibt es jetzt eine hitzige Diskussion über Anpassungsstrategien: Man muss beobachten, was in den jeweiligen Küstenzonen passiert, was in den Staudämmen passiert, die gebaut worden sind auf der Grundlage von hundertjährigen Regenfallstatistiken und der Hundertjahresflut, die heutzutage in zwei Jahren zwei Mal stattfindet. Das heißt, Länder müssen vorbeugen und gerade da haben auch die internationale Gemeinschaft, die UNO, aber auch die Entwicklungszusammenarbeit eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Das hat mit Grundelementen zu tun wie der Entwicklung von Modellen, der Ermöglichung von Technologietransfer und der Unterstützung bei Infrastrukturentwicklung.

Seit Beginn Ihres Amtes als Leiter der UNEP folgen Sie einer Richtlinie, die die Marktwirtschaft sowie die Strategien der nachhaltigen Entwicklung zusammen zu bringen versucht. Was für Erkenntnisse haben Sie hierzu nach einem Jahr Erfahrung als UNO-Untersekretär gewonnen?

Unsere Wirtschaft, ob sie nun national oder global betrachtet wird, ist ja heute so, dass vom lokalen Wochenmarkt bis zum Weltmarkt letztendlich ein großer Teil unserer Konsum- und Produktionsentscheidungen in einem Marktkontext getroffen werden. Lange Zeit haben wir den Markt als ein natürliches Phänomen betrachtet, nach Gesetzen funktionierend, die wir überhaupt nicht beeinflussen können. Das Interessante der letzen hundert Jahre ökonomischer Entwicklung ist, dass wir immer wieder bewiesen haben, dass wir Märkte schaffen und sie auch prägen durch ethische oder andere Grundsätze, die wir dann versuchen, in einer marktkonformen Gesetzgebung festzuhalten. Wir leben heute schon in regulierten Märkten und ich glaube, die wichtigste Transformation der nächsten Jahre wird es eben sein, unser Wissen über Klimawandel in einem Marktkontext auch gesetzlich und rechtlich zu verankern, damit Unternehmen anders arbeiten. Denn wir subventionieren ja heute unseren Konsum, als gäbe es morgen keinen Preis zu zahlen! Heute wissen wir schon, dass es diese Kosten geben wird: Wir müssen sie nur mit ökonomischen oder gesetzlichen Instrumenten so gestalten, dass der Einzelne sowie die Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes anders handeln können. Dann schaffen wir auch die Transformation.

Geben Sie ein Beispiel.

Hier in Deutschland, das Energieeinspeisungsgesetz. Deutschland hat es geschafft, innerhalb von sechs Jahren mit einer einzelnen Gesetzgebung zum größten Windkraftproduzenten zu werden, indem es den Kapitalmarkt, die Unternehmen und die Konsumenten in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt hat. Das sind die Beispiele der Zukunft.

Deutschland ist aber weltweit fast die absolute Ausnahme.

Dann nehmen wir Brasilien, das heute den Weltrekord hält für die Anzahl der Motoren, die mit dem Doppelsystem Benzin und Ethanol fahren können. Das ist rein aufgrund brasilianischer staatlicher Förderungspolitik geschehen. Auch Brasilien hat bewiesen, dass es in den letzten dreißig Jahren sehr wohl Markt regulierende Signale entwickelt hat, die eine andere Art von Energiemix ermöglichen.

In Deutschland erwägt man den Wiedereinstieg in die Atomkraft zur Eindämmung der Energie- und Umweltproblematik. Sind Atomkraftwerke tatsächlich eine Lösung für den Klimawandel?

Technologisch gesehen sind sie ohne Zweifel eine Option. Die Frage, die man sich stellen muss, darf aber nicht nur über den kurzfristigen Gesichtspunkt „CO2-Emissionen“ getroffen werden, sondern es bleiben weiterhin drei Kernfragen, die die Befürworter der Kernkraft beantworten müssen, wenn Letztere ein Teil des Energiemix’ der Zukunft werden soll: Das Erste ist die ökonomische Kosten-Nutzen-Bilanz; es gibt immer noch große Zweifel, wie man den vollen Kostenzyklus mit hereinnimmt, d.h. ob eigentlich die Kernkraft betriebs- und volkswirtschaftlich konkurrenzfähig ist. Zweitens haben wir immer noch das Problem, dass wir bis heute nicht wissen, wie wir eigentlich mit dem Phänomen des Atommülls umgehen sollen. Und drittens leben wir in einer Welt, in der nukleare Proliferation und auch Terrorismus die Sicherheitsfrage eher noch erhöht haben im Vergleich zu früher. Die Welt braucht klare Informationen, um sich dann entscheiden zu können, ob eigentlich die Kernkraft wirklich ein Schlüssel ist für die Energieproblematik.

Herr Steiner, vielen Dank für dieses Gespräch.


Brocchi, Davide: Braucht die Welt einen zweiten Global Marshall Plan?, 31.01.2007

Die Global Marshall Plan Initiative von Franz Josef Radermacher beruft sich auf den Erfolg des amerikanischen Programms für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa. Genauso wie die internationale Entwicklungspolitik eines halben Jahrhunderts. Davide Brocchi stellt seine ideen und Argumente überblickshaft vor.

„Die Demokratie sollte den Markt und den Wettbewerb regulieren, unsere Welt hat jedoch ein gravierendes Demokratieproblem. Ich möchte es ungeschützt sagen. Das Weltdemokratieproblem ist, dass sich 300 Millionen Menschen einen Präsidenten wie Bush leisten dürfen, während die restlichen sechs Milliarden mit ihm leben müssen!“

Die Analyse des begnadeten Redners ist mathematisch scharf und das Publikum applaudiert ihm begeistert. Auf dem Essener Campus wirbt Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher für seinen Global Marshall Plan. Die Initiative fordert unter anderem die Durchsetzung der weltweit vereinbarten Millenniumsziele der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015: „Es ist Zeit, dass die Versprechen eingehalten werden – und wir werden die Regierungen ständig daran erinnern, dass sie selbst diese entwicklungspolitischen Ziele mitunterschrieben haben!“

Die weiteren Ziele des Global Marshall Plans sind so angelegt, dass sie das breitestmögliche Spektrum an Unterstützung erreichen: von Susan George (Attac France) bis Kurt Beck (SPD), von Frank Bsirske (ver.di) bis Josef Göppel (CSU), von Johan Galtung (Trascend Peace University) bis Hans Dietrich Gescher (FDP). Die Breite der Unterstützung ist die große Stärke des Global Marshall Plans, aber auch seine große Schwäche – meinen die Kritiker. Es ist nicht viel anders als beim Begriff der Nachhaltigkeit.

Franz Josef Radermacher, 1950 in Aachen geboren, ist promovierter Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler, Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. Wie alle Keynesianer und Neokeynesianer befürwortet er einen stärkeren Eingriff des Staates in die Wirtschaft, wobei starke staatliche Investitionen durch mehr Steuereinnahmen finanziert werden müssen. Nur eine gerechte Steuerpolitik kann vermeiden, dass die Reichen immer reicher und die Armen ärmer werden.

Die Analyse von Radermacher könnte genauso gut aus dem kapitalismuskritischen Flügel der Linken stammen: „Europa braucht eine neue Verfassung. Doch sie soll die Menschen vor einer ungezügelten Globalisierung schützen – und nicht die ungezügelte Globalisierung vor den Menschen.“ Wie die Attac-Bewegung setzt sich auch die Global-Marshall-Plan-Initiative für eine Versteuerung der internationalen Finanztransaktionen ein, das heißt für eine „Tobin-Tax“, die Spekulationen auf den Finanzmärkten hemmen soll. Interessant zu erfahren, dass prominente SPD-, CSU- und sogar FDP-Politiker solche Positionen unterstützen. Werden diese Parteien entsprechende Gesetzesinitiativen starten?

Nach der gramerfüllten Rede von Radermacher kommt die erste Frage aus dem Publikum: „Ich kann mich an den Marshall Plan in Europa erinnern – sagt der alte Herr – damals war ich noch ein Kind. Warum wurde Ihre Initiative nach diesem Plan genannt?“

Gerade nach den scharfen Kritiken an der US-Außenpolitik eine durchaus interessante Frage. Radermacher scherzt: „Wenn man an einen Marshall denkt, stellt man sich einen Cowboy mit Pistolen und hohen Stiefeln vor. Es ist aber in diesem Fall nicht so.“

Der Marshall Plan für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa begann 1947 und ging in die Geschichte als Erfolg ein. Darauf berufen sich Radermacher und seine Initiative. Sie sind nicht die ersten, die die Bedeutung des Marshall Plans vielleicht überschätzen.

Auch die westlichen Regierungen sowie internationale Institutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond haben 50 Jahre lang den Marshall Plan zum Modell ihrer Entwicklungspolitik gemacht. Was sich für Europa gut bewährt hatte, müsste genauso für die Dritte Welt funktionieren: so glaubte man lange Zeit.

Das Ergebnis jenes ersten globalen Marshall Plans war aber ein ganz anderes: Diese Entwicklungspolitik diente insbesondere den Hilfsgebern, nicht immer den Hilfsnehmern – um es diplomatisch auszudrücken.

Alles begann am 20. Januar 1949, als der wiedergewählte US-Präsident Harry Truman eine berühmte Antrittsrede hielt, bei der zum ersten Mal das Wort „Unterentwicklung“ fiel. Truman betrachtete nur das westliche Gesellschaftsmodell als entwickelt, während der größte Teil der Menschheit bei ihm als unterentwickelt galt. Wer anders lebte, wurde praktisch auf einen Schlag als hilfsbedürftig und nicht-gleichwertig eingestuft. Infolgedessen starteten die USA mit den Ex-Kolonialmächten ein paternalistisches Programm, das sie Entwicklungshilfe für die Dritte Welt nannten. Das deklarierte Ziel dieser Entwicklungspolitik war, unterentwickelten Ländern zu helfen, dem Entwicklungsstand westlicher Länder zu erreichen bzw. den Entwicklungsrückstand wieder gut zu machen. Durch ein big push von außen, in Form einer massiven Kapital- und Investitionsspritze, sollten sich die unterentwickelten Länder von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft entwickeln. Nach dem linearen Entwicklungsmodell der Modernisierung wurde jede Tradition mit Unterentwicklung und Armut gleichsetzt, wobei alles, was von dem kapitalistischen und konsumistischen Lebensstil abwich, als „Tradition“ und „Armut“ galt.

Schon in den 60er Jahren wurde klar, dass dieser erste Global Marshall Plan für Afrika oder Lateinamerika zu ganz anderen Ergebnissen als in Europa führte. Der Abstand zwischen reichen und armen Ländern wuchs weiter. Trotzdem wurde diese Entwicklungspolitik weiter getrieben. Für die negativen Ergebnisse machte der Westen die internen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen der unterentwickelten Länder verantwortlich. Zum Beispiel waren afrikanische Regierungen für Korruption anfällig. Arme Menschen konnten nicht profitorientiert und effizient arbeiten. Die einheimischen Gebräuche galten als Hindernis für die Modernisierung, insbesondere wenn sie auf sozialistische oder gar auf kommunistische Ideologien trafen.

Die westlichen Nationen bekämpften diese Hindernisse im Name der Entwicklung, im Extremfall durch militärische Einsätze oder Geheimoperationen (u.a. Chile, 1973). Agrarreformen gegen große Landbesitzer oder politische Bewegungen gegen die Wirtschaftsinteressen der Multinationalen wurden fast automatisch als „kommunistisch“ bezeichnet, obwohl das deklarierte Ziel der Entwicklungspolitik „mehr Wohlstand für die Armen“ hieß.

Und so wiederholte sich jahrzehntelang die entwicklungspolitische Katastrophe, die zum heutigen Zustand geführt hat. Auch die angebliche „Demokratisierung“ des Iraks passt in dieses Bild sehr gut.

Der Marshall Plan war kein Kind der Liebe. Genauso ist es mit der bisherigen Entwicklungspolitik: sie war oft das Ergebnis von kühnen Kosten-Nutzen-Rechnungen – und zwar im Sinne der Hilfsgeber.

Der Soziologe und katholische Theologe Wolfgang Sachs hat 1998 ein kritisches Lexikon der Entwicklungspolitik in Italien veröffentlicht. „Il Dizionario dello sviluppo“ enthält ein interessantes Kapitel über die Ambivalenz des Worts „Hilfe“. Es gibt nämlich eine Form von „Hilfe“, die in der Entwicklungspolitik immer wieder vorkommt: Wer es schafft, andere von sich selbst abhängig zu machen und abhängig zu halten, hat Macht über sie.

Auch der Marshall Plan verfolgte dieses Ziel. Er war nicht zuletzt eine Strategie gegen die drohende Verbreitung der sozialistischen Ideen in Europa, die gerade nach dem Nationalsozialismus an Boden gewonnen hatten. Besonders stark griffen die Amerikaner bei den politischen Wahlen von 1948 in Italien ein, als sich eine Volksfront von Sozialisten und Kommunisten und die Democrazia Cristiana von Alcide De Gasperi (dem Adenauer Italiens) gegenüberstanden. Die linke Volksfront hatte gute Chancen. So drohte die Democrazia Cristiana mit einer Aussetzung des Marshall Plans, falls die Kommunisten die Wahlen gewonnen hätten.

Heute wissen wir, dass der US-Geheimdienst viel Geld in die Kasse der Democrazia Cristiana fließen ließ. Die CIA förderte die Bildung eines paramilitärischen Netzes mit dem Namen „Gladio“, das Geheimaktionen in Italien führte und sogar mit Ex-Agenten von Mussolini besetzt wurde. Ein ähnliches Netz wurde in Deutschland mit dem Namen „Stay behind“ gebildet.

Die Democrazia Cristiana gewann die damaligen Wahlen und kontrollierte seitdem ununterbrochen die italienische Regierung. Erst Anfang der 90er Jahre brach diese Machtstruktur zusammen. Sie hatte alle möglichen Skandale überlebt, doch den Fall der Berliner Mauer nicht. Was war passiert? Man kann es nur ahnen.

Die Amerikaner drosselten schon Anfang der 90er ihre Entwicklungshilfe stark. „Die USA leisteten fast ein halbes Jahrhundert lang in absoluten Zahlen bei weitem die höchste Entwicklungshilfe, fielen aber 1993 hinter Japan und seit 1995 auch hinter Frankreich und Deutschland zurück. Der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am BSP fiel mit 0,10 % (1995) sogar auf den letzten Platz in der OECD-Vergleichstabelle“ schreibt Dieter Nohlen in seinem „Lexikon Dritte Welt“.

Es war nicht mehr nötig, den Wohlstand der Unterschichten der Welt durch Sozialstaat oder Entwicklungshilfe aufrechtzuerhalten, um die Verbreitung des Kommunismus zu einzudämmen. Vieles spricht dafür, dass die politische Machstruktur Italiens für 50 Jahre nur künstlich am Leben gehalten wurde. Es sollte vermieden werden, dass die kommunistische Partei (PCI), die zum Teil mehr als 35 % der Stimmen erhielt, an die Regierung kam. 1978 wurde der Christdemokrat Aldo Moro sogar umgebracht, nur weil er die PCI an der Regierungsbildung beteiligen wollte.

Nach 1990 änderte sich die internationale politische Lage und die Unterstützung aus dem Ausland wurde entzogen: das italienische Machtsystem brach zusammen. Silvio Berlusconi, der ein Produkt dieses System ist, stieg in die Politik ein, um sich und viele anderen vor dem Gefängnis zu retten. Italien zahlt noch heute einen hohen politischen Preis für den Marshall Plan und den alten Kalten Krieg.

Der Marshall Plan war das Ergebnis politischer und militärischer Kalküle, aber nicht nur. Die anfänglichen Investitionen rechneten sich später auch wirtschaftlich. Der reiche Absatzmarkt Europas wurde mit US-Ware gefüllt. Seitdem sind Ford, Coca Cola, Mc Donald oder Marlboro aus dem europäischen Markt nicht mehr wegzudenken.

Auch der Global Marshall Plan von Radermacher will nicht mit der bisherigen Entwicklungspolitik und ihren Denkstrukturen völlig brechen; für die Konzentration auf eine ökonomische Dimension seien als Indizien hier nur die Besteuerung von finanziellen Transaktionen und das ausformulierte Ziel einer ökosozialen Marktwirtschaft getrennt. Radermacher macht kein Heil daraus: Die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard ist sein Vorbild. Er teilt das Menschenbild des Homo Oeconomicus, nach dem jeder Mensch die meisten Entscheidungen auf der Basis einer Kosten-Nutzen-Rechnung trifft. Nur eine Eigenschaft kommt bei dem Menschen Radermachers hinzu: die Kooperationsfähigkeit. Er spricht nämlich von Homo Oeconomicus Cooperans: „Das Wettbewerb ist nur dann gut, wenn er der Kooperation unter den Menschen dient. Nur die Kooperation unter den Menschen hat sich im Sinne der Evolution gelohnt.“ Reicht diese fast ästhetische Korrektur, um mit dem Zynismus des Homo Oekonomicus abzubrechen?

Und nun zur eigentlichen Frage dieses Artikels: Braucht die Welt wirklich einen „zweiten“ Marshall Plan?

Joseph Radermacher nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er das Weltdemokratieproblem analysiert. Er hat Recht: die Reichen „brauchen“ im Grunde genommen die Armen. Sie haben deshalb wenig Interesse, die Armut wirklich zu überwinden. Wer sollte sonst bestimmte Jobs für wenig Geld übernehmen?

Die Schlussfolgerungen von Radermachers sind aber so ambivalent, wie seine Analyse deutlich ist.

Globale Probleme sind heute radikal, weil ihre Ursachen und Auswirkungen die ganze gesellschaftliche Struktur betreffen [vgl. Bernd Hamm. Struktur moderner Gesellschaften, 1996]. Entsprechend radikal sollten ernstzunehmende Lösungen sein.

Das radikalste Ziel der Global-Marshall-Plan-Initiative ist die Besteuerung der internationalen Finanztransaktionen, denn damit beginnt jene Regulierung des globalen Finanzmarkts, die bisher Tabu war. Da der Widerstand gegen die Umsetzung dieses Vorhabens stark ist, ist jede Unterstützung willkommen: Schön, dass sie bei der Initiative Radermachers so breit ist.

Sonst vermisst man bei den Schlussfolgerungen Radermachers vor allem die Einbeziehung jener Strukturen, die in seiner Analyse so scharf kritisiert werden. Plötzlich sollten nur kleine diplomatische Korrekturen des Systems ausreichen, um die globalen Probleme zu lösen. Dadurch fällt man wieder in altbekannte Schemata zurück, die manche ungewöhnliche Unterstützung für die Initiative erklären könnten.

Der Bezug auf den Marshall Plan und die Zentralität der ökonomischen Dimension (im Sinne der Marktwirtschaft) sind ebenso problematisch.

Zum Marshall Plan: Selbst in Europa hat sich der damalige Marshall Plan nicht nur zum Vorteil der Hilfsnehmer ausgewirkt – sondern den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss der Amerikaner hier gestärkt. Die wenigsten wissen, inwiefern die NATO-Zugehörigkeit unsere Demokratien beschneidet und beschnitten hat. Nach dem Fall der Mauer durfte nur die Geschichte der DDR und der Stasi aufgearbeitet werden – nicht aber die Westdeutschlands. Es überrascht nicht, dass Journalisten durch den BND immer wieder abgehört werden. Es überrascht nicht, dass Europa in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen wird, denn hier wurden die alten Strukturen scheinbar nie ganz abgebaut. Die Auflösung der NATO würde nicht nur der europäischen Demokratie gut tun, sondern auch die UNO stärken.

Zur Entwicklungshilfe: Die Welt braucht keine Entwicklungshilfe in der bisherigen Form, sondern strukturelle Veränderungen, mehr gerechte Umverteilung und mehr Selbstbestimmung der Armen. Die Armen brauchen nicht nur vier (statt zwei) Dollar pro Tag.

Zum Homo Oekonomicus: Radermacher glaubt, dass Menschen berechnend sind – appelliert aber gleichzeitig an die Warmherzigkeit der Reichen und Mächtigen: Wie passt das zusammen?

Zum Glück ist nicht jeder Mensch auf dieser Welt so berechnend wie Amerikaner und Europäer. Emotionale Intelligenz ist leider keine westliche Stärke. In diesem Zusammenhang empfehle ich, den neuen Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu anzuschauen: Babel.

© Davide Brocchi, 31.01.2007

Wirtschaftlicher und sozialer Umbruch weltweit…wann? UNO Vizegeneralsekretär José Antonio Ocampo im Interview mit Camilo Jimenez, 12.01.07

Interview* mit dem UNO Vizegeneralsekretär José Antonio Ocampo

Auch im Wirtschafts- und Sozialbereich ist der Prestigeverlust der UNO nichts Neues. Schon während der achtziger und neunziger Jahre büßte die Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten heftig an Einfluss ein, als die Weltbank und andere Organisationen die Zügel der Weltwirtschafts- und -sozialordnung übernahmen. Aus dieser Ohnmacht heraus zu kommen und eine regulierende und letztendlich definierende Rolle im wirtschaftlichen und sozialen Geschehen zu spielen, sind die Ziele des UNO Vizegeneralsekretärs José Antonio Ocampo. Im Gespräch mit dem AVINUS Magazin sprach der seit 2003 amtierende Leiter der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten über Armut und Elend, über die Weltwirtschaftslage und über seine Bemühungen auf der weltpolitischen Spitze.

Ein weiteres Jahr ging zu Ende und die Jahresberichte der UNO enthüllen einen katastrophalen Zustand der Weltgemeinschaft: Armut und Ungleichheit nehmen zu, die Arbeitslosigkeit gerät sogar in den Industrieländern außer Kontrolle, Hunger und Elend kosteten letztes Jahr Millionen von Menschen das Leben. Wie sehen Sie als Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen und Leiter der Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten diese Situation?

Lassen Sie mich das Ganze auf die wirtschaftlichen und sozialen Themen konzentrieren. In Wirklichkeit ist die Situation viel besser als die etwas düsteren, in der Welt kursierenden Bilder es annehmen lassen. Als Gruppe erleben die Entwicklungsländer seit vier Jahren ihre größte wirtschaftliche Wachstumsperiode seit langer Zeit. Sie sind dieses Jahr durchschnittlich um 6,5% gewachsen. Gleichzeitig erlebte der afrikanische Kontinent dieses Jahr die wirtschaftliche Blütezeit seiner Geschichte. Obwohl es bisher noch keine Schätzungen für Probleme wie extreme Armut gibt, sehen wir somit eine Verbesserung der Situation in Teilen der Welt, in denen es bisher keine starken Signale der Verbesserung gab. Auch in Lateinamerika, wo die Armut durch die Krise Ende der neunziger Jahre zugenommen hatte, beginnen die Zahlen dieses Jahrhundert zurückzugehen.

Aber die Zahlen zeigen, dass weltweit – und besonders in Lateinamerika – weiterhin eine groteske Ungleichheit herrscht. Die Hälfte des globalen Vermögens gehört 1% der Weltbevölkerung und 40% der lateinamerikanischen Bevölkerung lebt noch immer in extremer Armut.

In keinster Weise. Ich bin fest davon überzeugt, dass Lateinamerika die extreme Armut beseitigen kann. Klar sind die enormen Ausmaße der Ungleichheit immer noch das große Problem. Aber selbst in Bezug auf diese Ungleichheit, auch wenn die Geschichte bis heute das Gegenteil zeigt, ist Fortschritt möglich. Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass jegliche Maßnahme gegen die Ungleichheit unweigerlich eine langfristige Maßnahme ist. An erster Stelle muss man den Aufbau eines Bildungskapitals, eines höheren Bildungsstandards – und zwar eines qualitativ hochwertigen – für die ärmsten Schichten der Bevölkerung ermöglichen. Gleichzeitig müssen Mechanismen entwickelt werden, die den kleinen Produzenten und Unternehmen, besonders in ländlichen Gegenden, Zugang zu Land und Technologien verschaffen und die gleichfalls einen aktiven Gebrauch des Steuer- und besonders des Finanzsystems erlauben, um die Verteilung des Einkommens zu verbessern. In einigen dieser Maßnahmen, muss ich sagen, machen viele lateinamerikanische Länder Fortschritte. Ergebnisse werden wir erst längerfristig sehen.

Man sieht aber mehr Rückschritte als Fortschritte…

Das liegt daran, dass diese Fortschritte eben auch Rückschritte mit sich bringen: Zwei Schritten nach vorne folgt meist ein Schritt nach hinten. Sehen wir uns zum Beispiel die Bildung an. Zweifelsohne ist Lateinamerika in Sachen Bildung vorangekommen – das ist eins der Millennium-Entwicklungsziele, das auf diesem Kontinent mit Sicherheit erreicht werden wird. Gleichzeitig deuten allerdings viele Daten an, dass sich die Spaltung, die das Bildungssystem verursacht, in vielen Ländern immer mehr besonders in der Kluft zwischen privater, qualitativ hochwertiger und öffentlicher Bildung widerspiegelt. Insofern bietet das Bildungssystem zwar einerseits höhere Ausbildungsstandards für die ganze Bevölkerung, entfernt sich aber andererseits in gewissem Sinne von der Bevölkerungsmehrheit. Infolgedessen sind die Fortschritte ambivalent. Und dies kann man nur langfristig lösen, indem man die Qualität der öffentlichen Bildung signifikant verbessert.

Von der UNO unabhängige Organisationen entwickeln seit einigen Jahren Modelle, durch die beispielsweise die extreme Armut beseitigt werden könnte. Wie sieht die UNO das vom Basic Income Earth Network (BIEN) angestoßene Projekt zur Einführung eines weltweiten Grundeinkommens?

Einige von diesen Modellen werden zurzeit in Lateinamerika umgesetzt; sie gehen in eine entsprechende Richtung und haben ihre Ziele tatsächlich erreicht. Besonders in Brasilien durch die so genannte Bolsa Familia und in Mexiko durch das Programm Oportunidades, wo armen Familien ein Grundeinkommen angeboten wird unter der Bedingung, dass die Kinder zur Schule und die Mütter zu regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen gehen, hat man gezeigt, dass Initiativen dieser Art interessante Alternativen sein können. Es sind Instrumente, die – ohne große staatliche Gelder zu kosten – eine Verbesserung der Verhältnisse in den ärmsten Haushalten erzielen. Das kann als eine Art Grundeinkommen betrachtet werden und hat den zusätzlichen Vorteil, dass es mit Verbesserungen im Bereich der Bildung und der Gesundheit verbunden ist.

Warum erhalten diese Projekte dann keine umfassende Unterstützung?

Das Problem ist, dass diese Mechanismen in Konkurrenz treten mit anderen staatlichen Formen der finanziellen Unterstützung. Also, wenn eine Regierung diesbezüglich zu einem Entschluss kommen muss, stellt sie fest, dass es nicht so viel Sinn hat, solchen Programmen Geld zuzuweisen, wenn für Investitionen oder die Gesundheit Geldmittel fehlen. Daher sehen sich die Staaten vielmals gezwungen, Entscheidungen zu fällen, die nicht unbedingt die günstigsten sind. Grundsätzlich denke ich, dass das Grundeinkommen eine gute Option ist. Aber man sollte immer vor Augen haben, dass es noch anderen Bedarf nach öffentlichen Geldern gibt und dass immer eine Auswahl getroffen werden muss.

Mit den Millennium-Villages der UNO wurde durch ein groß angelegtes soziales Projekt ein Meilenstein zur Verbesserung der Situation der ärmsten Schichten in den Entwicklungsländern gesetzt. Was hat die UNO aus ihrer Erfahrung mit den Millennium Villages gelernt?

Die Millennium Villages sind ein Pionierprojekt und es gibt bereits verschiedene Beispiele, hauptsächlich in Afrika. Ich glaube, dass es ein interessantes Modell ist. Trotzdem bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der Fortschritt der Gesellschaft in Bezug auf die Millennium Entwicklungsziele unbedingt über den Staat laufen muss. Es ist der Staat, der die grundlegenden sozialen Dienste zur Verfügung stellen muss. Aus diesem Grund sollte man nicht versuchen, die eigentlich staatlichen Programme durch zusätzliche Mechanismen zu ersetzen. In den armen Ländern beobachten wir oft, dass durch zielgerichtete Aktionen – sogar Aktionen der NGOs – versucht wird, parallel zum Staat zu arbeiten, obwohl ja eigentlich alles über den Staat laufen müsste. In allen Ländern dieser Welt, die zumindest in Bezug auf die Überwindung grundlegender sozialer Probleme große Fortschritte gemacht haben, ist der Staat die treibende Kraft gewesen. Die Millennium Villages sind wichtig, sofern sie in andere, umfassendere staatliche Programme eingegliedert werden. Für die armen Länder gibt es zurzeit bei uns in der UNO viel Aufmerksamkeit in dieser Sache, denn die Wahrheit ist, dass viele dieser sozialen Programme parallel zum Staat durchgeführt werden, was langfristig nicht die erhofften Wirkungen erzielen wird, da sie nicht im Sinne des State Building den Staat aufbauen – das aber ist nötig für alle diese Länder, um voranzukommen.

Die Amtszeit Kofi Annans hinterlässt die UNO, was ihre Teilnahme an der internationalen Politik angeht, als geschwächte Organisation. Empfinden Sie einen ähnlichen Verlust an Glaubwürdigkeit und Partizipation in der Abteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten?

Auf dem Gebiet der Entwicklung ist die Amtszeit Kofi Annans durch drei große Meilensteine gekennzeichnet: Der erste ist der Millenniumsgipfel und die Millennium Entwicklungsziele, die dort ausgerufen wurden, sowie seine Fortsetzung im Jahre 2005. Diese beiden Ereignisse brachten die meisten Staatschefs in der Weltgeschichte an einem Ort zusammen. Die Entwicklungsziele sind zu einer Leitlinie der internationalen Agenda geworden: Die europäischen Zusammenarbeitsorganisationen haben sie aufgegriffen; die Empfängerländer haben sie angenommen; die Niedrigeinkommensländer agieren in allem, was ihre Beziehungen mit der Internationalen Gemeinschaft betrifft, im Rahmen dieser Agenda; und gleichfalls hat jede Entwicklungsbank diese Agenda ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Sogar die Islamische Entwicklungsbank hat vor einem Monat während einer Generalversammlung bezüglich der Entwicklungsziele, insbesondere ihrer Kooperation mit Afrika, diese Agenda präsentiert.

Und die anderen beiden Meilensteine?

Der zweite Meilenstein stellt die Monterrey-Konferenz für die Finanzierung der Entwicklung im Jahr 2002 dar. Dieser Gipfel ist sehr wichtig, weil er zum Rahmen der ersten internationalen finanziellen Zusammenarbeit der Geschichte wurde. Und aus dem so genannten Monterrey-Konsensus entstand das Konzept des Global Partnership for Development, die Idee, dass die Weltentwicklung nur aus einem Zusammenschluss von Industrie- und Entwicklungsländern entspringen kann. Jener hat ebenso seine Tragkraft in Hinblick auf die nationalen Bemühungen und auf die internationale Zusammenarbeit in Handels- und Finanzfragen, besonders im finanziellen Bereich entfaltet der Monterrey-Konsensus seine ganze Reichweite. Der dritte Meilenstein ist der Gipfel von Johannesburg im Jahre 2002, der auf den Erdgipfel in Río de Janeiro folgte. Dieser Gipfel ist sehr wichtig, da hier die Agenda für nachhaltige Entwicklung auf internationaler Ebene wieder aufgegriffen wurde– damit blieb sie im Zentrum der Aufmerksamkeit.

In welchem Zustand haben Sie die Hauptabteilung für Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten 2003 übernommen und wo haben Sie den Schwerpunkt gesetzt?

Diese Abteilung war das Ergebnis einer Fusion dreier Abteilungen. Als ich hier ankam, spürte man die Spaltung noch stark. Die Hauptfunktion der Abteilung ist es, die Entwicklungsdebatte der UNO zu unterstützen – ich meine die Debatte in der Generalversammlung, im Wirtschafts- und Sozialrat, in den mannigfaltigen Hilfsorganen und bei den Fortsetzungen der internationalen Gipfel. Mein Ziel war es, der Abteilung ein klares Konzept zu geben, das ihre Einheit sicherstellen würde. In unseren internen Diskussionen sage ich oft, dass ich diese Abteilung übernommen habe wie einen Zusammenschluss von unabhängigen Republiken – und es geschafft habe, daraus eine föderale Republik aufzubauen. Wir sehen uns nun also wie ein Zusammenschluss von Entitäten mit einer gemeinsamen Agenda, der so genannten UNO-Entwicklungsagenda, die nichts anderes ist als das Ergebnis aller Weltgipfel der UNO. Dies war für mich die größte interne Organisationsaufgabe, als ich in dieser Abteilung anfing.

Während der achtziger und neunziger Jahre verlor Ihre Abteilung an Einfluss auf das Weltgeschehen. Wie kann Ihre Abteilung aktuell ihre Position von den großen Organisationen zurückerobern, die während der letzten zwanzig Jahre ihre Funktionen übernahmen?

Ich habe einen besonderen Schwerpunkt darauf gesetzt, die analytische Qualität der UNO-Arbeiten zu verbessern. Die Wahrheit ist, dass die analytische Aufgabe und die technische Kooperation der Vereinten Nationen in den achtziger Jahren an zweite Stelle gerückt sind. Die Weltbank übernahm Aufgaben, die traditionellerweise in den Arbeitsbereich der Vereinten Nationen fielen, in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren beispielsweise, was die Kooperation und Entwicklung angeht. In den achtziger Jahren wurde von den Weltmächten eine explizite Entscheidung gefällt, diese Aufgabenbereiche der Weltbank zu übertragen. Ich glaube, dass wir uns in einem Prozess der Wiedergewinnung dieses Terrains befinden, und dazu brauchen wir eine höhere technische Qualität unserer Arbeitsergebnisse.

…und auch eine größere Legitimität vor den Mitgliederstaaten der UNO.

Natürlich, langfristig wird das das Wichtigste sein. Durch diese Abteilung bin ich zum Befürworter zweier Dinge geworden, die letztendlich bedeutungsvoll für die Zukunft sein werden: zum einen die Reform des Wirtschafts- und Sozialrats. Diese Reform haben wir ins Rollen gebracht und sie ist erst vor wenigen Monaten durch die Generalversammlung bestätigt worden. Es war eine lange Debatte, aber die Kernideen stammen aus dieser Abteilung. Die Ideen waren nämlich die Errichtung eines Kooperationsforums mit Weltcharakter im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats und die Schaffung eines viel stärkeren Mechanismus der Accountability für die Kompromisse, die die Länder in wirtschaftlichen, sozialen und Umweltfragen während der UNO-Gipfel erzielt haben. Langfristig glaube ich, dass die UNO einen ähnlichen Mechanismus haben wird wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Object Management Group oder der Internationale Währungsfonds, die Gegenstand eines regelmäßigen Peer-Reviews sind. In Sachen Wirtschaft und Soziales existiert so etwas nicht in der UNO. Es existiert kein Kontrollmechanismus, der es ermöglicht herauszufinden, welche Kompromisse die jeweiligen Länder geschlossen haben, und der regelmäßig und öffentlich darüber Auskunft gibt, wer den Kompromiss erfüllt hat und wer nicht – was letztendlich die Aufgabe all dieser Organisationen ist. Und die zweite große Aufgabe ist es, systematisch zu arbeiten. Dabei ist die Verbesserung der Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsprogramm der UNO, den Regionalkommissionen und mit der UNTA (United Nations Regular Programme of Technical Assistance) bisher unser großer Erfolg gewesen.

Kommen wir zu Europa. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und England sorgt man sich über Arbeitslosigkeit, Verstärkung des Elends und Abbau des Sozialstaats aus. Wie sehen Sie diese Veränderungen?

Im lokalen bzw. nationalen Kontext erscheinen die Veränderungen sehr tief greifend, aber aus weltweiter Perspektive sieht man eher das Überleben der europäischen Sozialstaaten, nicht ihren Abbau. Es gibt wichtige Anpassungen, die am so genannten Sozialstaat vorgenommen werden müssen und die derzeit auch vorgenommen werden, um ihn finanzierbar zu machen, vor allem angesichts der verschiedenen demographischen Veränderungen, die zurzeit in Europa stattfinden. Aber ich glaube nicht, dass man ernsthaft von einem Abbau des Sozialstaates sprechen kann. Wie üblich wird die politische Debatte je nach Kontext mit viel härteren Worten ausgefochten als sie in Wirklichkeit ist.

Was wird mit den Wirtschaften Lateinamerikas passieren, wenn die so genannte politische Linkswende die traditionellen Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern verändert?

Die Linkswende hat einige Anspannungen erzeugt, aber im Grunde genommen glaube ich, dass der Integrationsprozess, was die Wirtschaft angeht, schon sehr weit fortgeschritten ist. Ich meine den freien Handel zwischen den lateinamerikanischen Ländern, welcher weiter vorankommen muss und wird. Obwohl der Fortschritt nicht schnell vonstatten ging, beobachte ich mit besonderem Interesse die Programme zur Infrastruktur und Integration in der Region. Obgleich es Erfolge auf diesem Gebiet gegeben hat, bleibt viel zu tun. Auf der anderen Seite glaube ich, dass der politische Wandel etwas offenbart hat, das alle Regierungen anerkennen müssen, und zwar, dass die neoliberalen Reformen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr wenig auf dem Kontinent erreicht und aus einer sozialen Perspektive mehr geschadet als genutzt haben. Also heißt es, eine neue Agenda zu gestalten, in der mehr Gleichgewicht zwischen Staat und Wirtschaftsmarkt herrscht, als man es vor 15 oder 20 Jahren für nötig hielt.

Herr Ocampo, vielen Dank für das Gespräch.


* Das Interview wurde von Britta Astrid Verlinden aus dem Spanischen übersetzt.

Touraine, Alain: Ségolène Royal am Scheideweg, 30.11.2006

Der Sieg Ségolène Royals bei der sozialistischen Kandidatenkür für die Präsidentschaftswahlen 2007 hat die politische Ausgangslage der Parti socialiste (PS) grundlegend verändert. Die linke Neinsagerkoalition wird sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen. Eine heilige Kuh ist geschlachtet. Gleichwohl können sich aus diesem Sieg prinzipiell zwei unterschiedliche Weichenstellungen ergeben.

Einerseits könnte es das Ende bedeuten für eine realitätsferne Linksradikalenrhetorik. Lange schon, zumal seit 1981, pflegt die Linke einen denkbar radikalen und antikapitalistischen Diskurs. Der Sieg der Gegner der europäischen Verfassung ging – auch in den Reihen der Sozialisten – mit kraftstrotzenden Kommentaren einher, denen zufolge Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit unvereinbar seien und mithin der Einfluss des Staates und des öffentlichen Sektors auf die Wirtschaft ausgebaut werden müsse.

Eine solche Position mag schon verwundern auf einem Kontinent, der trotz marktwirtschaftlicher Strukturen geprägt ist von einem hohen Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt und der damit gerade auch ein breit ausgebautes Sozialversicherungssystem finanziert. Vor dem Hintergrund dieser radikalen Tendenz suchen die Sozialisten in allen Formationen links von der Linken, manchmal sogar am linksextremen Spektrum nach Bündnispartnern. Diese Grundausrichtung – oder zumindest scheinbare Grundausrichtung – hat letztlich die Schwächung der Sozialistischen Partei zu verantworten. Nicht nur deshalb, weil die Abkehr von der Marktwirtschaft konkret ein völlig sinnloses Unterfangen darstellt, sondern auch weil die PS keine Proletarierpartei ist, sondern eine Partei, in der die Mitglieder in leitender Stellung stärker vertreten sind als die einfachen Angestellten. Die einzige Erklärung dieser widersprüchlichen Situation besteht darin, dass gerade die Angestellten im öffentlichen Sektor, insbesondere ab einer gewissen Führungsebene, jene Ideologie ersonnen haben, die nun einen Sieg der Linken immer unwahrscheinlicher werden lässt.

Wenn man diese Analyse als gegeben annimmt, lautet die Frage, die sich den alten und neuen Mitgliedern der Sozialistischen Partei stellt: Welcher Weg führt aus dieser Sackgasse? Welcher Weg führt zurück zu einer realistischen Politik? Dominique Strauss-Kahn hat hier offen ausgesprochen, was viele insgeheim denken: Die Partei muss – wie alle anderen sozialistischen Formationen in Europa – sozialdemokratisch werden. Trotz dieser Zielsetzung fehlt aber auch ihm eine Antwort auf die etwas konkretere Frage, wie dies denn zu bewerkstelligen sei, d.h. wie die Wahlen gewonnen werden können, ohne sich von einem linksextremen Wählerspektrum, das noch vor kurzem durch den Sieg über die EU-Verfassung seine Stärke unter Beweis gestellt hat, vom Wege abbringen zu lassen.

Die französische Linke wäre gut beraten, wenn sie ihr Selbstverständnis nicht länger aus einem ideologischen Erbe ableiten würde, sondern aus der Wirklichkeit und wenn sie die Probleme einer Gesellschaft verstehen würde, in der kulturelle Vielfalt zunimmt und die ewige Beschwörung der Republik die Ungleichheiten letztlich nur verschärft.

Aus den ersten Äußerungen Ségolène Royals zu diesem Thema spricht eine wohltuende Gedanken- und Entscheidungsfreiheit. Die Niederlage Dominique Strauss-Kahns jedoch kann zu der zweiten Annahme führen: Die Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal schwimmt auf der Woge einer tiefen Unzufriedenheit der Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht ist sie eine Antiparteienkandidaten, die folglich in allen, auch in den linksextremistischen Milieus, Rückhalt und Unterstützung suchen muss. Zudem muss sie sich so deutlich wie möglich von dem Morast der politischen Mitte abgrenzen, aus dem sich die Linke noch nie siegreich herausgekämpft hat.

So gesehen, ist das Phänomen Ségolène eine neue Version des Phänomens Mitterrand. Diese zweite Hypothese scheint – gerade aufgrund ihrer Einfachheit – leichter den Weg zu einem Sieg zu ebnen. Die erste Annahme dagegen stolpert notgedrungen über die heikle Frage, wodurch denn die linksextremistischen Stimmen ersetzt werden sollen? Wird es Ségolène Royal gelingen, sowohl einen beträchtlichen Teil der linksextremistischen Wähler als auch Stimmen aus der gesamten Bandbreite der Wählerschaft an sich zu binden?

Diese Entscheidung zwischen zwei politischen Weichenstellungen ist gerade deshalb so schwierig, weil die Voraussetzungen für den leichten Sieg Ségolène Royals bei den sozialistischen Stichwahlen ihr angesichts der von Nicolas Sarkozy befehligten römischen Heerscharen den Weg zu einem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verstellen könnten.

Aus diesem Vergleich zwischen den beiden Richtungen, die Ségolène Royal nach ihrem Sieg einschlagen kann, ergibt sich zwangsläufig die Schlussfolgerung, dass sie beide Wege miteinander kreuzen muss, um bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg davonzutragen. Auch in Zukunft sollte sie als eine direkte Vertreterin des Volkes auftreten, durch die die partizipative Demokratie in ein politisches System Einzug hält, dessen Repräsentativität deutlich geschwunden ist. Darüber hinaus muss sie sich für eine Politik entscheiden, die wirtschaftliche Öffnung und soziale Reformen miteinander kombiniert.

Wenn ihr das Miteinander dieser veränderten Form des politischen Auftretens mit veränderten Inhalten gelingt, wird sie Sarkozy schlagen können. Tatsächlich fühlt sich ganz Frankreich von der „politischen Klasse“ abgespalten. Sollte sich Ségolène Royal jedoch in ihrem Wunsch, von allen Seiten Unterstützung zu erhalten, dazu verleiten lassen, die politische Doktrin und das Vokabular der äußersten Linken neu aufleben zu lassen, ist ihre Niederlage vorprogrammiert. Allerdings ist wohl davon auszugehen, dass die Erfolgschancen größer sind. Viele Länder hoffen, dass es Ségolène Royal gelingen wird, im Falle eines Sieges ein von Stagnation, Vorurteilen und mangelndem Selbstbewusstsein gelähmtes Frankreich wieder aufzurichten.

 

Klepzig, Sascha: Schöne Worte für das Klima. Merkel auf der Konferenz für Nachhaltigkeit in Berlin, 24.11.06

Während die Klimakonferenz in Nairobi weltweit Beachtung findet, bekam die am 26. September in Berlin stattfindende Konferenz zum Thema Nachhaltigkeit trotz Anwesenheit der deutschen Bundeskanzlerin wenig Echo. Die Jahreskonferenz des Rates für nachhaltige Entwicklung fand weitaus weniger Beachtung als die Islamkonferenz einen Tag später, was im damals durch die Opernabsetzung aus Terror-Angst aufgeheizten Klima nicht verwundert.

Unter den Zuhörern in der Kongresshalle am Alexanderplatz saßen Vertreter der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, darunter viele Repräsentanten von Vereinen und Initiativen. Eingeladen hatte unter dem Motto „Die Kunst, das Morgen zu denken“ zum mittlerweile sechsten Mal der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der im Jahr 2001 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde. Neben einer Fotoausstellung, einer Modenschau und der Siegerehrung zu einem Jugendwettbewerb bestand das Hauptprogramm aus der Forenarbeit am Nachmittag (zu Themen wie Energie, demografischer Wandel, Medien oder soziale Sicherung) und den Redebeiträgen am Vormittag.

Den Anfang machte BUND-Vorsitzende und Ratsmitglied Angelika Zahrnt, die auf die Rolle von Kunst, Kultur und Bildung in der Nachhaltigkeitsdebatte hinwies. Sie forderte die Regierung wie später auch der Ratsvorsitzende Volker Hauff auf, die EU-Ratspräsidentschaft 2007 zu einer „Nachhaltigkeitsoffensive“ zu nutzen. Die Wichtigkeit des Dialogs mit der Wirtschaft unterstrich Zahrnt mit der Zauberformel CSR, auf Deutsch: „Corporate Social Responsibility“. Im Zuge der Globalisierung wachse nicht nur der Einfluss, sondern auch die Verantwortung von Unternehmen, die das Soziale und Ökologische nicht mehr nur dem Staat überlassen dürfen.

Als nächster Redner eingeladen war der Vorstandsvorsitzende der Münchener Rück, Nikolaus von Bomhard. Als Versicherer beschäftigt er sich selbstverständlich mit der Zukunft, und könnte mit dem Statistik-Material seines Unternehmens sicherlich einiges zur globalen Risiko-Vorsorge beitragen. Bomhard blieb allerdings recht allgemein und redete von steigenden Schäden aus Naturkatastrophen, die ihn schon lange beschäftigen. Dass er die gesellschaftliche Entwicklung als verantwortlich für den Klimawandel ausmachte, war dann keine große Erkenntnis für die Teilnehmer dieser Veranstaltung zur Nachhaltigkeit. In Bomhards Rede kam dann auch noch das aktuelle Top-Thema Terrorismus zur Sprache, im Versicherungs-Jargon „das einzige vom Menschen bewusst herbeigeführte Risiko“. Da Terror-Schäden nur begrenzt versicherbar sind, sei hier auch der Staat gefordert, z.B. im Rahmen der bereits existierenden Opfer-Fonds. Positiv festzustellen ist, dass Bomhard als Vertreter der Wirtschaft nicht nur den Begriff Nachhaltigkeit kennt, sondern auch vor seiner effekthaschenden, inflationären Verwendung warnte, indem er zum Abschluss nicht ganz ernst gemeint eine Art „TÜV“ dafür anregte.

Schließlich war es dann am Vorsitzenden des Rates, Volker Hauff, die Bundeskanzlerin zu begrüßen, und mit den Worten „Nachhaltigkeit = Chefsache“ klar zu machen, was er von ihrer Rede und vor allem ihrer Politik erwartete, nämlich nichts weniger als Kontinuität, Innovation und Engagement.

Angela Merkel hatte, so schien es, ihre Hausaufgaben gemacht. Sie wusste, was dem Publikum auf den Nägeln brannte. In einem allgemeinen, etwas improvisiert wirkenden Vorgeplänkel über den „Verbrauch der Zukunft in der Gegenwart“ zeigte sie, dass sie den Leitsatz der Nachhaltigkeitspolitik verstanden hatte. Es gehe darum, an die kommenden Generationen zu denken und ihnen nicht alle aktuellen Probleme aufzubürden. Nachhaltige Entwicklung heißt also, unseren Kindern eine Welt zu hinterlassen, in der Ökologie, Wirtschaft und Soziales noch im Einklang sind.

Mit den Stichworten „Gerechtigkeitsempfinden“ und „Demut“ stellte sie sich auf die Seite derjenigen, die ihr zunächst eher skeptisch zuhörten. Später nahm sie eventuellen Kritikern dann allen Wind aus den Segeln, indem sie damit kokettierte, sich wohl bewusst zu sein, manchmal unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So erwarte sie gerade von den Anwesenden keine Jubel-Arien, sondern Hinweise und Kritik. Sie brauche den Nachhaltigkeitsrat als Mahner und Antreiber. Wie gefordert, will sie die EU-Ratspräsidentschaft und auch den G8-Vorsitz im nächsten Jahr dazu nutzen, Nachhaltigkeitsthemen auf die Tagesordnung zu setzen. Vor allem der Klimaschutz und die Energiepolitik sollen noch einmal angegangen werden. Für Beifall und mehr Medienresonanz sorgen sollte das bekundete Vorhaben, endlich auch die Amerikaner mit ins CO2-Programm zu holen. Selbst die Asiaten, so berichtete Merkel von ihren Dienstreisen, seien mittlerweile risikobewusster und handlungsbereiter als früher, wenn es um den Abbau von Treibhausgas-Emissionen geht.

Schließlich wurden noch ein lose Reihe weiterer Projekte der Bundesregierung, angesprochen, die weitgehend mit dem Thema Nachhaltigkeit zu tun haben. Die Kanzlerin prangerte die schlechte Balance zwischen Zinsausgaben für alte Schulden und Ausgaben für die Zukunft an, und lag mit vielen Zuhörern auf einer Wellenlänge. Als an diesem Tag sicher weniger kontroverse Maßnahme zur Haushaltssanierung brachte sie das Sparen bei der Beamtenbesoldung ins Spiel.

Weiterhin redete Merkel von neuen Strategien der Regierung zur Stärkung der Exportweltmeister-Position, die sogar noch 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze vor allem im High-Tech-Bereich schaffen sollen. Weiterhin ging es um den schonenden vernünftigen Umgang mit Ressourcen, in Deutschland und in den Entwicklungsländern, für die es auf einen verstärkten Schutz ihres Eigentums und weniger Ausbeutung durch die Industrieländer hinauslaufen soll. Global wird auch gedacht, wenn es um gemeinsame internationale Kriterien in allen Bereichen geht, z.B. beim Schutz von geistigem Eigentum, einer der mittlerweile wichtigsten Ressourcen des Westens. Weltweit soll der Verlust an biologischer Vielfalt bis 2010 verringert werden, ein dringendes Programm, dessen Handlungsgrund durch die doppelte Negation fast verharmlost wird. Die Umwelt soll auch zuhause geschützt werden, so soll, auch in Zusammenhang mit dem Stichwort Artenschutz, der neue Flächenverbrauch hierzulande reduziert werden, was angesichts der demographischen Entwicklung mehr als sinnvoll erscheint.

Schließlich betonte Merkel die Wichtigkeit des „lebenslangen Lernens“, und die Notwendigkeit, das generationsübergreifende Denken vor allem der zukünftigen Rentner-Generation zu vermitteln, damit alle noch folgenden Maßnahmen auch nachhaltig funktionieren könnten.

Dies war durchaus im Sinne von Volker Hauff. Der Ratspräsident erklärte, mit Zustimmung, Hoffnung und Nachdenklichkeit die Rede der Kanzlerin zur Kenntnis genommen zu haben. Bei allen Schwierigkeiten wolle er jedoch nicht nur an die Politik appellieren, sondern genauso an Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Nur wenn alle Akteure zusammen arbeiten und die Bedeutung der nachhaltigen Entwicklung nicht aus den Augen verlieren, hätte sein Rat Erfolg und diese Veranstaltung einen Sinn.

Es bleibt abzuwarten, was aus den hehren Ansprüchen wird, nicht nur was die wirkungsvolle Umsetzung der Projekte angeht, sondern schon allein wenn es darum geht, das Thema Nachhaltigkeit ins Gedächtnis zurückzurufen und immer wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Die großen Schlagzeilen werden zwar bis zum nächsten Kongress doch eher wieder der Terror oder so Wichtiges wie die Altbundeskanzler-Memoiren liefern, doch vielleicht schafft es auch zwischen Anschlägen und Schädel-Schändungen immer mal wieder eine kleinere Nachhaltigkeitsgeschichte, wie z.B. die gerade aufkeimende Debatte um das Garantierte Grundeinkommen.

Horchen auf die Atombombe. Manfred Henger über Atomsprengungen in Nordkorea im Interview mit Camilo Jiménez, 13.10.2006

Wie deutsche Experten auf die nordkoreanische Atomsprengung horchten und nun einen Fehlschlag für möglich halten. Ein Interview mit Manfred Henger, Leiter des Referats für seismische Datenanalyse der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR).


Herr Henger, am frühen Morgen des 9. Oktober haben Sie einen Anruf von der CTBTO bekommen, die Sie über seismische Aktivität in Nordkorea informierte. Was wollte man von Ihnen und Ihrem Team wissen?

Meine Aufgabe war, die Stärke der seismischen Bewegung zu bestimmen, die das Internationale Datenzentrum (IDC) der Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBTO) am Montag, dem 9. Oktober, um 3.35 Uhr registriert hatte und die aus der nordkoreanischen Nord Hamyong Provinz herkam. Es handelte sich um ein Erdbeben mit der Stärke 4. Auch mussten wir der CTBTO nachweisen, dass es sich dabei um kein natürliches Phänomen gehandelt hatte, sondern dass das Erdbeben durch eine unterirdische Sprengung erzeugt worden war. Letztlich war auch unsere Aufgabe, die Quantität an Trinitrotoluol (TNT) zu berechnen, die für die Explosion verwendet worden war: Es waren etwa 1 bis 1,5 Kilotonnen.

Sie leiten das Referat für Datenanalyse bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover. Was verbindet Ihren Verantwortungsbereich in der BGR mit der CTBTO?

Wir betreiben hier für die Bundesrepublik Deutschland das Nationale Datenzentrum im Zusammenhang mit dem Kernwaffenteststopp-Abkommen. Das Auswärtige Amt hat uns die Aufgabe übertragen, die Einhaltung der Verpflichtungen aus dem Kernwaffenteststopp-Vertrag zu überprüfen. Im Rahmen des Abkommens betreiben wir mehrere Stationen: eine im bayerischen Wald, das ist die empfindlichste Station im ganzen Mitteleuropa, in der durch eine Antenne 25 umliegende seismische Stationen koordiniert werden. Dann gibt es eine weitere Infraschallstation im bayerischen Wald und zwei Stationen mit Messungen von Luftdruckschwankungen in der Antarktis. Alle diese Stationen, die von uns kontrolliert werden, sind Teil des antiatomaren Überwachungssystems der CTBTO. Die Daten von unserer Station und anderen Stationen, die überall auf der Welt verteilt sind, werden durch einen Satellit nach Wien gesendet. Als Nationales Datenzentrum haben wir in der BGR das Recht, diese Daten anzufordern, von allen Stationen.

Und das haben Sie am Sonntagabend gemacht, als klar wurde, dass der Atomtest Nordkoreas jederzeit stattfinden konnte…

Wir hatten schon den ganzen Sonntag auf die Sprengung gewartet. Es war jedoch schon Montag um 3.35 Uhr, als ich eine automatische Nachricht von unseren Computern im Institut auf meinem Handy bekam, die ein Erdbeben in Nordkorea meldete. Aber unser Vorgehen ist ungefähr so: Das IDC lässt in der Regel die Messungen rund um die Uhr laufen und sucht nach Bewegungen der Erdschichten, also nach kleinen oder großen Erdbeben. Am Wochenende vor dem Atomtest haben wir dann die Rechner in der BGR so vorprogrammiert, dass sobald irgendein Ereignis im Bereich von Nordkorea gemeldet würde, wir automatisch informiert würden. Als Leiter des Referats für seismische Datenanalyse würde ich dann eine Nachricht erhalten.

Wie konnten Sie sicher sein, dass dieses Beben von einem nordkoreanischen Atomtest ausgelöst worden war?

Als wir montagmorgens zur Station kamen, haben wir alles überprüft: Der Ort, auf den uns unsere Daten verwiesen, erschien auf den Satellitenbildern als eine Gebirgsregion im Norden Nordkoreas namens Pungye-yok, die schon vorher als mögliches Testgebiet genannt worden war. Folglich konnten wir sicher sein, dass es eine Sprengung und nicht ein Erdbeben war. Also informierten wir die CTBTO und die Öffentlichkeit.

Wie kann eine unterirdische Sprengung ein dermaßen starkes Erdbeben verursachen, dessen seismischen Wellen knapp 12 Minuten nach der Explosion schon in Deutschland empfunden wurden?

Durch die Explosion wird eine Schockwelle erzeugt. Das passiert auch z.B. in der Luft: Wenn etwas in der Luft explodiert, dann wird ein Luftstoß verursacht, den ich fühlen würde, wenn ich in der Nähe wäre. Genau so läuft es unter der Erde ab: Wenn dort eine Explosion stattfindet, passiert folgendes: Zwischen den Erdschichten befindet sich meistens Wasser, und Wasser kann man nicht zusammendrücken, es ist nicht kompressibel. Wenn die Explosion auf das Wasser und auf Gestein trifft, wird durch seismische Energie eine Druckwelle erzeugt. Diese Druckwelle läuft dann durch die ganze Erde. Die registrieren wir dann auch hier im bayerischen Wald.

Wie hat man die Größe der getesteten Bombe in der BGR berechnen können?

Da es eine Beziehung zwischen der Erdschwankung und der Explosionsstärke gibt, haben wir die Stärke der Explosion berechnen können: Sie war von 1 bis 1,5 Kilotonnen, vorausgesetzt, dass es sich um nasses, hartes Gestein gehandelt hat, wo der Test stattgefunden hat. Wenn eine solche Explosion im Sand durchgeführt wird, wird nicht sehr viel Energie in den Boden übertragen und deshalb strahlt die Druckwelle eine verhältnismäßig schwächere Signal aus. Aber da es in einer Gebirgsregion passierte (dem Schwarzwald sehr ähnlich), wo es nur hartes, nasses Gestein gibt, konnten wir berechnen: Eine Stärke von 4 kann nur von 1 bis 1,5 Kilotonnen Sprengstoff verursacht werden.

Wie wird ein Atomtest unter der Erde durchgeführt?

Da bohrt man wie bei einer Ölquelle, und in das Bohrloch wird dann die Bombe gelegt. Dann wird das Loch entweder zubetoniert oder mit allen möglichen Stoffen aufgefüllt. Wenn man die Bohrung macht, muss man entsprechend tief gehen, sodass die Bombe nicht ‚ausbläst‛, also radioaktive Subtanzen freisetzt. Das hat man am Anfang des Atomtestrauschs im 20. Jahrhundert nicht beachtet und als Folge gibt es noch heute z.B. einen halben Kilometer breite und 100 oder 200 Meter tiefe Krater im sog. ‚Nevada Test Site‛.

Ist eine solche ‚Ausblasung‛ der Bombe Nordkoreas möglich?

Nur, wenn man die Bombe nicht tief genug eingräbt. In Nordkorea hat die Sprengung in einem unterirdischen Tunnel stattgefunden, innerhalb eines kleinen Bergwerkes, und obwohl jetzt nicht ganz klar ist, wie die Nordkoreaner die Bombe untergebracht haben, kann man schon vermuten, dass man die Bombe durch einen zweiten parallel liegenden Tunnel eingeführt hat, den man dann zugeschüttet hat. Wenn die Explosion tatsächlich in diesem Berg stattgefunden hat, so werden wahrscheinlich keine radioaktiven Substanzen auf die Erdoberfläche gekommen sein.

Atomwaffentests können auch in Wüstregionen oder im Meer durchgeführt werden. Warum haben Pakistan, Indien und Nordkorea Ihre Tests unter der Erde durchgeführt?

Die Franzosen haben ihre Kernwaffen im Mururoa-Atoll gezündet. Die USA haben auch kleine Bomben auf dem Bikini-Atoll getestet. Später haben die USA auch auf den sog. ‚Nevada Test Site‛ hunderte von Tests durchgeführt, also in der Wüste, wie Frankreich es auch gemacht hat, nämlich in Algerien. Die Russen haben ihrerseits alle ihre Explosionen auf dem Festland im Novaja Zemlja durchgeführt und die Chinesen auf Lop Nur, einem Gebirgsgebiet. Allein die neuen Atommächte haben unterirdische Tests durchgeführt. Obwohl es sich aus Sicherheitsgründen empfiehlt Atombombensprengungen unter der Erde zu realisieren, glaube ich, dass die wahren Gründe, warum Indien, Pakistan und Nordkorea unterirdische Atomtests durchführen, woanders liegen.

Weil sie sich vor der Öffentlichkeit schützen wollen, falls Ihre Tests fehlschlagen?

Möglicherweise.

Zurzeit wird viel über den vermeintlichen Erfolg der Atomtests in Nordkorea gezweifelt. Was ist Ihre Position dazu?

Obwohl bisher nur sehr wenig bewiesen werden kann, nämlich nur, dass es sich um kein natürliches Phänomen bei dem Erdbeben am vorigen Montag handelte, sondern dass eine unterirdische Sprengung an dem Tag in Nordkorea stattfand, wage ich, drei verschiedene Szenarien für möglich zu halten. Das erste: dass der Test erfolgreich war und dass Nordkorea tatsächlich eine 1,5 Kilotonnen schwere Atombombe gezündet hat. Das zweite: dass Nordkorea versucht, die Internationale Gemeinschaft zu betrügen und das sie dazu eine Atomsprengung simulierten mit Hilfe von chemischen Sprengstoffen – und das zu machen, ist kein Problem. Ich war selber bei einer solchen Simulation dabei, als man einmal in den USA untersuchen wollte, ob es möglich ist, mit seismischen Verfahren Unterschiede zwischen Nuklear- und chemischen Sprengung festzustellen. Da haben die Amerikaner eine Kilotonne mit chemischem Sprengstoff gezündet, kein Problem. Das dritte Szenario wäre, dass es ursprünglich eine größere Bombe sein sollte, eine Bombe von etwa 10 bis 15 Kilotonnen, aber dass der Test fehlgeschlagen ist und die Druckwellen deshalb so gering waren. Persönlich halte ich dieses letzte Szenario für das wahrscheinlichste von allen drei.

Warum?

Die erste Möglichkeit ist fast irreal: Wenn man sich die Kernwaffentests aller anderen Atomstaaten ansieht, dann hat noch kein Atomwaffenstaat mit einer ersten Waffe begonnen, die kleiner als 10 Kilotonnen war. Kleinere Bomben mit 1 oder 1,5 Kilotonnen wurden bisher noch nie gezündet. Der Grund dafür ist, dass es tatsächlicher leichter ist, eine große Bombe zu bauen als eine sehr kleine. Diese kleinen Atombomben werden nur als Zünder für Wasserstoffbomben verwendet. Ich glaube nicht, dass Nordkorea in der Lage ist, die üblichen Entwicklungsschritte zu überspringen und von Anfang an hoch entwickelte kleine Bomben herstellen zu können. Das übliche wäre gewesen, dass Nordkorea eine Bombe zündet, die 10 bis 20 Kilotonnen Sprengstoff hat. Es wäre offensichtlich das einfachste. Die zweite Möglichkeit würde nur gelten, wenn Nordkorea es darauf angelegt hätte, zu betrügen, und ich weiß nicht, ob Nordkorea sich heutzutage ein solches Wagnis leisten kann.

Wann wird die CTBTO sichern können, ob der Test tatsächlich stattgefunden hat, wenn bereits alle die Mitteln der CTBTO-Stationen weltweit ausgeschöpft worden sind? Selbst nach den Worten des Leiters der CTBTO, Tiber Toth, wird in den nächsten Tagen niemand wissen, was tatsächlich in Nordkorea detonierte.

Jetzt haben wir nur die Möglichkeit zu warten, ob doch noch radioaktives Material an die Erdoberfläche kommt. Aber kein Mensch kann Ihnen sagen, wie lange das noch dauert. Ein Kollege hat mir kürzlich gesagt, irgendjemand habe behauptet, in vierzehn Tagen wüsste man das. Das ist Unsinn: Wenn man Glück hat, dann geht es relativ schnell, aber das hängt von den umgebenden Steinen ab. Wenn die radioaktive Partikeln durch das Gestein, also z.B. durch Risse durchgehen und auf der Erdoberfläche sind, dann kann man das möglicherweise nachweisen. Aber wenn die Stelle gut gedämmt und sehr tief ist, dann kommt es nie an die Erdoberfläche und dann werden wir nie nachweisen, ob das eine chemische oder eine atomare Sprengung war.

Herr Henger, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Camilo Jiménez.

Dieses Interview erschien am 12. Oktober 2006 in der kolumbianischen Tageszeitung El País (www.elpais.com.co).

Jiménez, Camilo: Me too, I’d like the atomic-bomb!, 13.10.06

At the end little has changed in the world since World War II and the atomic warfare of the Cold War days. Nowadays, having the atomic-bomb still means power, and to get a bomb is at this time easier than ever with North Korean nukes topping the lists in the black market this week. The world keeps on standing as is stood in the midst of the 20th Century: vis-à-vis with the threat of a chain reaction of world-wide atomic proliferation.

In 1968, the U.S., France, Great Britain, Russia, and China — the winners of WW2 and today’s five permanent members of the United Nation’s Security Council — decided for throttling off the head of what they feared could become a many-headed dragon avidly firing menaces of mass destruction in times of the Cold War. The international swoop under the threat’s head was hence to be given by the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons (NPT), which was rashly signed in 1968 by the U.S. , Great Britain and the Soviet-Union. It entered into force on March 1970.

Hitherto the NPT has been signed by 189 States (France and China only did it until 1992); it has been avoided by India , Pakistan and Israel ; it has been eminently despised, and will possibly be soon violated, by Iran . The NPT has also proven (again) to be highly inefficient: North Korean dictator Kim Jong Il, who resigned to it thirteen years ago, has tested a nuke last Monday. And finally, like any other effort of obtaining world-wide norms of conduct through treaties, the NPT is utterly vulnerable: should Iran build the bomb, so would Egypt and Saudi-Arabia want to do it; and after Monday’s explosion in northern North Korea , Japan too!

Indeed, the result of the non-proliferations efforts turns up being, one more time, the common place of modern international justice-making: after the brief flourishing of an assumed “better world” during the post-Cold War era, at the dawn of 2006 Planet Earth proves to be an extremely dangerous place to live in. Atomic weapon proliferation is on the run.

And there is not much to wonder about this. The world has in fact been giving everyone on “the dark side” enough reasons for grabbing the stew-pots of atomic madness.

The NPT is certainly a funny working artifice. Founded upon the idea of a fair negotiation, it declares the existence of only five atomic-powers, being these the five permanent Security Council members. The rest of the world, according to it, resigns to atomic armament by signing in, but obtains the right of using nuclear energy for civilized purposes with the approval and supervision of the International Atomic Energy Agency (IAEA). Additionally, the Treaty contains a sort of promise of the atomic-powers to slowly shut down their atomic-arsenals.

But nothing of the sort has happened. Neither nuclear energy has been used properly by undersigning nations; nor the five atomic-powers have even showed the willingness to start dismantling their atomic-arsenals (45 000 declared warheads are still intact); nor all NPT-signing countries are trustworthy (and not only Iran is being meant here); nor all NPT-signing countries must obey the Treaty: they can simply jump out of the philanthropic caravan back into the unruly jungle of illegality, and produce the bomb. It’s as simple as that.

With its depart from NPT on 10th April 1993 (after years of great diplomatic efforts) North Korea, an infamous communist dictatorship still existing in a globalized 21th Century world, stepped out into the jungle—and today, it has enough plutonium for producing at least nine serviceable warheads. North Korea has become a world-power, literally, from one day to the other.

IAEA’s Director General, Mohammed ElBaradei, is right by saying that the reported nuclear test threatens the nuclear non-proliferation regime and that it creates serious security challenges for the international community. If Dictator Kim Jong Il does have the nuclear weapons he alleges to possess, he could proliferate atomic weaponry and atomic know-how to underground organizations, while at the same time obtaining enough money from these deals in order to survive the punishments already heralded by the international community. Hell of a stunt.

But if North Korea’s trick works out and the dictatorship subsists the wide-spread reactions against it’s atomic-power, I mean, if North Korea consolidates as a world-menacing power in the Far East, then the world did change last Monday. Thomas Friedman’s tremor facing the possibility of “a nuclear Asia, a nuclear Middle East and a disintegrating Iraq in the heart of the Arab world, with its destabilizing impact on oil prices and terrorism” might turn to be truth in the forthcoming years. And that day me too, I’d then like having the bomb!


Allendorf, Leif: Neoliberalismuskritik, 10.10.06

In jüngster Zeit regt sich Unmut über den real existierenden Kapitalismus, und zwar auch in Kreisen, wo man dies nicht gewohnt ist. So forderte NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers kürzlich dazu auf, sich von der „Lebenslüge“ zu verabschieden, Steuersenkungen würden für mehr Arbeitsplätze sorgen. Sein Parteifreund, der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus, brachte stattdessen die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ins Gespräch. 800 Euro des auch als Bürgergeld bezeichneten Unterhalts sollen das kostspielige Sozialsystem ersetzen. Was noch vor wenigen Monaten unmöglich schien: So verschiedene Parteien wie CDU und Grüne, Linkspartei und sogar die marktliberale FDP entwickeln derzeit alternative Konzepte. Mit prinzipieller Ablehnung reagiert allein die SPD.
Die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003, in der das Staatsoberhaupt ankündigte, statt der Arbeitslosigkeit künftig die Arbeitslosen zu bekämpfen, nimmt der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach zum Ausgangspunkt seiner Abrechnung Das Reformspektakel : warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient.. “Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen.” Zum Thema der Rentenanpassung heißt es: “Was unter Bundeskanzler Kohl als Kahlschlag gebrandmarkt wurde, gilt inzwischen als Reformprojekt.” Das allgemeine wirtschaftsliberale Denken ist gegen Kritik resistent: “Es ließ sich vom Widerspruch empirischer Konjunkturanalysen, Kreislaufdiagnosen, nachfrageorientierter Szenarien sowie vom Nachweis tatsächlicher Wechselwirkungen der monetären und realwirtschaftlichen Sphäre nicht beeindrucken.

Schöne Aussichten: Revolution von oben 2006

Als ein tief in der christlichen Soziallehre verwurzelter Mensch formuliert Hengsbach zwei Forderungen: “Die am Rand stehen, sollen nicht den Preis dafür zahlen, dass es den Höherverdienenden besser geht. Und den Wohlhabenden darf es besser gehen, solange die Lebensqualität der Benachteiligten nicht sinkt.”

Albrecht Müller (siehe Foto links), bis 1994 für die SPD im Bundestag, bezeichnet die mantrahaft in Funk und Fernsehen wiederholten Glaubenssätze des Neoliberalismus als “Denkfehler, Mythen und Legenden”, so unter anderem : “Steuersenkungen schaffen Arbeitsplätze.” Ausgerechnet Rot-Grün habe sich als “Rammbock der neoliberalen Revolution” betätigt, mit desaströsen Folgen für das eigene Lager: “SPD und Grüne haben den Konservativen mit ihrer Politik und mit ihren programmatischen Erklärungen den Weg dafür bereitet, nach einer Machtübernahme spätestens im Jahre 2006 ungestört und ohne Widerstand von politischer Seite die Revolution von oben durchzuführen und den Abbau sozialstaatlicher Regelungen zu realisieren.”

Das Steuerwunder auf den Cayman Islands

Der Journalist und Autor Harald Schumann beschreibt in seinem Buch Die Globalisierungsfalle: Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand das „Cayman-Wunder“. Die Cayman-Islands sind eine Inselgruppe in der Karibik südlich von Kuba, britisches Territorium mit Steuersouveränität. Die Hauptinsel ist 14 Quadratkilometer klein, hat 15.000 Einwohner – aber 500 Banken. Es gibt kein deutsches Kreditinstitut, das es seinen Kunden nicht anbieten würde, irgendeine Art von Steuerflucht auf die Cayman-Islands zu begehen. Neben Cayman gibt es 50 vergleichbare Steuerfluchtorte. Schätzungen des US-Finanzministeriums zufolge werden in diesen Steueroasen Jahr für Jahr etwa fünf Billionen US-Dollar der Besteuerung der Länder, in denen die erbracht werden, entzogen. Als Folge würden allein in Deutschland nach Schätzungen des Bundesamtes für Finanzen über die organisierte Steuerflucht an solche Orte Summen, die etwa der Größenordnung der jährlichen Neuverschuldung entsprechen, verloren gehen.

Damit geht einher ein „jobless growth“, Wachstum ohne Arbeit. Der Siemenskonzern hat zwischen 1992 und 1996 seinen weltweiten Gewinn um 15 Prozent gesteigert – und gleichzeitig 20 Prozent seiner Stellen abgebaut, 50.000 Mitarbeiter. In der Produktion der so genannten Handys, oder, in Schumanns Worten, der „kleinen Terrorgeräte“, wo bei Siemens Zuwachsraten von 25-30 Prozent pro Jahr zu verzeichnen waren, gab es fast keine zusätzlichen Jobs, weil die Produktivität pro Kopf in der gleichen Größenordnung zugelegt hat. Airbus plant im deutschen Bereich die Verdoppelung der Produktion und wird voraussichtlich dennoch keine neuen Leute einstellen und wenn, dann lediglich als Zeitarbeiter, vermittelt über Zeitarbeitsfirmen.
Viele, die ihre sicheren Jobs verlieren, sind nach Schumanns Einschätzung nicht zu lebenslanger Arbeitslosigkeit, sondern einfach nur zu schlechteren Jobs verdammt. Insgesamt seien inzwischen ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse Nicht-Norm-Arbeitsverhältnisse. Noch 1980 machten solche Arbeitsverhältnisse weniger als 20 Prozent aus.

Wirtschaftet die Wirtschaft uns also arm? Von dem einst selbstverständlichen Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen, ist schon lange nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Wo immer über dringend nötige Reformen diskutiert wird, heißt es: Löhne senken, Wachstum steigern, Beseitigung aller Handelshemmnisse und Entlastung der „eigentlichen Leistungsträger“, der Unternehmen, von Steuern und Abgaben. Obwohl Wirtschaftsexperten wie Joseph Stiglitz oder George Soros längst die verheerenden Folgen einer ungehemmten Liberalisierungspolitik für Wirtschaft wie Gesellschaft beschrieben haben, werden diese Patentrezepte unverdrossen angeboten. Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Afheldt unterzieht in seinem Buch Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft die „harten Fakten“ aus 25 Jahren Wirtschaftsliberalismus einer schneidenden Analyse. Sie zeigt, dass vom wachsenden „Sozial-Produkt“ immer weniger bei den Bürgern ankommt, dass die derzeitige Wirtschaftsordnung zu einer gespaltenen Gesellschaft führt – und damit für alle zunehmend unwirtschaftlich wird.

Attac & Co.

Was ist gegen die Fehlentwicklung der Globalisierung zu tun? Seit einigen Jahren macht das Aktivisten-Netzwerk Attac auf sich aufmerksam. Das Autorentrio Christiane Grefe, Matthias Greffrath und Harald Schumann wagen in attac. Was wollen die Globalisierungskritiker? eine Bestandsaufnahme dieser Bewegung. Christina Janssen im Deutschlandfunk lobt: “Die mitunter diffuse Argumentation der Globalisierungskritiker, ihre teils radikal-ideologischen Verbalattacken gegen Weltbank, Internationalen Währungsfonds und Welthandelsorganisation versuchen Grefe, Greffrath und Schumann mit Fakten zu untermauern. Wer wissen möchte, wie die Politik von Weltbank, IWF und Co. in der Praxis aussehen, findet hier eine plastische, teils erschreckende, teils natürlich auch zugespitzte Schilderung. So dient der schmale Band nicht zuletzt all jenen als Argumentationshilfe, die mit Attac sympathisieren.”

Die Arbeitsideologie hinterfragt

Der Sozialwissenschaftler Manfred Füllsack wagt es, die Arbeitsideologie in Frage zu stellen. In seinem Buch Leben ohne zu arbeiten. Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens stellt er die Trennung von Arbeit und Einkommen zur Diskussion. Im Gegensatz zur Debatte um ein „Ende der Arbeit“ geht Füllsack davon aus, dass die menschliche Arbeit künftig nicht weniger wird, sich sogar vermehrt. Es sei aber notwendig, diese Arbeit mithilfe eines garantierten Grundeinkommens vom Lebensunterhalt zu entkoppeln, „auf dass damit auch die Arbeit schließlich so frei werde, wie dies die Wissenschaft schon lange für sich proklamiert.“ Die „arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer arbeitskreise“ (agspak.de) lobt: “Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung, unter dem Blickwinkel der stets wachsenden Produktivität der Arbeit auf Grund einer ständig weiter akkumulierten Problemlösungskapazität, ist spannend zu lesen. (…), wobei der Autor nicht den Eindruck zu erwecken versucht, dass damit schon alle Probleme der Arbeit gelöst wären.” Das österreichische Portal sozialliberale.net sieht das Problem allerdings ganz woanders. Danach nennt Füllsack “treffend den Grund, warum sich keine der ‘traditionellen Parteien’ für ein Grundeinkommen einsetzt: Die Idee des Grundeinkommens wurde im Laufe der Zeit sowohl von eher ‘linken’ als auch von eher ‘wirtschaftsliberalen’ Bewegungen vertreten und auch angegriffen und lässt sich daher auch nicht einfach in ein Links-Rechts-Schema einfügen, weil sie „zu sehr an das Gedankengut [des politischen Mitbewerbers] erinnert”. Das Fazit: “Auch wenn viele Fragen wie die nach der Finanzierung eines Grundeinkommens oder die nach dem zu erwarteten Verhalten von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern noch einer weiterführenden Diskussion bedürfen (…). Die Grundeinkommensidee ist weniger eine Frage der Finanzierung als vielmehr eine Frage des politischen Willens.”

Prognose: Der Kapitalismus ist nicht mehr zu retten

Ganz radikal ist der Nürnberger Soziologe Robert Kurz, der bereits 1994 mit Der Kollaps der Modernisierung mit der Ideologie der freien Marktwirtschaft aufräumte. Sein Schwarzbuch Kapitalismus vertritt die Ansicht, dass es nur noch ein Abenteuer geben kann: die Überwindung der Marktwirtschaft jenseits der alten staatssozialistischen Ideen. Danach mag eine andere Geschichte beginnen. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen sinkt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweist sich als Illusion. Die Marktwirtschaft wird mit ihren Produktivitätssprüngen – Automation und Globalisierung – nicht mehr fertig. In einer Analyse der drei großen industriellen Revolutionen zeigt Robert Kurz, weshalb das bisherige System von Arbeit, Geldeinkommen und Warenkonsum nicht mehr zu retten ist. Robert Kurz seziert die Marktwirtschaft, zeichnet die drei industriellen Revolutionen nach und belegt, wie der Kapitalismus aus weitverzweigten Wurzeln und vielen Quellen im Laufe der Geschichte Varianten seiner inneren Widersprüchlichkeit hervorgetrieben hat: Liberalismus und Sozialdemokratie, den Staatssozialismus als Form nachholender Modernisierung, aber auch immer wieder Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Kurz beschreibt, wie die bisherigen Gegenentwürfe das Wesen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet ließen und selber Trendsetter der permanenten Modernisierung waren. „Aber ausgerechnet in demselben Maße, wie er von allen Parteien zum alternativlosen Schicksal der Menschheit erklärt wird, treibt der Kapitalismus heute auf eine ausweglose Situation zu.“

Literaturhinweise