Filmemachen als Beruf. Regisseur Cédric Klapisch im Interview mit Caroline Elias und Thomas Weber, 30.06.05

Im Gespräch mit Caroline Elias und Thomas Weber berichtet der durch den Film „L’Auberge Espagnole“ europaweit bekannt gewordene Regisseur Cédric Klapisch über seine Anfänge als Filmemacher und über die Filmszene in Frankreich.

Hier in Deutschland hat man seit einigen Jahren den Eindruck, dass eine neue Generation junger Filmemacher den Kinomarkt in Frankreich beeinflusst, die aber Mühe hatte, sich zu etablieren. Hatten auch Sie Probleme, ihren ersten Film zu finanzieren?

Ich glaube, ich gehöre zu dieser Generation von Filmemachern, der ziemlich geholfen wurde am Anfang. Mein erster Film, „Riens du tout“, wurde von Regisseur Eric Rochant produziert, der gleich danach auch den ersten Film von Mathieu Kassowitz produziert hat. Ich habe den Eindruck, das durch den Erfolg von „Un monde sans pitié“ (Regie: Eric Rochant, Anm. d. Red.) der Weg für andere junge Regisseure frei war. Ich glaube es war eine Zeit, in der junge Regisseure stark unterstützt wurden, in der Canal+ und Arte gegründet wurden, es plötzlich mehr Fernsehkanäle gab und damit mehr Geld für Filmproduktionen, da von politischer Seite das Fernsehen verpflichtet wurde, dem Kino zu helfen. Ich denke, ich habe von dieser Entwicklung profitiert. Die Zeit und die Umstände kamen jungen Filmemachern entgegen. In den achtziger Jahren gab es vielleicht nur drei junge Filmemacher, die herausragten – man zitiert in dem Kontext immer Besson, Carax und Beneix – in den Neunzigern waren es eben sehr viel mehr.

Es gab seitens der Regierung vor allem Unterstützung für die Realisierung des ersten Films. Daraus ergibt sich das Problem der Finanzierung des zweiten Films, an dem viele Regisseure in Frankreich scheitern. Wie war das bei Ihnen?

Ich habe das Problem erfolgreich umgangen, denn meinen zweiten Film habe ich fürs Fernsehen realisiert („Le péril jeune“). Für mich war es sehr schwer gewesen, den ersten Film zu machen, ich habe drei Jahre gebraucht, denn es war ein Film, der sehr schwer zu finanzieren war und ARTE hatte mir danach angeboten, ihn auszustrahlen. So erschien es mir schneller, den nächsten Film gleich fürs Fernsehen zu drehen. Ich hatte große Lust, etwas Einfacheres zu machen. Es war nötig, den Film schnell zu schreiben, denn er sollte sechs Monate später fertig sein. Ich hatte Lust, etwas zu machen, das schneller zu bewerkstelligen war. Und daraus habe ich gelernt, dass das geht und dass ich das kann. Der hatte ein sehr kleines Budget und kam später sogar ins Kino, nachdem er einen Preis gewonnen hatte auf einem Fernsehfestival. Gaumont hat ihn dort entdeckt und herausgebracht. Das war alles gar nicht geplant, und aus Zufall wurde der Film doch noch zu einem Kinofilm.

Hat der Preis der Kritik auf der Berlinale Ihnen geholfen?

Ja. Ich denke, Preise helfen immer, denn damit ist immer eine gewisse Kontinuität in der Arbeit verbunden. Der Gewinn eines Preises, vor allem eines ausländischen Preises, ist immer mit einem gewissen Renommé verbunden, was einem einfach die weitere Arbeit erleichtert.

Wenn man Ihre Filme anschaut, hat man den Eindruck, Sie wechseln häufig das Genre…

Ich war lange Zeit Lernender, musste lernen, wie man Filme dreht. Ich habe viel Respekt vor Leuten wie Hitchcock, z.B., die seit dem Beginn ihrer Laufbahn ihr Genre entdeckt haben und unverwechselbar geworden sind. Ich glaube, sie haben einfach begonnen, ihre Filme zu machen und dann folgte eine Entwicklung, die das unterstützte. Ich mag die Idee, dass man am Anfang die Dinge erst einmal ausprobiert. Und weil es sich in meinem Fall um Kino handelt, hatte ich immer Lust, die Grenzen eines Genres auszutesten, die Genres auch zu mischen, Elemente des Theaters zu benutzen. Ich hatte keine Lust mich festzulegen, sondern wollte lieber die Dinge ausprobieren, den Lernprozess begreifen. Ich mag Filmemacher, die unterschiedliche Filme machen.

Sie drehen Filme, die sehr genau die soziale Situation der Protagonisten widerspiegeln. Selbst in „L’Auberge espagnole“ kann man das gut beobachten.

Ich denke, mein Blick wurde in den siebziger Jahren geschärft, damals zählten Fragen der Gesellschaft und Politik zu den wichtigen Dingen. Und ich glaube, dass man nicht von Menschen sprechen kann, ohne die Gesellschaft einzubeziehen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Blick auf die Menschen und dem auf die Gesellschaft – nicht nur psychologisch, sondern auch soziologisch und sozial. Genau das interessiert mich am Kino. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass es diesen politisch gefärbten Blick auch in „L’Auberge espagnole“ gibt, der die sozialen Beziehungen spiegelt. Gleichzeitig weiß ich, dass der Film das Leben von Menschen verändert hat, die vorher nicht wussten, dass es Erasmus gibt. Der Film hat funktioniert wie eine Werbung des Erasmus-Programms (EU-Stipendien für Studentenaustausch, Anm. d. Red.) Und ich freue mich, einen Film gemacht zu haben, der Leute verändert hat, denn das ist nicht so häufig. Dieser Film war unterhaltend und hat gleichzeitig etwas bewirkt. Ich bin wirklich froh darüber, ihn gemacht zu haben.

„L’Auberge espagnole“ hatte drei Millionen Zuschauer in Frankreich? Hat der Erfolg Sie überrascht?

Ja, ich war überrascht, dass er in Frankreich so gut lief, denn ich denke, der Film hat eine sehr besondere Komplexität, so dass es mich tatsächlich gewundert hat, dass er so populär war. Aber ich habe den Eindruck, dass die Leute, denen der Film gefallen hat, das Thema mochten, die Reise durch Europa, die Gefühle eines jungen Mannes auf der Reise, der das Leben kennenlernt und erwachsen wird. In den Gesprächen mit den Zuschauern gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Die Leute reagierten sehr emotional, sie identifizierten sich stark mit dieser Geschichte, das waren nicht immer Studenten, sondern auch ältere Menschen.

Ist der Erfolg des Films damit zu erklären, dass vielleicht mehr junge Leute ins Kino gingen als sonst?

Nein, ich glaube nicht, dass es die jüngeren Zuschauer waren. Das Publikum war gemischt.

Wie würden Sie selbst ihren Stil charakterisieren? Am Anfang von „L’Auberge espagnole“, spielen Sie mit einer Schnittfolge im Zeitraffer, um einen leichten komödiantischen Effekt zu erzeugen…

Sicher, der Schnitt ist sehr wichtig. Zunächst versuche ich am Set eine Art von Wirklichkeit zu finden. Der Schnitt ermöglicht mir, diese Wirklichkeit artifizieller zu gestalten. Ich will nicht sagen, dass es mir darum ginge, artifizielle Filme zu drehen. Der Schnitt ist aber wichtig, um Gefühle zu erzeugen. Ich weiß, dass man sagt, zuviel davon zerstöre die Emotionen, aber ich versuche immer einen Weg zu finden, der gleichermaßen die Realität und die Manipulation der Realität sichtbar werden lässt. Es ist zugleich immer ein Spiel, denn die Darstellung der Realität ist niemals die Realität selbst. Insofern versuche ich diesen Doppeleffekt immer besser hinzubekommen: Die Realität darzustellen und ihr im selben Moment durch den Schnitt zu entfliehen.

Mit welchen filmischen Mitteln arbeiten Sie bevorzugt – oder vertrauen sie vor allem den Schauspielern?

Ich glaube, das gehört zusammen. Es hängt auch von den unterschiedlichen Filmen ab, mal ist der Schnitt wichtiger, mal der Ton, mal die Schauspieler oder die Kamera. Das ist jedes Mal anders. Manchmal arbeitet enger mit den Musikern oder man arbeitet mit besonderem Licht. Wirklich interessant ist nur, wie sich alles zusammenfügt.

Wie ist Ihr Verhältnis zu den Regisseuren der Nouvelle Vague? Sehen Sie sich selbst in der Tradition des Autorenfilms?

Ich habe dazu eine eigenartige Beziehung, denn die Kritik in Frankreich hat die Regisseure der Nouvelle Vague immer unterstützt, ich aber gehöre grundsätzlich nicht zu diesem Clan. Ich habe eher eine Beziehung zu der unterhaltenden und kommerziellen Seite des Kinos. Ich fühle mich den Autoren der Nouvelle Vague nicht unbedingt nah, aber mich beschäftigt das Autorenkino besonders, weil es der persönliche Bezug eines Regisseurs zu seinen Filmen ist, der mich interessiert, das Besondere an Autoren mit eigener Handschrift wie Dreyer, Almodovar und Kiarostami.

Das, worauf ich beim Filmen Lust habe, ist herauszufinden, wie ich die Dinge sehe. Oder in den Worten Truffauts: „Autorenkino bedeutet nicht, sich für sich selbst zu interessieren, sondern zu verstehen, worin die Geschichten der anderen bestehen.“

Aber ich fühle mich nicht berufen, das Autorenkino zu verteidigen. Denn die Nouvelle Vague hat – und nicht nur sie, auch das, was danach kam – eine gewisse Erstarrung hervorgebracht und ich habe keine Lust, Teil dessen zu sein.

Es stimmt, ich habe den Ruf, zu kommerziell zu sein. Man sagt mir nach, ich würde das Autorenkino verderben, nun, dass macht mir nichts aus. Aber es stimmt, ich fühle mich Truffaut näher als Godard oder Rivette etwa.

Sie haben Ihr Handwerk in New York gelernt. In einem Interview haben Sie erklärt, dass Sie zweimal die Aufnahmeprüfung der Pariser Filmhochschule IDHEC nicht bestanden haben, weil sie mit deren Vorstellungen nicht einverstanden gewesen waren.

Wissen Sie, das war eine Gesprächsrunde mit drei Leuten und ich habe es geschafft, mich mit jedem einzelnen von ihnen anzulegen. Das war eine eigenartige Situation. Sie wollten von mir wissen, welche Regisseure ich schätze, da hab ich gesagt: Kurosowa, Hitchcock et Fellini. Darauf wollten sie wissen, ob ich denn französische Regisseure ablehnen würde? Worauf ich erwiderte, dass sie doch von mir hätten wissen wollen, welche Regisseure ich mag…

Und dann haben sie mir vorgeworfen, nicht die gleichen Leute zu mögen wie sie, und zwar Rohmer, Rivette oder Eustache. Das hat mich wirklich überrascht, denn es war das einzige Mal, dass ich solche Reaktionen hervorrief. Aber solche Einlassungen waren typisch für die Zeit, sie kamen übrigens häufiger von Franzosen als von Amerikanern. Das war alles sehr dogmatisch damals, aber das wusste ich nicht vorher. Ich habe gelernt, damit etwas maßvoller umzugehen. In Frankreich gibt es heute glaube ich eine immer stärkere Spaltung zwischen an der Nouvelle Vague geschulten Kritikern und Leuten wie mir oder Mathieu Kassowitz, Jean-Pierre Jeunet, Jean-Pierre Bacri und Agnès Jaoui.

Die neue Generation des Kinos arbeitet immer enger und in jeweils anderer Funktion zusammen, das geht bis zur Besetzung von Rollen. Gibt es da eine Art Gemeinschaft?

Wir sind ein kleines Land, also kennt jeder jeden. Es arbeiten nicht alle dauernd zusammen, aber jemand wie Noémie Lvovsky kommt schon viel herum, sieht viele Leute, schreibt hier mal für jemanden das Drehbuch, spielt dort mal im Film mit. Die anderen Filmemacher, von denen ich sprach, Jeunet, Kassowitz usw. habe ich auf den Kurzfilmfestivals kennengelernt. Vor zehn, fünfzehn Jahren haben wir uns öfter gesehen, wir haben viel miteinander geredet, aber nun hat jeder seine eigenen Projekte, wir sehen uns seltener als früher.

Vielen Dank für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten Caroline Elias und Dr. Thomas Weber am 26.4.2005 in Babelsberg im Rahmen der Reihe „Mit Frankreich am Set“. Danke an HFF, Institut Français, Mediaoffice und das MAE. Übersetzung: Dörte Richter

Filmemacherin Catherine Breillat: „Unsere Intimität gehört uns nicht mehr.“ Catherine Breillat im Interview mit Dörte Richter, 15.03.05

Catherine Breillat im Interview mit Dörte Richter

Ihre Filme handeln immer von der weiblichen Identitätsfindung über den Weg der Entdeckung der eigenen Sexualität. Sie sagten einmal: „Die Wahrheit der Liebe ist ihre Körperlichkeit“. Warum immer wieder dieses Thema?

Jedes Mal, wenn man mich fragt, warum ich nicht aufhöre, über Sexualität zu reden, muss ich kontern: Muss man darüber nicht ständig sprechen? Man sollte darüber nicht schweigen, man sollte die ganze Zeit darüber reden, weil die Gesellschaft ständig in einer widerlichen Art und Weise davon spricht, und vor allem ohne jede Reflexion. Sexualität wird immer mit Konsum verwechselt. Die Lust aber ist das eigentliche Vergnügen. Das ist fürchterlich widersprüchlich. Niemand will über die sexuelle Identität sprechen, die auf eine andere Art soviel philosophischer und interessanter ist. Also wird Ihnen eine sexuelle Identität aufgezwungen und zwar in abwertender Weise, wenn man eine Frau ist. Also, es tut mir leid, ich muss mich damit einfach auseinandersetzen.

Aber glauben Sie, dass die Sexualität die einzige Quelle ist, auf der sich die eigene Identität gründet?

Man muss zwei Dinge voneinander trennen: Es gibt eine sexuelle Identität, die sich mehr über Selbstbeobachtung konstituiert, wie in Romance, mit Hilfe von zuweilen brutalen Erfahrungen. Und es gibt die zweite Möglichkeit der Erkenntnis, über den Weg einer philosophischen Reflexion über die sexuelle Identität, auch darüber, von welchen okkulten Kräften unsere Welt regiert wird, von wie vielen Verboten und Verboten und Verboten. Und da es derart viele Verbote und Verweigerungen gibt, glaube ich, dass unsere Intimität uns nicht mehr gehört. Sie wird schon von diesen Kräften regiert. Also sollte man die Erfahrung machen, sich von dem zu befreien, was einen umschließt, was einen bestimmt bis hinein in die intimsten Gesten. Ich glaube immer mehr, dass dies die Möglichkeit enthält, den liebenden Körper vom sozialen Körper zu befreien. Dort gibt es keine Obszönität mehr. Dieser Körper ist dann woanders. Aber dieser Übergang vom sozialen zum liebenden Körper ist mehr oder weniger schmerzhaft, mehr oder weniger lächerlich. Ich bin mittlerweile etwas älter, aber ich erwische mich immer noch zuweilen, das Verhalten eines jungen Mädchens zu haben. Das ist erschreckend. Ich schaffe es, das zu reduzieren, auch es als lächerlich zu akzeptieren, ich weiß, wie man das inszeniert, aber ich schaffe es nicht, es zu ändern.

Was ist das? Das Verhalten eines jungen Mädchens?

Nun, absolute Schüchternheit, diese Angst, frei zu sein. Das hängt zusammen mit den Hemmschwellen, die uns eingepflanzt wurden und die uns steuern. Also sollte man versuchen, solange man jung ist, sich davon zu befreien, um man selbst zu werden…

…um frei zu werden?

Ja, um endlich frei zu sein. Sich nicht mehr schuldig, verklemmt, schüchtern und befangen zu fühlen. Denn wenn man vor sich selber Angst hat, ist man immer grotesk. Es gibt Schauspieler, die sich sehr stark zensieren, weil sie denken, sie sind nicht gut. Sie sind dann tatsächlich nicht gut auf der Leinwand. Die Frauen, die denken, man könnte sehen, dass sie keinen schönen Busen haben, verstecken ihn so, dass man es sieht. Wenn man sich dessen nicht schämt, sieht man es nicht mehr. Man sieht den Menschen an, ob sie sich in ihren Körpern wohl fühlen. Wer das kann, ist immer schön. Körper, die sich schlecht bewegen, sind traumatisiert und gefangen in einem Denken, nicht so zu sein, wie es erwartet wird.

Sie hatten seit Ihrem ersten Film Une vraie jeune fille mit den französischen Zensurbehörden zu kämpfen.

Ich wurde niemals zensiert in Frankreich, das müsste nur mal gesagt werden. Man sagt immer Une vraie jeune fille sei zensiert worden, er war es nicht, er war freigegeben ab 18, somit konnte er problemlos in die Säle kommen. Die, die ihn verbannt haben von dort, waren die Verleiher selbst. Das heißt, es gab ein fiktives X, es gab Leute in dieser Zeit, die den Film nicht auf der Leinwand haben wollten, aber er fiel nie unter ein Verbot. Ich erinnere mich in dieser Zeit an eine Debatte mit den Behörden. Wir stritten darum, wann der Film als pornographisch eingestuft würde, und die Behörde war der Meinung, dies würde der Fall sein, wenn ich eine Großaufnahme des weiblichen Geschlechts zeigen würde. Ich fragte sie: “Haben wir nicht alle dieses Bild zwischen unseren Beinen, ist es wirklich so Ekel erregend, wie Sie mir sagen? Und Sie, haben Sie kein Geschlecht zwischen den Beinen? Ist das auch so hässlich, so abscheulich, so degradierend, wie Sie mir glauben machen wollen, nach dem, was Sie hier sagen?” Es ist nötig, diese Fragen zu stellen, denn alles andere ist demütigend. Letzten Endes muss man sich fragen, warum Sexualität einen so übergreifenden Schrecken auslöst. Weil man die Frauen hasst! Es wird nur nicht so genannt, aber es ist klar, dass es uns vergiftet. Sicher, ich schäme mich. Für nichts. Ich zeigte mein Geschlecht, und im Endeffekt bin ich darauf alles andere als stolz.

Man merkt Ihren Filmen diese Auseinandersetzung immer wieder an. Besonders seit Romance sind Sie radikaler geworden, abstrakter, weniger orientiert an einer Erzählweise, die auf quasi realen Figurenbeziehungen und Handlungen beruht.

Ich wollte immer das Verbotene materialisieren, denn ich will wissen, warum etwas verboten ist. Danach kann ich mir sagen: “Gut, ich habe es verstanden”. Aber generell habe ich immer beobachtet, dass Verbote eine ungemein schöne Seite haben, die ich entdecken musste. Und natürlich suche ich als Regisseurin nach Bildern, die es noch nicht gibt. In der Realität existieren sie, sind aber begrenzt auf den Blick, den man ihnen aufzwingt. Ich kann mir jedes Bild der Welt erlauben, aber es lebt von dem Blick, den ich darauf werfe, und darauf vertraue ich. Viele andere haben kein Vertrauen in diesen Blick und verbieten sich eine Menge. Ich verbiete mir gar nichts, ich zensiere mich da kein bisschen. Ich habe manchmal auch eine riesige Angst davor, aber immer war es so, dass sich die Sachen als die schönsten herausgestellt haben, vor denen ich die meiste Angst hatte.

Denken Sie, dass diese okkulten Kräfte, von denen Sie sprechen – die moralischen Ordnungen, in denen wir alle uns bewegen müssen – Religion, Familie, Gesellschaft – die Entwicklung eines jungen Mädchens zur Frau in so starkem Maße beeinflussen, wie Sie es immer wieder zeigen?

Ich denke, das sieht man in einem Film wie Une vraie jeune fille, der die Scham dem eigenen Körper gegenüber thematisiert. Eine meiner Definitionen von Kunst ist die, dass der Künstler vieles aus dem Unbewussten heraus fabriziert, er hat in diesem Sinne auch kein politisches Bewusstsein. Trotzdem glaube ich, dass Kunst exakt auf die Fragen antwortet, die nicht gestellt werden, die ihnen aber plötzlich so ins Gesicht schlagen können, dass man sie als politische wahrnimmt. Wenn man steif und fest behauptet, eine Religion zu respektieren, hat man keine Lust zu begreifen, was sich dahinter verbirgt und macht sich zu ihrem Komplizen. Diese Komplizen sind vor allem Männer. Sehen Sie, in Frankreich haben wir überall das Problem mit dem Laizismus. Nehmen Sie nur die große Debatte um das Kopftuch. Aber das Kopftuch ist kein Glaubensbekenntnis, in dem Sinne, es umzubinden und sich für die Ehefrau Gottes zu halten. Vielmehr drückt es aus: Ich bin eine Frau, die keine legale Existenz mehr auf der Erde hat. Es ist trotz allem das, eine Sharia. Unterdrückung der Frau durch die Männer. Das Kopftuch signalisiert: Ihr habt kein Recht mehr, denn dieses Kopftuch wählt man nicht selbst, man bekommt es auferlegt.

Warum glauben Sie, spielt Scham oder Schamhaftigkeit so eine große Rolle in der Entwicklung einer sexuellen Identität der Frau?

Die Antwort ist in Anatomie de l’enfer: Wenn die Hölle eine Anatomie hätte, wäre es der weibliche Körper. Da gibt es keine andere Antwort. Schauen Sie, was ich im Alten Testament gefunden habe. Im Hebräischen sind Nacktheit und Geheimnis ein Wort, nicht zwei. Das Geheimnis ist die Nacktheit, es ist dasselbe, das, was man nicht sehen soll. Es ist das Tabu, ein religiöses Tabu. Aber dann hat man Tabu als Synonym für Scham erfunden. Das heißt, im Französischen hat man ihm seinen Namen genommen. Diese Sinnverschiebung von Nacktheit und Geheimnis ist für Frauen sehr schmerzhaft und erklärt die Scham. Man hat Frauen dieser Scham unterworfen, die letztlich diese Nacktheit ist, ihr Geschlecht.

Der Film Anatomie de l’enfer ist die Verfilmung Ihres Buches Pornocratie. Er erzählt die Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau in vier gemeinsamen Nächten. Am Ende dieser Begegnung tötet der Mann die Frau. Schon beim Lesen habe ich sehr darüber nachgedacht, warum Sie dieses Ende gefunden haben.

Nun, das habe ich auch erst besser beim Drehen des Filmes verstanden. Die Bücher bleiben mir selbst zuweilen etwas verborgen. Der Film ist stärker auf die Figur des Mannes konzentriert. Die erste Konfrontation zwischen dem Mann und dem Zuschauer ist die: der Mann ist ein Scheusal. Und der Prozess, der ihn in ein menschliches Wesen umwandelt, ist der Weg der Emotion, die Liebe dieser Frau. Das gibt ihm seine Menschlichkeit. Menschlichkeit im Sinne von Schwachheit, Verletzlichkeit. Aus der männlichen Sicht ist es eine Schwäche, menschlich zu sein. Meiner Meinung nach ist es gerade das Gegenteil. Menschlichkeit ist Liebe, Zärtlichkeit, Intelligenz, Sprache, Wissen. Diese Erfahrung macht er in der Begegnung mit der Frau. Er geht diesen Weg, aber er empfindet auch ein riesiges Erschrecken über die Emotion, sich in diesen Körper, in dieses weibliche Sein hinein fallen lassen zu können. Dieses Gefühl ist derart groß, dass er sich vor ihm retten will, deswegen tötet er sie. Nachdem er sie getötet hat, versteht er erst, dass er sie geliebt hat, dass er ihre Liebe und ihre Schwachheit geliebt hat. Also kehrt er zu diesem Ort zurück.

Aber dieser Mord ist sehr brutal. Er zerstört am Ende die Vision von gegenseitigem Verständnis und Erkennen beider Geschlechter, die der Film thematisiert.

Nein. Den Film muss man als Märchen verstehen, als ein Märchen, das eine Initiation erzählt. Diese Märchen enden anders als gewöhnliche Märchen. Eine Initiation geschieht immer über den Weg des Verlusts. Man erlebt etwas, vielleicht diese Liebesgeschichte, am Ende verliert man den geliebten Menschen. Aber daraus gewinnt man eine Erkenntnis, darum geht es doch. Dieser Mann ist stärker als zuvor, denn er hat seine Schwachheit und seine Menschlichkeit erfahren. Er ist ein anderer Mann geworden, ein menschlicher Mann, kein bestialischer Mann mehr. Er wird das Bedürfnis haben, der Welt zu zeigen, dass er eine neue Person geworden ist. Und diese neue Person wird eine neue Begegnung mit einer anderen Frau haben, und vielleicht an einer Gesellschaft teilhaben, in der die Männer sich Frauen gegenüber anders verhalten werden.

Was, glauben Sie, haben Ihre Filme verändert?

Ich glaube, ich habe Wege eröffnet, immerhin. Doch das denke ich, nein, ich bin mir dessen sicher. Aber es sind eben Wege, das will nicht heißen, wir haben jetzt die freie Autobahn zur Verfügung. Es sind keine leichten Wege gewesen. Aber sie öffnen sich, sie existieren und trotz allem, denke ich, es sind nicht die dümmsten Menschen, nicht die unwichtigsten, die meine Filme verstehen. Das ist mir wichtiger als ein großes französisches Publikum.

Madame Breillat, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dörte Richter.

Das vollständige Interview mit Catherine Breillat findet sich in: Richter, Dörte: Pornographie oder Pornokratie? Frauenbilder in den Filmen von Catherine Breillat. Berlin 2005 (AVINUS Verlag, ISBN 3-930064-55-3 Pick It! , 100 S., 16,00 EUR).

Eine gekürzte Fassung des Interviews erschien in der Wochenzeitung Freitag vom 13.08.2004.

Schmidt, Stefanie: Solaris in Neuhardenberg. Martin Wuttkes Theater-Inszenierung des Stanislaw Lem-Romans erfasst nicht die Komplexität des Originals, 21.02.05

  • Solaris. Theaterstück nach Stanislaw Lem. Textbearbeitung und Regie: Martin Wuttke. Mit Jeanne Balibar, Inga Busch, Fedja van Huêt, Christophe Kotanyi, Jörg Pohl und Volker Spengler. Premiere: 26.08.2004, Hangar, Flugplatz Neuhardenberg.

Adaptionen von Büchern sind nicht leicht. Ein futuristischer Roman wie Stanislaw Lems „Solaris“ stellt dabei eine besondere Herausforderung dar, der sich bereits Regisseurgrößen wie Steven Soderberg gestellt haben. Inwiefern Martin Wuttkes „Solaris“-Inszenierung gelungen ist, beschäftigte Stefanie Schmidt.

„Solaris ist ein kleiner Totentanz vor dem Hintergrund einer bedrohlich erscheinenden Vergangenheit in Form von aufdringlichen, leidenden und tobenden Wiedergängern – Unerlöste allesamt – und einer Zukunft in Form eines breiigen Ozeans, der sich jeder Erforschung entzieht – launisch und unberechenbar. Der Ort: eine ächzende Forschungsstation, vollgestopft mit unbrauchbarem, in Netzwerken zirkulierendem Wissen und fragmentarischen Geschichten über die Verletzlichkeit des Menschen. Die Schauplätze: allesamt Räume des Zwangs und der Unfreiheit; alles, was sich zur Simulation der Hölle eignet.”
Martin Wuttke

Martin Wuttkes Theater-Inszenierung von Solaris auf dem ehemaligen Flugplatz in Neuhardenberg hat nochmals – wie bereits vor zwei Jahren die Soderbergh-Verfilmung mit George Clooney oder der in den 70er Jahren produzierte Tarkowskj-Film – an den legendären Science-fiction-Roman zurückdenken lassen, den der polnische Philosoph und Schriftsteller Stanislaw Lem vor mehr als 40 Jahren verfasst hat.

Überbordende Spielfassung, die Textkenntnis voraussetzt

Obwohl inhaltlich der Versuch gemacht wird, sich an den Originaltext zu halten, tut man als Zuschauer gut daran, wenn nicht das Buch, so zumindest einen der beiden Filme zu kennen. Leider nämlich ist das Ergebnis der von Castorf geprägten modernen Inszenierung weniger ein besseres Verständnis des Textes, als vielmehr eine überbordene Spielfassung, die in ihrer kausalen Logik kaum mehr nachvollziehbar ist, dafür aber zumindest visuelles Vergnügen verspricht. Die Dominanz des Optischen über das gesprochene Wort steht gleichzeitig in einem Missverhältnis zu der Schwere ambitioniert dozierter Fremdtexte: Neben Nietzsche und Heidegger, lässt Wuttke Brecht und Heine, ja sogar Goethes Mephisto – in Gestalt eines kleinen über die Wiese laufenden Hündchens – in seine Interpretation miteinfließen.

NVA-Fluggelände als Spielstätte

Dennoch erscheint der gewählte Ort für diese Geschichte mehr als passend: so kann man sich vom Hangar aus aufs weite Feld des ehemaligen NVA-Fluggeländes schauend, sehr gut vorstellen, man befände sich eben nicht mehr auf der Erde, sondern auf jener Raumstation auf Solaris, die zu Forschungszwecken dieses unbekannten plasma- und gallertartigen Ozeans gebaut wurde. Jahrzehntelange Versuche, Sinn und Zweck dieser lebendigen Materie zu erforschen – so die Story – sind erfolglos geblieben. Die Geschichte kreist nun um das Schicksal des Psychologen Kelvin (hier gespielt von dem Holländer Fedja van Hujet), der eines der letzten Forschungsteams auf dieser Raumstation retten soll.

Die Labors, in die sich die Wissenschaftler Snaut (Jörg Pohl) und Satorius (Christophe Kontanyi) verstört zurückgezogen haben, sind in Nina von Mechows Szenenbild kleine, an gläserne Gewächshäuser erinnernde Behausungen, die verloren in der Weite des Hangars oder des davor liegenden Flugfeldes herumstehen. Dort draußen steht auch ein seltsam unwirklicher Garten. Leser von Lems Buch werden sich erinnern, dass der Flieger Berton in seinem Bericht vor einer Kommission von jenem Garten spricht, der von den Strahlen des Ozeans aus seinen prägenden Erinnerungen herausdestilliert und in eine Scheinwirklichkeit versetzt worden ist.

Relativität von Moral und Erinnerung

Kaum dort angekommen, findet Kelvin Solaris und seine verbliebenen Besatzmitglieder in einem desolaten Zustand vor, deren mysteriöse Ursachen er erst mit der Zeit und anhand seiner Geschehnisse aufklären kann. Der denkende Ozean Solaris – der im Übrigen von Wuttke individualisiert wurde (Volker Spengler) – ist nämlich der Spiegel des menschlichen Bewusstseins und konfrontiert jedes einzelne Mitglied der Besatzung mit seinen am intensivsten gespeicherten Erinnerungen in Form von menschlicher Gestalt. Kelvins „Gast“ ist seine bereits vor 10 Jahren verstorbene Frau, die in Wuttkes Theaterstück – „um Verwirrungen vorzubeugen“ – von zwei Personen (Jeanne Balibar und Inga Busch) gespielt wird. Doch dem Text nach kann Kelvin – genauso wenig wie seine Kollegen – diese Gestalt nicht von der Erinnerung der wirklichen Harey unterscheiden: Eben weil sie weder Mensch, noch Kopie, sondern die materialisierte Realisierung seines Gedächtnisses ist. So kreist „Solaris“ primär um die Fragen der Relativität von Vergangenem und Zukünftigem, Moral und Erkenntnis, Schein und Sein, die Lem – wie auch Tarkowskj, der im übrigen für seine Verfilmung 1972 den Spezialpreis der Jury auf dem Filmfestival in Cannes erhielt – in seinem Buch zu größeren philosophischen Gedanken wie etwa der Unmöglichkeit des menschlichen Verstandes, letzte Erkenntnis zu erlangen, ausweitet.

Castorfsche Vermengung von Video und Theater

Während Lem in seinem Buch verstärkt auf den unsere Vorstellungskraft übersteigenden denkenden Ozean eingeht, wird dieses Thema von keiner Adaption in diesem Maße berücksichtigt. War die Tarkowskj-Verfilmung noch am stärksten dem ursprünglichen Text entlehnt, so konzentriert Soderbergh die gesamte Thematik der Solaris auf die an sich eher nebensächliche Liebesgeschichte mit George Clooney und Natascha McElhone. Wenn Wuttke auch im Vergleich Teilstücke des Buches aus dem Kontext reißt und hierbei genau das macht, wovor sich Lem gefürchtet hat – nämlich einer „Verhackstückelung“ seines Textes – , so reduziert er dennoch Solaris nicht allein auf eine „love-story in space“. Schon die gewählte castorfsche Präsentation der Vermengung von Video und Theater, lässt das Thema der Gegenüberstellung von Realität und Wahrnehmung auch zu dem des Zuschauers machen. Mit dem Verschwimmen der Konturen der Schauspieler hinter dem Plexiglas der Gewächshäuser stellt sich die Frage, welcher Abbildung man eher trauen soll: der der Leinwand oder der der Bühne.

Diese neuartige Technik, die sich seit einigen Jahren im modernen Theater trendartig ausbreitet, wird gleichsam von der Idee begleitet, Romanstoffe zu adaptieren. So wird etwa ein anderer Castorf-Schüler Sebastian Hartmann am Wiener Burgtheater Hermann Hesses Steppenwolf inszenieren, neben Friederike Heller mit der Blendung von Elias Canetti. In Meiningen wird man Schillers Romanfragment Der Geisterseher von Sebastian Baumgarten zu sehen bekommen, in Wiesbaden bald eine eigene Bühnenfassung des Nibelungenliedes und an der Berliner Volksbühne wieder einmal Dostojewski, diesmal Der Spieler, inszeniert von Johan Simons.

Das vermehrt kommende „Autorentheater“, in dem sich die Regisseure gerne als neue Stofferoberer sehen wollen, preferiert die Komplexität von Romanen. So erklärte Frank Castorf in der Süddeutschen Zeitung vom 06. September 2004, gerade Dostojewski löse bei ihm etwas Religiöses aus, wohingegen einfache Theaterstücke an ein zentrales Planungskomitee erinnerten. Angesichts der allgemeinen negativen Resonanz des Wuttkeschen Lem-Versuches jedoch bleibt es nicht aus, zu bekennen, dass komplexe Inhalte am besten noch der Literatur zu entnehmen sind.

 

Hinweise

Filme

  • Solaris. UDSSR 1972. 159 Min. Regie: Andrej Tarkowski. Kamera: Wadim Jusow. Mit Natalja Bondartschuk, Donatas Banionis, Nikolai Grinko.
  • Solaris. USA 2002. 98 Min. Regie und Buch: Steven Soderbergh. Produktion: Steven Soderbergh und James Cameron. Musik: Cliff Martinez. Mit George Clooney, Natascha McElhone, Jeremy Davies, Viola Davis,Ulrich Tukur.

Weber, Thomas: Das französische Kino der 80er und 90er Jahre, 18.02.05

In den 80er und 90er Jahren scheint auf den ersten Blick – vor allem von deutscher Seite – eher die Kontinuität des Kinos zu dominieren. Die Spielfilmproduktion (auf die ich michim folgenden konzentriere) bewegt sich auf hohem Niveau und liegt über Jahrzehnte hinweg mit 120 bis 160 Filmen pro Jahr in Europa mit Abstand an der Spitze. International bekannte Regie- und Schauspielstars wie Claude Chabrol, Alain Resnais, Catherine Deneuve, Gérard Dépardieu u.v.a. haben eine ungebrochene Leinwandpräsenz und selbst die Zuschauerzahlen steigen in den letzten Jahren wieder leicht und erreichten 1998 mit 170 Mio. Eintritten einen neuen Höhepunkt.Alles scheint bestens, dochhinter den glänzenden Kulissen der vor allem auf internationalen Festivals gefeierten Spitzenprodukten haben sich in den letzten 20 Jahren bedeutende Strukturveränderungen vollzogen, die den Charakter des Kinos grundlegend wandelten.

Im Sinne des viel zu früh verstorbenen Filmkritikers Serge Daney könnte man sagen: Wer heute vom Kino spricht, der kann von Fernsehen und Video nicht schweigen. Bevor ich im weiteren versuche, entsprechend ihrer Positionierung am Markt die verschiedenen Gruppen von Kino-Spielfilmen und die mit ihnen verbundenen Strategien vorzustellen – was dem knappen Rahmen geschuldet recht skizzenhaft bleiben muß -, möchte ich zunächst den Wandel der strukturellen Rahmenbedingungen grob skizzieren, den ich im wesentlichen an drei Faktoren festmachen möchte:1.An der Verlängerung der Distributionskette, 2. an der starken Stellung der US-Majors und 3. an staatlichen Förder- und Schutzmaßnahmen (die letzthin immer weniger greifen).

1. Strukturveränderungen

1.1. Die Umstrukturierung der AV-Industrie durch die Verlängerung der Distributionskette

In den 80er Jahren kommt es in zahlreichen europäischen Ländern zur Umstrukturierung der Filmwirtschaft. Die wohl bedeutendste und tiefgreifendste Veränderung ist dabei die Schaffung von privaten Fernsehsendern, durch die auch der Bedarf an sendefähigen Kinofilmen enorm stieg. Zu nennen ist aber auch die Etablierung von technischen Normen wie z.B. von VHS als neuem Videostandard. Dadurch kommt es zu einer Verlängerung der Auswertungskette; neben das Kino tritt die Videovermarktung, die Auswertung im Pay-TV und schließlich in den offenenen, also frei empfangbaren Fernsehkanälen.In Frankreich setzte dieser Prozeß der Umstrukturierung mit der Wahl von François Mitterrand zum Staatspräsidenten ein. Angestrebt wurde eine breitangelegte Neuordnung der französischen Fernseh­land­schaft, die 1984 mit der gesetzlichen Grundlage zur Einrichtung des ersten Privatsenders, des Pay-TV-Programms Canal Plus, einen ersten Höhepunkt fand. Andere Sender wie z.B. M6 folgten in kurzem Abstand bzw. ehemalige Staatssender wie TF1 wurden privatisiert.Ohne hier im einzelnen auf diese Veränderungen auf dem Fernsehmarkt eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, daß allein im Zeitraum von 1984 bis 1996 die Anzahl der gesendeten Spielfilme auf allen offenen Sendern von 485 auf 1064 stieg, sich also verdoppelte, und allein bei Canal Plus, der hier eine Sonderrolle spielt, von 540 auf 1513, sich also rund verdreifachte (Creton 1997, 241). Die Dimension dieses Wandels wird aber noch stärker deutlich, wenn man die Veränderungen im Bereich des Videomarktes betrachtet. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Ausgaben der privaten Haushalte für audiovisuelle Programme.

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Zitiert nach Creton 1997, 221

Wie zu erkennen ist, stagnieren die Ausgaben für Kino oder sinken sogar leicht, während die Ausga­ben vor allem für PAY-TV und Videos überproportional wachsen. Zum Videomarkt ist als französische Besonderheit ferner zu notieren, daß sich hier vor allem der Verkauf von Videos entwickelte, während der Videoverleih relativ stabil auf niedrigem Niveau blieb.

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Zitiert nach Creton 1997, 242

Die Konsequenzen dieser Veränderungen der Umsatzzahlen liegen auf der Hand: In immer stärke­rem Maße werden Profite von Kinofilmen nicht mehr im Kino selbst generiert, sondern in den Be­reichen Video und Fernsehen. Kino wird in zunehmendem Maße nur noch zum werbewirksamen Zusatzgeschäft, in dem die Spitzenprodukte der Branche wie in einem Schaufenster ausgestellt werden. Die Produktionszahlen von Kinofilmen steigen dabei, werden aber mehr und mehr vom Fernsehen finanziert, das inzwischen sogar zur wichtigsten Geldquelle des französischen Kinos geworden ist. Ein Spezialfall bildet – wie bereits erwähnt – Canal Plus, der in seinen Gründungsstatuten verpflichtet wurde, mindestens 20% seines Umsatzes in Kinofilme zu investieren, wobei die Hälfte französischer Herkunft sein muß. Damit hat sich Canal Plus in den letzten Jahren eine in Europa wohl einzigartige Position aufgebaut. 1995 wurden von den 141 insgesamt in Frankreich produzierten Filmen 105 durch Vorankäufe von Canal Plus finanziell unterstützt. Der Anteil des Senders an der Finanzierung pro Film schwankt z.T. erheblich, liegt aber nach Schätzungen bei durchschnittlich 25%. Damit ist Canal Plus noch vor dem Staat der wichtigste Geldgeber des französischen Kinos.

1.2. Der starke Stellung der US-Majors

Angesichts des enormen Wachstumspotentials des AV-Marktes in Europa verwundert es nicht, daß große industrielle Gruppen seit den 80er Jahren verstärkt in diesen Sektor investieren. Insbesondere die Dominanz des us-amerikanischen Films konnte kontinuierlich ausgebaut oder zumindest gehalten werden, wohingegen die Marktanteile der französischen Filme rückläufig sind. So sank ihr Anteil auf dem heimischen Markt von 49,4% im Jahr 1984 auf nur 27,4% im Jahr 1998 – trotz steigender Zuschauerzahlen. Firmen wie Buena Vista (also Disney), Time Warner oder Paramount drängen die angestammten französischen Firmen wie Gaumont, Pathé und UGC, um hier nur die größten zu nennen, in die Defensive. Dies zeigt sich stärker noch als im Bereich Kino auf dem Videomarkt, der in Frankreich inzwischen fest in der Hand der amerikanischen Majors ist; die französischen Firmen können hier nur noch durch Kooperation mit US-Firmen kooexistieren (CNC, n°272, S.68). Die Ursachen für diese Dominanz sind vielfältig und lassen sich schwer monokausal abhandeln. Vor allem sei vor einen platten Dichotomie von französischer und amerikanischer Position gewarnt: Die Frontlinien verlaufen keineswegs geradlinig, da z.B. US-Firmen inzwischen auch europäische Filme produzieren oder europäische Regisseure in den USA arbeiten. In Opposition steht allerdings die französische Auffassung von Kino als Kulturgut zu einer bestimmten, meist mit Hollywood-Filmen identifizierten Idee eines globalisierten Kinos als AV-Dienstleistung. Sieht man einmal von den hausgemachten Problemen der französischen Firmen ab, die Ende der 70er Jahre allzu unbesorgt in teure Prestigeobjekte investiert hatten, ist es allerdings vor allem die Stärke der US-Firmen, die auf Dauer gesehen die französischen Filmindustrie in Schwierigkeiten bringt. Um diese Stärke zu begreifen, ist es wichtig, sich die grundlegenden Rahmenbedingungen der US-Filmwirtschaft noch einmal zu vergegenwärtigen, auch wenn dies den meisten von ihnen sicher bekannt sein dürfte.Entwicklung der Zuschauerzahlen in Mio. pro Jahr in den wichtigsten industrialisierten Ländern

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Zitiert nach Creton 1997, 223

In Europa kam es anders als in den USA durch das Fernsehen Ende der 60er Jahre zu einem dramatischen Zuschauerschwund. Ein weiterer signifikanter Rückgang zeigt sich in den 80er Jahren, der auf oben beschriebene Umstrukturierungen bzw. die Verlängerung der Distributionskette zurückzuführen ist. Den US-Majors kommt außerdem der sprachlich und kulturell relativ homogene Binnenmarkt der USA zugute, der mit rund 1 Mrd. Eintritten pro Jahr in der Regel die Amortisierung eines Films bereits auf dem eigenen Territorium garantiert.Lange Zeit hindurch war der europäische Markt für die US-Majors daher nur ein willkommenes Zusatzgeschäft. Seit den 80er Jahren werden die Einnahmen aus Europa allerdings fest miteingeplant, da steigende Produktionskosten die Majors unter Druck setzen und das Europageschäft wichtig wird im Kampf gegen die eigenen Konkurrenten, also die anderen Majors. Dies zwingt sie geradezu, sich auch auf internationalen Märkten durchzusetzen.Begleitet wird die weltweite Lancierung vor allem von Großproduktionen von aggressiven Werbekampagnen, die auf einen Massenmarkt zielen. Die Budgets allein für diese Kampagnen erreichen inzwischen immer öfter Summen um die 25 Mio. Dollar, was bei weitem die Gesamtkosten einer durchschnittlichen europäischen Filmproduktion übersteigt. Die Werbekampagnen, die z.T. bereits 6 Monate zuvor einsetzen, zielen vor allem auf die erste Startwoche, die immer stärker über Erfolg oder Mißerfolg eines Films entscheidet. Zugleich wird die Zirkulation der Filme beschleunigt durch eine dramatisch erhöhte Anzahl von Kopien. Zog man 1975 noch 35-50 Kopien von einem wichtigen Film, sind es zehn Jahre später bereits 300, in einigen Fällen sogar 400, Tendenz steigend (Prédal 1996, 449). Dies erhöht die Kosten für den Filmstart erheblich und läßt kleiner budgetierte Filme, zu denen das Gros der französischen Produktionen zählt, weiter an Boden verlieren. In den 90er Jahren verstärkt das Aufkommen der Multiplex-Kinos das Ungleichgewicht weiter. Wie in Deutschland auch, gab es in Frankreich in den letzten Jahren eine explosionsartige Vervielfachung von Multiplex-Kinos, die sogar, wie 1998, zu einem leichten Anstieg der Zuschauerzahlen insgesamt führte.Allein von 1996 bis 1998 hat sich die Anzahl der Multiplex-Kinos von 22 auf 45 mehr als verdoppelt; das gleiche gilt auch für ihren Marktanteil, der von 10,8% auf 22,7% gestiegen ist.Von den 1998 neu in Betrieb genommenen 206 Kinosälen entfallen 124 auf Multiplex-Kinos (CNC, n°272, 61). Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen, da viele Multiplex-Kinos noch in der Bau- oder Planungsphase sind. Insgesamt tragen sie massiv zu einer weiteren Regression des französischen Marktanteils bei, da allein die technisch und finanziell aufwendiger produzierten US-Filme die besonderen Qualitäten der Multiplex-Kino voll ausschöpfen bzw. zur Geltung bringen können und der Erwartungshaltung eines juvenilen Massenpublikums auf den ersten Blick eher entsprechen.

1. 3. Staatliche Förder- und Schutzmaßnahmen

Selbstverständlich bemüht sich der französische Staat seit langem um Förder- und Schutzmaßnahmen der heimischen Produktion. (s. dazu vor allem Hollstein 1996). Die beiden wichtigsten Förderinstrumente sind in Frankreich – ähnlich wie in Deutschland – zum einen die automatische Referenzfilmförderung durch das Centre national de la cinématographie, die im Prinzip genauso funktioniert wir ihr deutsches Pendant bei der FFA (Filmförderungsanstalt). Zum anderen eine selektive Filmförderung von künstlerisch ambitionierten Werken, die sogenannte „avance sur recette“. Mit diversen regionalen Förderungen zusammen beläuft sich die Gesamtfördersumme des Staates auf rund 2 Mrd. FF jährlich, d.i. rund dreimal soviel wie in Deutschland.Neben dieser direkten Förderung gibt es noch gesetzliche Schutzregelungen. Dazu zählt zunächst die Bestimmung, daß – immer bezogen auf den Kinostart – die Auswertung auf Video erst nach 9 Monaten, die im Pay-TV nach 12 Monaten und die in den offenen Kanälen nach 24 bzw. 36 Monaten beginnen darf. Hinzukommen diverse Quotenregelungen für das Fernsehen. So müssen 60% der ausgestrahlten Filme europäischer Herkunft und 40% in französischer Sprache produziert sein; zudem dürfen am Samstagabend gar keine und am Mittwoch- und Freitagabend Kinofilme erst nach 22 Uhr 30ausgestrahlt werden. Obwohl diese Bestimmungen protektionistisch anmuten, konnten sie bisher die Geschwindigkeit des Vormarsches der US-Majors in Frankreich allenfalls verlangsamen.Tatsächlich werden sie in den 90er Jahren von der US-Konkurrenz – die ein völlig anderes Verständnis von Kino als Dienstleistung hat – offen in Frage gestellt, was sich unter anderem bei der 93er GATT-Runde zeigte. Diese weithin – und vor allem auch von deutscher Seite – unterschätzten Verhandlungen hätten ohne den Protest Frankreichs und der dadurch erwirkten „exception culturelle“ zu einer Abschaffung der staatlichen Protektionen im gesamten AV-Sektor geführt und der europäischen Medienindustrie, wie seriöse Kritiker (Pardo 1997) schätzten, knapp 2 Mio. Medienarbeitsplätze gekostet. Bei der demnächst anstehenden Verhandlungsrunde steht diese kulturelle Ausnahme allerdings wieder zur Diskussion. Abschließend sei zu diesem Punkt noch angemerkt, daß auch die EU sich seit den 80er Jahren durch die von ihr aufgelegten Media-Programme um eine Förderung der heimischen Filmproduktion bemüht. Doch deren Volumen erreicht nicht einmal 10% der Summe, die von der EU zur Subvention des Tabakanbaus ausgegeben wird.

2. Zur Marktposition der französischen Filme

Ich komme nun zur Filmproduktion im einzelnen, genauer gesagt zu den Positionen, die die verschiedenen Filemmacher oder Filme im Marktgeschehen einnehmen. Dabei möchte ich – kursorisch und stark vereinfachend – vier Gruppen voneinander unterscheiden:

2.1.Renommierte Autorenfilme

Nach wie vor sind wichtige ehemalige Nouvelle-Vague-Regisseure wie Claude Chabrol, Alain Resnais, Jacques Rivette, Eric Rohmer u.a. im Geschäft.Ökonomisch trägt sich der Autorenfilm nur dank staatlicher Subventionen und dank einiger engagierter Produzenten, die auf „bekannte Namen“ setzen, sowie einer speziell ausgerichteten Filmkritik, die sich vor allem um die Cahiers du cinéma herum gruppiert. Doch das System ist fragil. Kaum einer der bekannten Regisseure hatte in den letzten Jahrzehnten nicht unter Finanzierungs­problemen zu leiden, da staatliche Hilfen tendenziell inzwischen eher in Großprojekte oder Erstlingsfilme von jungen Regisseuren geleitet werden. So hatten z.B. Jean-Luc Godard und Agnès Varda in den letzten Jahren zunehmend Probleme, Gelder für ihre Filme aufzutreiben. Sogar Vardas Film Vogelfrei, der auf den Filmfestspielen in Venedig den Goldenen Löwen gewann, konnte nur durch die persönliche Intervention von Kulturminister Jack Lang realisiert werden, da die für die kulturelle Filmförderung zuständige Kommission das Projekt bereits abgelehnt hatte. Andere Regisseure wie z.B. Eric Rohmer versuchen das Finanzierungsproblem dadurch zu umgehen, daß sie mit kleinsten Budgets arbeiten. So wurde etwa sein Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek usw. gerademal mit 1 Mio. FF realisiert.Auch erfolgreichere Regisseure wie Claude Chabrol verdankt seine Finanzierung vor allem dem engagierten Produzenten Marin Karmitz, der als Quereinsteiger ins Filmgeschäft mit seiner Firma MK2 immer wieder für Schlagzeilen sorgte. Politik von MK2 ist es, den Filmemachern ein zwar nur bescheidenes Budget zur Verfügung zu stellen, ihnen aber ansonsten freie Hand zu lassen.Ein weiterer, bis heute stabilisierender Faktor der Autorenfilme ist die Filmkritik, die ein selbstreflexives System generiert, in dem Filmemacher, Kritiker und Produzenten einen kleinen Kreis bilden, in dem man sich gut kennt und gelegentlich die Funktion wechselt – wie René Prédal es recht kritisch beschrieb (s. Prédal 1996, 563-565). Was mit den Cahiers du cinéma in den 50er Jahren als Kampfzeitschrift der Nouvelle Vague begonnen hatte, führte spätestens seit Mitte der 80er Jahre dazu, daß es kaum noch nennenswerte Gegenpositionen zu den Cahiers du Cinéma gibt. Tatsächlich war es den Karrieren junger Regisseure oftmals förderlicher, als Redakteur bei den Cahiers du Cinéma begonnen zu haben, wie z.B. André Techiné, denn als Absolvent einer Filmhochschule.Ausnahmen von diesem System hat es natürlich immer wieder gegeben.

2.2. Kommerzielle Erfolgsfilme

Die zweite Gruppe wird von den kommerziellen Filmen gestellt, die – von der Presse sicher nicht in gleichem Maße beachtet wie die Autorenfilme – letzthin die wirtschaftliche Substanz des französischen Kinos bilden. Kommerziell ausgerichtet heißt nun keineswegs auch kommerziell erfolgreich und auch außergewöhnlich hohe Box-Office-Zahlen sind die Ausnahme. Die große Masse dieser Filme wird gleichfalls mit kleinen oder durchschnittlichen Budgets produziert und folgt häufig klaren Genrezuordnungen, z.T. mit beachtlichen Resultaten etwa in den Bereichen Kriminalfilm, Ausstattungs- oder Historienfilm und insbesondere der Komödie. Dabei spannt sich ein Bogen von Filmen wie Gefahr in Verzug oder Engel aus Staub über Die Bartholomäusnacht, Camillie Claudeloder Die siebte Saite bis hin zu Drei Männer und ein Baby oder Die Besucher, deren Eintrittszahlen auch den Vergleich mit Hollywoodgroßproduktionen nicht zu scheuen brauchen. Doch diese Erfolge sind im voraus nicht zu planen. Drei Männer und ein Baby von Coline Serreau wurden rund 10 Mio. Zuschauer gesehen, jedoch mit einem Budget von nur 15 Mio. FF realisiert, was deutlich unter dem Durchschnitt liegt. Das hält einige Produzenten, wie z.B. Claude Berri mit Germinal, der immerhin 170 Mio. FF kostete, trotz der bekannten Risiken nicht davon ab, eine Strategie der großen Budgets wählen in dem Glauben, damit auch große Profite zu erzielen. Tatsächlich ist dies keine Erfolgsgarantie, da die Ergebnisse meist hinter den Erwartungen zurückbleiben.

Einnahmen an der Kinokasse (in Mio. FF) im Verhältnis zum Produktionsbudget (in Mio. FF)

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Zitiert nach Prédal 1996,725

2.3. Internationale Superproduktionen

Die dritte Gruppe sind als Steigerung dieserkommerziellen Strategie die internationalen Superproduktionen, die von vorneherein für einen globalen Markt konzipiert werden und allein schon von den Finanzierungsmöglichkeiten her ihre Bindung an Europa aufgeben. Die beiden bekanntesten Regisseure dieser Variante sind Luc Besson und Jean-Jacques Annaud.Besson, der nach dem Erfolg von Im Rausch der Tiefe international den Durchbruch geschafft hatte und vor allem in Frankreich zu einem – wenn auch umstrittenen – Regiestar avancierte, schlug mit Nikita einen völlig anderen Weg ein, der ihn konsequent nach Hollywood führte und die französische Kritik gegen ihn aufbrachte. Nachdem Besson akzeptiert hatte, beim amerikanischen Remake von Nikita selbst die Regie zu übernehmen (allein dies ein Kuriosum), folgten Filme für das breite Publikum wie Leon, der Profiund Das fünfte Element(mit Bruce Willis), die sich allenfalls durch ihre Skurrilität von vergleichbaren amerikanischen Produkten unterscheiden. Mehr noch als Besson hat Jean-Jacques Annaud gleich mit seinem Erstlingsfilm Am Anfang war das Feuer den Weg in die USA gesucht. Dies ließihn ins Kreuzfeuer der französischen Kritik geraten, die ihm Verrat an der französischen Sprache und dem von Bazin inspirierten modernen französischen Kino vorwarf. Annaud antwortete darauf nur: „Ich bin kein französischer Filmemacher, sondern ein Franzose, der Filme macht.“ (Label France 2000)

2.4. Neue, sozialkritische Autorenfilme

Ich komme nun zur vierten Gruppe, den neuen, sozialkritischen Autorenfilmen der 90er Jahre, die wieder mit einer Strategie der bescheidenen Budgets ein zwar kleines, aber begeistertes Publikum gewonnen konnten. Scheinbar unbelastet von den oben beschriebenen Strukturveränderungen ist in den letzten Jahren eine neue Generation von Regisseuren hervorgetreten, was sich zunächst – ähnlich wie beim Auftreten der Nouvelle Vague – in einer ungewöhnlich hohen Zahl von Erstlingswerken zeigte. Mit einem Schlag wurden 1991, 1992 und 1993 zwischen 35 und 40 Erstlingsfilme gedreht (man stelle sich vor: in Deutschland wären die Hälfte aller Filme Erstlingswerke und das mehrere Jahre in Folge). Doch nicht allein diese hohe Zahl verwundert, sondern vor allem die Originalität und vergleichsweise hohe Qualität der Filme. Diese neue Generation läßt sich nur schwer über einen Kamm scheren, da Temperament und künstlerische Intentionen sehr unterschiedlich sind. Dennoch ist auffällig, daß die meisten gutausgebildete Absolventen einer Filmhochschule sind und sich viele Filme thematisch stärker an de sozialen Realität ausrichten. Anders als die meist im bourgeoisen Milieu angesiedelten Filme eines Chabrol, Rivette oder Rohmer spielen die Geschichte von Regisseuren wie Mathieu Kassovitz, Erick Zonca, Cédric Klapisch, Laetitia Masson, Tonie Marshall, Bruno Dumont u.v.a. meist im Milieu der kleinen Leute und haben sozial Deklassierte und Außenseiter zu Protagonisten. Diese Tendenz ist zwar keineswegs allein die Domäne der jüngeren Generation, denkt man etwa an Filme von Mehdi Charef, Bertrand Tavernier oder Jacques Doillon, wird aber in dieser zum markanten Zug, was sich etwa in zahlreichen Banlieue-Filmen wie etwa Hass zeigt.Die Banlieu wird dabei nicht nur zeichenhaft auf eine Chiffre für soziale Ghettoisierung und juvenile Gewaltausbrüche verkürzt, sondern vielschichtig dargestellt: so finden sich asoziale Milieus von Kleinkriminellen ebenso wie die historisch gewachsenen Arbeiterviertel der zerfallenden Industrie­land­schaft Nordfrankreichs, der die materielle Basis entzogen wurde.Dabei geht es nicht um plakative Sozialkritik. Häufig werden wieder Liebesgeschichten erzählt, wie einst bei der Nouvelle Vague. Doch sie unterscheiden sich davon radikal durch ihre Inszenierung. „Ich glaube“, formulierte Laetitia Masson einmal, „daß jemand ohne Job anders liebt, als jemand mit Job“. (Berliner Zeitung 1999)Filme wie La vie révée des angesoder A vendre ist über sozialen Realismus hinaus ein Hunger nach Authentizität gemeinsam. Das geht soweit, daß Rollen bevorzugt mit Laiendarstellern besetzt werden, wie etwa in L’humanité, der letztes Jahr in Cannes mit den beiden Preisen für den besten männlichen und weiblicher Darsteller ausgezeichnet wurde – allein diese eine Provokation für die etablierten Schauspielstars.Diese – wenn auch bescheidenen – Erfolge deuten zwar nicht auf eine grundlegende Umwälzung des französischen Kinos hin, schaffen es aber, mit authentischen, sozialrealistischen Filmen ein kleines, aber interessiertes Publikum zu finden. Vielleicht liegt darin eine Chance auch des europäischen Kinos, trotz der strukturellen Nachteile seinen Platz zu verteidigen.

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert unter: Weber, Thomas: „Zwischen Globalisierung und nationalspezifischer Sozialkritik. Das französische Kino der 80er und 90er Jahre“, in: Türschmann, Jörg / Paatz, Annette (Hrsg.): Medienbilder. Dokumentation des 13. Film- und Fernsehwissenschaftlichen Kolloquiums an der Georg-August- Universität Göttingen Oktober 2000. Hamburg 2001, S. 275-285. Eine überarbeitete Version erschien unter: Weber, Thomas: „Kino in Frankreich. Zum Strukturwandel der achtziger und neunziger Jahre“, in: Weber, Thomas / Woltersdorff, Stefan (Hrsg.): Wegweiser durch die französische Medienlandschaft. Marburg 2001, S. 125-150

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b) Artikel

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CNC (1998), n°272, Mai 1999, Bilan 1998

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Pardo, Carlos (1999): „La guerre des deux bouquets. Le cinéma français, otage de la télévision“, www.monde-diplomatique.fr, Mai 1999