Über „Geht so. Wegbeschreibungen“ von Peter Hein

Besprochen von Ronald Klein

  • HEIN, Peter: Geht so : Wegbeschreibungen. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2007. ISBN 978-3-940357-03-8.

Auch die vermeintliche Hochkultur kocht nur mit Wasser. Goethe schlief auf seiner ersten Italienreise beim Besuch der Sixtinischen Kapelle in Rom ein. Bekanntlich führte der Aufenthalt im Mittelmeerland trotzdem zu einem kreativen Schub, der nicht nur Literarisches, sondern auch knapp 1000 Aquarelle hervorbrachte. Mehr als 200 Jahre später reiste Roger Willemsen zwar nicht so weit, aber dafür kreuz und quer zwischen Sylt und Passau, Koblenz und Leipzig hin und her. Daraus entstand das Buch „Deutschlandreise“: die eindringliche Beschreibung einer fremden Heimat. Was die Beiden können, kann Peter Hein alias Janie J. Jones, Sänger der Fehlfarben, schon lange und spitze seinen Stift: „Wegbeschreibungen, der vom Lektorat gewählte Untertitel, lässt doch einige hübsche Möglichkeiten zu“, wird der Leser am Ende des Buches aufgeklärt. Der Aufbruch nach Italien steht an. Auf den hundert Seiten davor prangen Beschreibungen deutscher Landstriche, die in der Regel mit der Suche und dem Finden einer Tränke eingeleitet werden: „[…] Also erst einmal einen Kaffee bzw. einen Espresso und je nach Sonderangebotslage ein Hefeweizen oder ein kleines Frischgezapftes; da entscheidet der Literpreis.“ („Rheinstrecke“); „[…] Richtung Reeperbahn könnte man wahrscheinlich noch wo saufen, kenn mich da nicht mehr so aus, aber ein paar gebratene Eier zum Hellen – Fehlanzeige.“ („Hamburg“); „[…] Also lässt man sich irgendein totes Tier aufs Brot schmieren, noch ein Bier auf den Weg – und jetzt ins unbekannte Augsburg“ (na, klar: „Augsburg“). Dazu die Schilderung des Bummels durch die Innenstadt, wo die Dominanz der Einkaufsstraßen nur noch Tristesse verbreitet. Spätestens nach der dritten Station offenbart sich das Erzählschema als voraussehbar. Auch wenn Hein genüsslich und gekonnt Spitzen gegen Mehdorn und die Bahn, Kunstsammler und Immobilienmakler etc. einbaut, lesen sich die Beschreibungen der Städte und ihrer Bewohner freundlich bis desinteressiert. Lediglich Magdeburg erhält hier eine Sonderstellung. An die Schilderung der Langeweile der Elbmetropole schließt sich die folgende Passage an: „Diese Arschstadt entpuppt sich als genauso verschissenes Volldeppen-Scheißnazidrecksnest, wie ich es von dieser verdammten Scheißzone nie wirklich glauben wollte, aber in meinen wüstesten Angstvorstellungen immer imaginiert habe. Es hatte schon seine Richtigkeit, diese Scheißwende zu ignorieren, außer wenn man nach Scheißberlin muß, das hat doch keine Vorteile gebracht. Nichs und Niemandem.“ – Die Düsseldorfer Musiker treffen dort auf pöbelnde Nazis-Skins und Polizisten, die sich nur äußerlich von den Glatzköpfen unterscheiden. „Es liegt ein Grauschleier über der Stadt“ postulierte Peter Hein 1980 mit den Fehlfarben. Mittlerweile hat er sich über das Land ausgebreitet. Das Buch lüftet den Schleier nicht. Letztlich ist alles so, wie wir es uns immer schon vorgestellt haben.

 

Jürgen Landt: Realität ist Zauberwald (Kurzgeschichten)

Besprochenvon Ronald Klein

Der Ostsee-Poet Jürgen Landt legte erst diesen Herbst seinen brillanten Debüt-Roman „Der Sonnenküsser“ vor. Den Lesern ist der Greifswalder hingegen seit 20 Jahren als Meister der hintersinnigen Kurzgeschichte bekannt. In Zeiten, in denen der Mario-Barth-Humor auch die deutschen Lesebühnen heimsucht, kehrt Landt der stringenten Erzählweise den Rücken. Die Geschichten im neuen Band sind angenehm sperrig, keine Fast-Food-Literatur. Die meist zwei, drei Seiten lange Mini-Prosa bewegt sich grazil an der Schnittstelle zur Lyrik und eröffnet weite Interpretationsräume. Bereits die Titel wecken Neugier: „MOOSE, NICHT ZÄHLBAR TIEF IM SUMPF“. Ähnlich offen der Anfang: „Da lief er nun. / So verwirrt und bemoost vom Vorhandensein. / Obwohl er immer noch, mindestens auswendig, bis 100 Trilliarden hätte zählen können. / Keine Zeit, in diesem Sumpf zu wandern. / Angst, die Sonne anzuspucken. / […]“. Wer sich für den Band Muße zugesteht und sich den Luxus gönnt, innerhalb kürzester Zeit, die Geschichten mehrfach zu lesen, wird bemerken, wie sich die anfänglichen Interpretationen immer wieder auflösen und sich neue Bilder formen. Mal intertextuell mit dem Roman korrespondierend, mal durch persönliche Erfahrungen inspiriert. Landt oktroyiert nicht. Sein Schreiben öffnet Räume: Für Literatur im Prinzip eine essentielle Eigenschaft, steht er leider mit einigen wenigen Kollegen auf weiter Flur allein. Es wird Leser geben, die überfordert den Buchdeckel zuklappen oder sich an bestimmten Schlagworten reiben. Wer hingegen von der Literatur mehr als nur kurzweiligen Zeitvertreib FORDERT, wird mit diesem Buch lange Freude haben.

 

Bench Press Publishing, ISBN 978-3-933649-24-9, 160 Seiten, 14,90 €

Über „Eine Insel im Mond“ von William Blake

Besprochen von Ronald Klein

  • BLAKE, William: Eine Insel im Mond. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007. ISBN 978-3-88221-899-2. Aus dem Englischen von Gernot Krämer und Jan Weinert. Mit einem Nachwort von Gernot Krämer. Mit Illustrationen von Horst Hussel.

Der 1757 in London geborene William Blake arbeitete als Zeichner, Maler, Kupferstecher und Autor, der seine aufwendig hergestellten Bücher, die in Kleinstauflage erschienen, selbst kolorierte. Blake galt als Visionär, der mit seinen progressiven Auffassungen das England des 18. Jahrhunderts irritierte. So negierte er nicht nur die Auffassung von der Ungleichheit der menschlichen Rassen, sondern kritisierte ebenso die Benachteiligung der Frauen. Im institutionalisierten christlichen Glauben sah er eine Geißel der Menschheit und die Priester als Hüter einer pervertierten Religion. Der Weg zu Gott könne nur über die Kunst erfolgen. Blakes Bedeutung erschloss sich erst im 20. Jahrhundert. In Großbritannien längst als Schulstoff etabliert, förderte in Deutschland erst Jim Jarmuschs Meisterwerk „Dead Man“ (1996) die breitere Rezeption des englischen Multi-Genies. Nach Kai Grehns großartiger Übersetzung von „The Marriage of Heaven and Hell“ (1998), einem der bekannteren Werke, liegt mit „Eine Insel im Mond“, pünktlich zum 250. Geburtstag Blakes, die Veröffentlichung eines bisher weitgehend unbekannten Fragments vor. Der Prosa-Text, der ebenso lyrische Einsprengsel enthält, entfacht ein Feuerwerk der Absurdität. Die Protagonisten heißen u.a. „Leicht entzündliches Gas“, „Stumpfer Winkel“ oder „Etruskische Säule“ und entspinnen ein philosophisches Streitgespräch. Die humoristische Seite Blakes spielte in der bisherigen Rezeption eine bisher untergeordnete Rolle. So gilt auch als unklar, ob der Text, der plötzlich abbricht, jemals für eine Veröffentlichung geplant war. Die zweisprachige Ausgabe enthält ein Nachwort des Übersetzers, der die (ursprünglich antike) Tradition des Textes erläutert: „Bevorzugter Gegenstand der Menippeischen Satire ist die Verspottung jenes Dünkels, den die Kyniker den Akademie-Philosophen und ihren diversen Schulen unterstellten, bzw. die Parodie des philosophischen Diskurses überhaupt.“

 

Über „Alles dreht sich um nichts (Kurz-Prosa)“ von Roland Lampe

Besprochen von Ronald Klein

  • LAMPE, Roland: Alles dreht sich um nichts : Kurzprosa. Erata-Literaturverl., Leipzig 2008. ISBN 978-3-86660-049-2.

Man möchte an Nietzsche denken. Den großen Sucher. Als Nihilist verkannt. Es sei leichter etwas zu verneinen, konstatierte er. Auch Lampe verneint: „Seine Sinne sind erfroren, sein Körper ist ein Eiszapfen, / und wenn er den Mund aufmacht, schneit es“, heißt es gleich im Auftakt, passend „Gleichgültigkeit“ betitelt. Doch das Abwehrende, Resignierte bedeutet nur eine Facette im unheimlich spannungsreichen Dramaturgiebogen, der aufs minimalsten reduzierten Prosa. Lampe erzählt u.a. von der verstörenden Dominanz eines übermächtigen Vaterbildes, von der Endstation Pflegeheim, von der Introvertiertheit der Paare, deren Schweigen zur emotionalen Nekrose mutiert. Jeder Satz, jedes Wort passend genau. Stellenweise an Kafkas ultra verkürzte Prosa („z.B. „Die Bäume“) erinnernd, hat der Berliner Autor längst seinen eigenen sprachlichen und ikonographischen Kosmos erschaffen. Ein Band, der trotz der wenigen Worte lange zu begeistern weiß.

 

War Kurt Cobain der Novalis des 20. Jahrhunderts? Martin A. Völker spricht mit Ronald Klein über Kurt Cobain und die Romantik, 25.01.08

Dr. Martin A. Völker lehrt Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin. In den letzten Jahren hat er innerhalb seiner Lehre und Forschung versucht, eine „Integrale Ästhetik“ zu entwickeln. Ausgehend von theoretischen Überlegungen des Psychologen und Philosophen Ken Wilber hat er in zahlreichen Einzelbeiträgen an einer Sozial- und Kulturgeschichte ästhetischen Denkens und ästhetischer Erfahrung gearbeitet. Schwerpunktmäßig setzt er sich mit Körperdiskursen, Schönheitskonzepten und Lebensweisen zwischen 1700 und 1900 auseinander. Ronald Klein sprach mit ihm über die vermeintliche Transformation der Romantik im anti-modernistischen Denken und in der Popmusik.

In der Schule erfährt man, dass die Romantik mehr als die Blaue Blume darstellt. Kannst Du kurz für alle, die damals ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwendeten, erläutern, was die drei Phasen der Romantik kennzeichnete?

Zur Thematisierung der Romantik im Schulunterricht kann ich allen Betroffenen nur raten, gezielt wegzuhören und sich um die wirklich relevanten Fragen zu kümmern: Wie finde ich einen Freund, eine Freundin, wie werde ich endlich die Pickel und die Nazis an der Schule los? Die Schüler sollten weghören, damit sie nicht unempfindlich werden gegenüber den Dramen und Tragödien des Lebens, die sich zwischen zwei Buchdeckeln ausbreiten. So, wie die Blaue Blume, die Novalis, also Friedrich von Hardenberg, in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen beschreibt, zumeist behandelt wird, hat sie wenig mit dem Leben, mit dem täglich gelebten Leben eines Gymnasiasten, gemein. Man lässt die Schüler kurz an dieser Blume riechen, aber das wäre schon viel, nämlich ein sinnliches Erlebnis, das man in Schulen selten genug hat. Die Blaue Blume bleibt innerhalb des Unterrichts ein geruchloses Gebilde. Sie bleibt einem fremd, sie gehört der Gedankenwelt eines anderen an, den wir kaum kennen. Damit die Blaue Blume erlebbar wird, müsste man über feuchte Träume, die erwachende Sexualität eines jungen Mannes sprechen, über den Bergbau, über den mütterlichen Uterus als Urhöhle des Menschen und die kulturelle Produktivität des Schmerzes. Das überfordert jeden Lehrer. Die Fremdheit aber, die Abstraktheit, unter der auch ich als Schüler zu leiden hatte, erzeugen Lehrer, indem sie u. a. die ganze Literaturgeschichte in starre Phasen einteilen: alles läuft geordnet wie in einem Leichenzug ab, ohne Analyse der soziokulturellen Umstände und konkreten Biographien: Aufklärung, Sturm-und-Drang, Klassik und Romantik, als ob die Aufklärer schweigen würden, während die Romantiker zu schreiben beginnen. Die Rollen sind klar verteilt: Die Aufklärer, das sind die bösen Rationalisten, die monströsen Verfechter des ökonomischen Fortschritts; am anderen Ende erwarten uns die Romantiker, die rückwärtsgewandten Propheten, die Heilsbringer und Märtyrer der Poesie, wobei natürlich auch die Romantiker einen Haufen unverständliches und süßliches Zeug geschrieben haben. Aber selbst das eigene Leben lässt sich nicht in Kindheit und Erwachsensein aufteilen. Die interessanten Fragen bestehen doch darin, inwiefern die Kindheit immer wieder das Erwachsenwerden überschattet und in das Erwachsenssein eingreift. Welche kindlichen Sehnsüchte und Allmachtsphantasien schleppe ich mit mir herum; strukturiert das verdrängte Kind in mir meine momentanen Verhaltensweisen; welche kindliche Vorstellung wächst sich zu einer Neurose, zu einer psychischen Deformation aus? Auf die Literaturgeschichte übertragen erweist es sich als unzureichend, eine Phase ohne Ecken und Kanten mit ihren seltsam wenigen Protagonisten, die oft zufällig an die Oberfläche gespült worden sind, kennenzulernen. Man muss stattdessen fragen, was eine Phase motiviert, welches Gedankengut in sie hineinragt, womit sie kämpft, was sie verdrängt, was sie unbewältigt lässt und weiterreicht. Hieran knüpft sich eine genaue Analyse der Lebensläufe der Protagonisten, eine konkrete Behandlung der jeweiligen sozialen und psychischen Verfassung und familiären Situation.

In Deinen Augen kommt das Ästhetische im Schulunterricht zu kurz, wird überlagert von Epochenfragen und Interpretationen, so als wäre die Literatur zwecks späterer Analyse verfasst worden.

Bereits dem Abiturienten fällt auf, dass die Literaturgeschichte nur den Bruchteil jener Literaten behandelt, die jede Epoche aufzuweisen hat. Da muss er stutzig werden, unbequeme Fragen stellen, er muss die Vergessenen aus dem Abfalleimer der Geschichte herausholen, ebenso wie jeder einmal im Leben an den Punkt kommt, an dem es darum geht, die Familiengeheimnisse zu lüften und die Leichen im Keller aufzuspüren, um sich und die Welt verstehen, sich mit ihr aussöhnen zu können. Eine solche kritische Literaturgeschichte der Übergänge, der Erinnerung an das Verdrängte, ist selten irgendwo, schon gar nicht in der Schule, anzutreffen.

Kommen wir noch einmal zu den verschiedenen Phasen der Romantik.

Mit philiströser Gelehrtengeste könnte ich die Romantik in drei Phasen einteilen: in die Phase der Frühromantik (1790–1801), in der die Programmzeitschrift Athenaeum von Friedrich und August Wilhem Schlegel herausgegeben wird und in der man u. a. in Jena, inspiriert von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre und Johann Wolfgang Goethes Roman Wilhelm Meister, versucht, Gesellschaftskritik poetisch zu formulieren und die Ideale der Französischen Revolution auf ästhetisches Gebiet hinüberzuretten; die Hochromantik (1801–15) u. a. in Heidelberg, mit ihrer Volkslieddichtung und den Märchensammlungen; die Spätromantik (1820–1850), in der die Inhalte der vorhergehenden beiden Phasen trivialisiert werden und die – katholisch geprägt – im Feld der Politik restaurative und reaktionäre Züge annimmt. Auf diese grobe Einteilung könnte ich verweisen, wenngleich sich die Wirklichkeit vielschichtiger und komplizierter darstellt. Von dem, was im Zeitalter der Romantik passiert, wissen wir recht wenig. Wir kennen nur eine äußerst geringe Anzahl von Namen, es gibt einige große Werkausgaben, die Autoren der zweiten, dritten oder vierten Reihe kennen wir nicht. Wer kennt heute Friedrich Hugo von Dalberg (1760–1812), der dem Denken der Sturm-und-Drang-Generation entstammt und als Musikschriftsteller und Kulturtheoretiker die Frühromantik vorbereitet? Wer kennt heute den aus Estland stammenden Heinrich Dahl (1770–1807), der Romantik als Lebensform, als Bewusstseinsstörung und tiefempfundenen Riss zwischen Subjekt und Welt begreift? Wer kennt heute Louise Brachmann (1777–1822), die mit ihren Gedichten und Novellen auf die Nachtseiten der Biedermeierzeit hinweist und Angst und Depression ästhetisiert. Stellen wir uns ein Gesicht vor, so behandeln wir als Forscher permanent die große, hervorstehende Nase, die äußeren Umrisse erkennen wir verschwommen, die eigentliche Physiognomie bleibt uns verborgen.

Ursprünglich schien die Romantik dem Philisterhaften entgegengesetzt. Romantisch entstammt etymologisch dem Altfranzösischen und bezeichnet die Volkssprache, das Romanhafte, im Gegensatz zu den in Latein abgefassten Versen des höfischen Romans. Romantisch wurde damals ausschließlich pejorativ gebraucht. Steckt in der Emanzipation (der Sprache) latent trotzdem auch das Völkische, das Reaktionäre, das vor allem im 20. Jahrhundert damit assoziiert wurde? Man denke beispielsweise an Fichte.

Es gibt Romantiker, die man reaktionär nennen könnte, weil sie wie Friedrich de la Motte-Fouqué mit ihrer Vorliebe für mittelalterliche Gestalten und Themen feudale Zeiten verherrlichen. Man muss dabei bedenken, dass viele Romantiker zunächst als vehemente Streiter gegen eine zerstörerische Vernunft auftreten, sie vermeiden Klarheit und Realitätsbezug, weil ihnen ein Leben in einer prosaischen Welt, in der es weniger um Freiheit als um ökonomische Notwendigkeit geht, würdelos erscheint. Über die von der aufklärerischen Vernunft entblößte, sezierte und ausgebeutete Natur breiten sie den Schleier des Rätselhaften, Unverständlichen und Wunderbaren. Die Gefahr besteht nun darin, sich im Wunderbaren zu verlieren, sich selbst rätselhaft und fremd zu werden, mit abergläubischen Vorstellungen den Obskurantismus zu stärken. An dem Punkt, an dem man erkennen muß, daß es aussichtslos ist, die Welt zu poetisieren, und man aus dem Rausch der Poesie erwacht, wenden sich einige Romantiker wie Clemens Brentano, Joseph Görres, Adam Müller oder Friedrich Schlegel dem Katholizismus zu, um der Beliebigkeit und den Ausschweifungen der Imagination zu entrinnen, um das überindividuelle Leben in ein starres, geradezu höfisches Korsett einzupassen, weil die uferlose Phantasie, die oft groteske Gestalten hervorbringt und an die eigene Sexualität erinnert, einem einen gehörigen Schrecken eingejagt hat.

Es gibt ein lateinisches Sprichwort: „Ordo ab Chao“, was so viel wie „aus Chaos erwächst Ordnung“ bedeutet. Die Ordnung, von der wir sprechen, trägt aber ambivalente Züge?

Wer wie die Romantiker um 1800 lustvoll den Status quo der Gesellschaft und der Kunst demontiert, sehnt sich irgendwann nach einem festen Grund. Wer den Opiumtraum der Poesie überlebt wird ein eitler Geck, dessen Geist tot ist, dessen Körper aber weiterhin auf der Erde umherwandelt. In dieser Weise beschreibt Heinrich Heine den späteren Verfall der Romantik. August Wilhelm Schlegel verwandelt sich in einen fetten, mit Orden dekorierten Philister.

In Heines Polemik, das ist die Pointe, steckt jene Respektlosigkeit, die für die Frühromantik charakteristisch ist. Heine wirft den Romantikern vor, dass sie mit ihrer späteren Anpassung, Zahmheit und Staatsnähe ihre Wurzeln verraten hätten, und damit avanciert er zum Vollstrecker ihres Erbes. Eine Gesellschaft, die ihre Fähigkeit und den Mut zur Veränderung verliert, ist eine solche, in der Romantiker, die radikal nach Versäumnissen, Verdrängungsmechanismen und Handlungsspielräumen fragen, gedeihen. Man muss sie gewähren lassen, um eine bessere Welt zu errichten, man muss auf ihre Verspießerung hoffen, damit sie das mühsam Erreichte nicht wieder einreißen.

Es wäre jedoch bedauerlich, die Romantik, die ein sehr heterogenes Gebilde und ein in ihrer Vielschichtigkeit fast noch unerforschtes Gelände darstellt, auf die gehörige Portion Antisemitismus, die in ihr steckt, zu verkürzen. Sinnvoller wäre es stattdessen, (fast unbekannte) Schriftsteller wie Saul Ascher (1767–1822), die im frühen 19. Jahrhundert gegen romantischen Judenhass und reaktionäre Tendenzen anschreiben, mit historisch-kritischen Editionen aufzuwerten. Richtig ist, dass die Epoche der Romantik, im Zeichen der Napoleonischen Kriege, eine Zeit des aufkeimenden Nationalismus darstellt. Deutschtümelei und Franzosenhass sind Bestandteile der Romantik, aber nicht die Romantik selbst. Es ist immer sinnvoller historisch-konkret zu arbeiten, über das romantische Denken bei einzelnen Personen, Gruppierungen oder in unterschiedlichen Städten, auch jenseits der bekannten Zentren, zu forschen.

Der Literaturwissenschaftler Alexander von Bormann postulierte 1984: „Die Romantik ist wieder da“ und führte dies auf die Erschütterung des Glaubens an gesellschaftlichen Fortschritt zurück: Ölkrise, „Nullwachstum“, Rohstoffverknappung. Ist die Romantik tatsächlich wieder da?

Ich bin da sehr kritisch und glaube nicht, dass die Romantik wieder da ist. Sie war eine ungeheuer komplexe Bewegung, die, ausgehend von Kunst, mit Spott, Ironie, Polemik und theoretischer Ernsthaftigkeit versuchte, auf allen Gebieten des Lebens die Würde des Menschen gegen die Unfreiheit der Ökonomie und die zerstörerischen Potenzen der Vernunft zu verteidigen. Sie hat die Zeit ihrer Wirksamkeit und Notwendigkeit gehabt, auch wenn sie als Dekoration weiter unter uns weilt. Deutsche Feuilletonisten steigen zwar immer wieder gerne mit der Romantik ins Bett und unterhalten Affären von unterschiedlicher Dauer. Aber jede Affäre verweist doch am Ende nur auf ungebührliches Verhalten. Man kann sich den bürgerlichen, gutsituierten, publikumswirksamen Romantiker des 19. Jahrhunderts schlecht als Ökofreak mit Latzhose, der selbstgepflanzte Biokartoffeln erntet, als linken Sozialarbeiter oder Quartiersmanager in Berlin-Neukölln vorstellen. Zur Romantik gehört, über das Schreckliche in der Welt zu schreiben, ohne es je erlebt zu haben oder durchleben zu wollen. Der Weltschmerz speziell bei männlichen Autoren der Romantik ist oft, nicht immer, zu sehr zur Pose erstarrt, als das er motivieren könnte, wirklich etwas zu verändern. Seien wir einmal ehrlich: Welcher Weltschmerz hätte jemals die Welt verändert? Jeder Schmerz ruft sofort das geeignete Betäubungsmittel auf den Plan.

Bildet die Globalisierung diesbezüglich sogar einen Beschleuniger, weil sich in der Romantik Moderne-Kritiker von links und rechts zu Hause fühlen?

Romantik ist auch als Fluchtbewegung zu begreifen. Romantiker wie Novalis wenden sich ihrer Innerlichkeit zu, sie suchen ihre Idealwelt im individuellen Denken und in der Kunst. Der Romantiker verschließt die Augen vor dem tatsächlichen Elend der Welt, weil er denkt, tatsächlich nichts verändern zu können. So gesehen ist die Romantik natürlich wieder da, die Betäubungsindustrie des westlichen Welt ist genuin romantisch. Joey Ramone singt trefflich gequält: „I wanna be sedated“. Ein eher aufklärerisch gesinnter Mensch würde vielleicht darin übereinstimmen, dass die Welt grauenhaft sei, sie wäre für ihn aber nie so grauenhaft, daß er nicht auf die Idee käme, sie trotzdem, mit klaren Kopf, verändern zu wollen. Während der Pessimismus den Romantiker zur Introspektion zwingt, überschätzt der optimistische Aufklärer seine Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten. Beides kann böse enden, weshalb man sich von Romantikern und Aufklärern gleichermaßen fernhalten sollte.

Weder mit pseudoromantischer Irrationalität noch mit einem Denken, das sich in die Grenzen der instrumentellen und ökonomischen Vernunft einschließt, lässt sich der globale Raubtierkapitalismus, der dem Menschen die Würde nimmt und seinen natürlichen Lebensraum ruiniert, überwinden. Lassen wir die Aufklärung des 18. und die Romantik des 19. Jahrhunderts ruhen: wir sollten lernen, selbständig und verantwortungsbewusst zu leben, was nicht ausschließt, sich immer wieder von Geschichte inspirieren zu lassen. Wer aber denkt, mit den Lösungsangeboten vergangener Jahrhunderte die heutigen Probleme beschreiben und bewältigen zu können, täuscht sich gewaltig, weil er lediglich alte Kulissen vor die neuen schiebt.

Nebenbei: Nicht jeder, mit Eichendorff, ›Taugenichts‹, der in einem Straßencafé im Prenzlauer Berg seinen Laptop aufklappt und zu arbeiten vorgibt, ist ein Romantiker. Ebenso wenig der, der sich unrettbar in phantastischen Welten, wie sie das Internet oder Computerspiele bereithalten, verliert. Während der erste Typ einen Menschen vorstellt, wie ihn sich die Wirtschaftsbosse vorstellen, nämlich auf keiner Gehaltsliste stehend, bis zum Elend selbstverantwortlich, beziehungslos und weltweit einsetzbar, trifft den zweiten der Spott Heines, der über die verkommene Romantik Ludwig Tiecks ironisch lobend ausruft: »Ja, seine Phantasie ist ein holdseliges Ritterfräulein, das im Zauberwalde nach fabelhaften Tieren jagt, vielleicht gar nach dem seltenen Einhorn, das sich nur von einer reinen Jungfrau fangen läßt.«

Die Welt zu poetisieren bedeutet keineswegs, sie computergestützt aufzuhübschen. Die Romantik ist, richtig verstanden, kein Oberflächenphänomen. Romantik zielt auf Überwindung der Konflikte zwischen Subjekt und Objekt, Mensch und Natur, sie deutet auf Versöhnung hin, keine Versöhnung allerdings, die sich nur deshalb einstellt, weil man zu bequem und arriviert geworden ist, um konstruktiv miteinander zu streiten. Wie sieht es aber heute aus? Alles Getrennte strebt weiter auseinander und wird sich niemals wiederfinden. Von Romantik keine Spur.

Wie bewertest Du den Einfluss der Romantik auf die Pop-Kultur? In den 90igern boomten TV-Serien, die das Irrationale thematisierten. Angefangen bei phantastischen Formaten wie „Twin Peaks“ (Lynch) und „Geister“ (von Trier) über „Akte X“ bis zu Durchschnittsware wie „Buffy“ oder „Dark Angel“.

Zunächst zu der Serie Akte X: Für die Literatur- und Kulturwissenschaft wäre es durchaus ein Gewinn, wenn es mehr Forscher gäbe, die wie Fox Mulder gezielt die X-Akten der deutschen und europäischen Literatur untersuchen und aufbereiten würden. Wen interessiert der totgepflegte Backcatalog der Beatles, wenn man stattdessen den rohen Studiosessions und den produktiven Gesprächen während des künstlerischen Entstehungsprozesses lauschen könnte. Ich möchte die vibrierenden Energien, die in der Geschichte stecken, spüren und erlebbar machen. Der Kanon lässt mich kalt. Deshalb begebe ich mich auf die Suche nach vermeintlichen Monstern, weil mich das Unangepasste, das an den Nahtstellen zwischen unterschiedlichen Epochen entsteht und das normalerweise nicht sein darf, weil es der Kanon so will, interessiert.

Man könnte Fox Mulder als letzten Romantiker bezeichnen, der immer wieder auf die Seltsamkeiten und das Abnorme innerhalb der geregelten und rationalisierten Welt hindeutet. Er ist deshalb der letzte, weil er das romantische Denken an sein Ende führt: Ihm ist völlig klar, dass Wirklichkeit konstruiert, erlogen und poetisch erzeugt wird, trotzdem sucht er nach der wahren Wirklichkeit, nach der unumstößlichen Wahrheit, die irgendwo ›da draußen‹ existieren soll. Ein solches Verhalten endet natürlich entweder im Wahnsinn oder im Philistertum.

Die angesprochenen Serien nehmen sich ausschließlich des Phantastischen, eines Details des romantischen Denkens, an, weil sich das gut verkauft und die Menschen immer zu interessieren scheint. Es wäre indessen grundfalsch, überall Romantik wittern zu wollen, es wird viel Unsinn geredet. Vielleicht war Kurt Cobain der Novalis des 20. Jahrhunderts, vielleicht war Novalis der James Dean des 19. Das sind alles leere Worte, die sich leicht sagen lassen, die man gerne hört, weil ihnen eigentlich keine Bedeutung innewohnt. Wenn irgendwo die Namen Novalis, Schlegel, Brentano und Hoffmann fallen, muss das nicht notwendig etwas mit Romantik zu tun haben. Es existiert die Romantik ausschließlich im 19. Jahrhundert, alles andere ist fades Surrogat, Mode, Kommerz.

Die Gothic-Szene und deren erweitertes Umfeld bezieht sich explizit auf die Romantik (man denke zum Beispiel an den Eichendorff-Sampler). Siehst Du bei weiteren Künstlern einen direkten Einfluss oder zumindest die Transformation der Ideen und Ästhetik der Romantik?

Es sieht auf den ersten Blick wirklich so aus, als würden sich die Gothic-Szene und andere Jugendbewegungen auf die Romantik beziehen. Wenn man diesen Leuten allerdings zuruft: »Toll, wie ihr die Hymnen an die Nacht musikalisch umgesetzt habt. Wahnsinn, wie ihr die Dunkelheitseuphorie von Novalis hörbar machen könnt.«, dann zieht man fragende Blicke aus teilweise grotesk geschminkten Gesichtern auf sich. Mit Romantik im eigentlichen Sinne hat das natürlich wenig zu tun. Oft sind es alte Schulthemen, an die man sich im Probenraum mehr schlecht als recht erinnert. Letztlich sind Jugendbewegungen und Romantik keineswegs identisch. Ich achte jede kindliche Freude am Höhlenbau, Verstecken und an der Kostümierung, aber warum muss man von Romantik reden? Es hat wohl mehr damit zu tun, sich erfolgreich von anderen, von den Eltern insbesondere, zu unterscheiden, sich mit Gleichgesinnten über Kleidung und Musik zu definieren. Novalis war der Ansicht, dass u. a. der Tod ein gewaltiges Reflexionspotential besitzt, das leider kein jugendlicher Grübelzwang auszuschöpfen vermag.

Ich meine, Michel Houellebecq könnte als ein Nachfolger der Romantik gehandelt werden. Er muss sich nicht mit großen Namen schmücken, und ein allgemeiner, trivialer Weltschmerz liegt ihm fern. Scharfzüngig und klar analysiert er die Geschichte und das Sosein der westlichen Zivilisation. Ein Leitspruch seines Schreibens lautet: »Die Welt ist entfaltetes Leid. An ihrem Ursprung steht ein Knoten aus Leid. Alle Existenz ist eine Ausdehnung und ein Zermalmen. Alle Dinge leiden, bis sie sind. Das Nichts erbebt vor Schmerz, bis es das Sein erlangt: in einer furchtbaren Krise.« Was in diesem Fragment zunächst ganz schrecklich aussieht, geht aus mythologischen, naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Traditionen hervor. H. betont das Werden, die Dynamik des Lebens, die sich nicht in menschliche Kategorien pressen lässt, betont das Lebensgefährliche am Leben und die unglaublichen, kreativen Kräfte, die jede Krise freisetzt. Das schmerzhafte Entfachen von Kreativität ist genuin romantisch.

Im scheinbaren Gegensatz zur Romantik bleibt Houellebecq die Versöhnung schuldig. Er sagt: »Haben Sie keine Angst vor dem Glück; es existiert nicht.« Ich bin der Ansicht, dass eben dies eine sehr beglückende und befreiende Aussage und Erfahrung ist bzw. sein kann: Houellebecq bricht mit allen Glücksversprechen, die die Gesellschaft bereithält, er wendet sich gegen den von der Gesellschaft erzeugten Zwang, in einer bestimmten Weise glücklich zu sein/zu werden. Wer den Glücks- und Heilsversprechen entsagt, der setzt sich nicht zur Ruhe, wird nicht faul und träge, wartet nicht, bis die ferne Glückszeit anbricht, der handelt im Hier und Jetzt. Wer das große Glück aus den Augen verliert, der wird demütig, der schätzt den schönen Augenblick, ohne auf ein Endziel zu schielen, der geht mit Menschen um, ohne von ihnen eine Gegenleistung zu erwarten, ohne sie zu instrumentalisieren und zu Objekten, die er für sein Glück und Seelenheil benötigt, herabzuwürdigen. Wer dem Glück am Ende des Horizontes den Rücken zukehrt, taugt nicht zum Fanatiker und ist deshalb erlösungsfähig.

Es ist befreiend, unglücklich sein zu dürfen, sich selbst ohne Betäubung in seinem Schmerz kennenzulernen. Aber dem Schmerz folgt die Geburt von etwas Großem, für das man nie den Sinn verlieren darf. Ein Ausbruch aus dem Ist-Zustand der Welt lohnt immer, da bin ich ganz Romantiker. Alles eine Frage der Desorganisation. Ich mache von meinem ›Verwirrungsrecht‹, wie Friedrich Schlegel sagen würde, Gebrauch.

Dr. Völker, vielen Dank für das Gespräch.


Über „Hexenwind“ von Dornenreich

Besprochenvon Ronald Klein

Nach dem fulminanten 2001er Werk „Her Von Welken Nächten“ kündigten die Österreicher an, sich mit einem Seiten-Projekt anderen Klängen zu widmen. Aus dem einstigen Projektnamen wurde der Albumtitel, der programmatisch eine neue Richtung verspricht. Der raubeinige Black Metal gehört der Vergangenheit an. Der „Hexenwind“ flüstert mal verträumte, mal unheimlich verwunschene Lieder – langsame Akustik-Parts dominieren die fünf Songs (knapp 44 Minuten), während die verzerrten Gitarren deutlich in den Hintergrund treten. Sänger Eviga haucht, flüstert und beschwört und entfesselt den Freiraum der Fantasie, welcher die Hexen schweben lässt. Die Fabelwesen klingen auf dem Album weniger böse als vielmehr nach tanzenden Naturweisen. So bauen sich die Songs unheimlich langsam auf und kreieren mit den sich wiederholenden Passagen ein sowohl mystisches, wie unheimlich melodiöses Mantra, das in knapp einer dreiviertel Stunde die Geschwindigkeit der realen Welt da draußen vergessen macht.

 

www.prophecy.cd

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Regisseur Wim Wenders über die digitale Riesenchance. Wim Wenders im Interview mit Ronald Klein, 25.08.06

Regisseur Wim Wenders spricht über sein Videodreh für die Band „Die Toten Hosen“, über seine Arbeit in den USA und das Klischee vom „Autorenfilm“. Thema ist außerdem die damals aktuelle Filmarbeit von Wenders, End of Violence.

Wie kam es zur Zusammenarbeit mit den Toten Hosen, für die Sie den aktuellen Videoclip inszenierten?

Ich bin vom Manager der Hosen angeschrieben worden, ob ich eventuell Lust hätte, ein Video zu machen. Klar, habe ich gedacht, als alter Fan der Band, das würde mich interessieren, aber ein Musik-Video kann nach meiner Erfahrung nur gut werden und Spaß machen, wenn man zu einem Song wirklich eine Beziehung hat. Also habe ich geantwortet, daß ich a priori interessiert wäre, aber gerne mal das Lied hören würde. Kurz darauf kam die damals brandneue CD vorbei, „Unsterblich“. Die habe ich mir von A bis Z angehört, und einige von den Songs haben mir richtig gut gefallen. Aber mit Abstand der beste Song, in meinen Augen (und Ohren) war „Warum werde ich nicht satt?“ Keinen anderen hätte ich mir auf der ganzen CD besser vorstellen können als ein Musik Video, was mir Spaß machen würde und wo ich auch dahinter stehen könnte. Also habe ich zugesagt. Und das keine Sekunde bereut. Hunderte von Malen habe ich das Lied gehört, in der Vorbereitung, beim Drehen und in der langen Post-Produktion, und es ist mir nie zum Hals heraus gehangen. Im Gegenteil, es ist weiter gewachsen. Für mich inzwischen echt so was wie ein deutsches Pendant zu „Satisfaction“, und ein größeres Kompliment kann man einem Rock-Song wohl nicht machen.

Sie leben seit einiger Zeit in Amerika, wie wirkt sich dies auf Ihre Arbeiten aus? Was müßte der deutsche Film (den es ja als Kategorie so eigentlich nicht gibt) noch unbedingt lernen?

Man kann eines lernen von den Amerikanern, wenn überhaupt, nämlich für ein internationales Publikum zu arbeiten, und nicht für ein nationales. Nun gut, ich habe in dem Sinne nie „national“ gearbeitet, und ohnehin immer ein größeres Publikum im Ausland gehabt als in Deutschland. Aber es gefällt mir, in den USA zu arbeiten, und für eine Weile lang auch wieder da zu leben. Ich arbeite sehr gerne auf Englisch, die amerikanische Landschaft übt nach wie vor eine große Anziehungskraft auf mich aus. Und ich mag die Anonymität, die ich in Amerika habe, im Gegensatz zu Deutschland oder Europa. Wenn der Deutsche Film etwas lernen sollte, um nicht nur in Deutschland, sondern in der Welt Erfolg zu haben, dann, daß man sich nicht auf Rezepte verlassen sollte (für eine Weile lang war die „deutsche Komödie“ so ein Rezept) sondern das in dieser Zeit nur Erfolg hat, was eben nicht ausgetretene Wege geht. Der Tom Tykwer hat das mit „Lola rennt“ schön bewiesen. Die Amis sind auf dem Gebiet der „formulated movies“, also den nach Rezepten und durch Genreregeln durchgestylten Filmen ohnehin nicht zu schlagen. Da können wir im europäischen Kino gar nichts dagegen setzen. Sollten wir auch nicht, sondern das tun, was wir unsererseits besser können, nämlich spezifische Geschichten zu erzählen, mit lokalem Flair und lokalen Bezügen.

Sie sprachen vorhin an, daß das größere Publikum Ihrer Filme stets im Ausland zu finden war. In Deutschland haben Presse und Filmkritiker stets versucht, Sie auf das Format „Autorenfilmer“ festzunageln. Sind die deutschen Kinogänger zu verkrampft in der Erwartungshaltung?

Eigentlich liegt die Verkrampfung nicht auf der Seite des Publikums, sondern, wenn überhaupt, bei der Kritik. Ich bin ganz sicher, daß viele Journalisten ganz anders über meine Filme schreiben würden, wenn sie einmal ausnahmsweise nicht wüßten, von wem die sind. Wenders? Den kennen wir. Schublade „Autorenfilm“. Der macht ja schon seit 30 Jahren Filme. Was mich daran ärgert, ist die Denk- und Sehfaulheit. Und der fälschliche Umgang mit Begriffen. Was das in deren Köpfen wohl heißen soll, „Autorenfilm“, das möchte ich eigentlich mal gern wissen. Historisch war das die Personaleinheit von Regisseur, Autor und Produzent. Sonst heißt das Wort nichts. In dem Sinne bin ich längst kein Autorenfilmer mehr. „Der Himmel über Berlin“ wäre noch halbwegs ein Autorenfilm gewesen, auch „Faraway, So Close!“ vielleicht noch. Tom Tykwer ist in der Tat noch so jemand, der Autor, Regisseur und Produzent in einem ist. Nennt den irgendein deutscher Journalist „Autorenfilmer“? Ich glaube nicht. Eben weil der Begriff nicht mehr inhaltlich relevant ist, sondern als Schimpfwort benutzt wird, zum Deklassieren. „Einer von früher“, „Einer von gestern“ soll das nämlich heißen. Gegen dieses Vorurteil habe ich sonst nirgendwo zu kämpfen, und sowieso nicht bei den Zuschauern. Die sehen heute ohnehin jeden Film für sich, ohne eine Geschichte davor, und ohne den Zusammenhang eines „Werkes“. Was völlig in Ordnung geht. Ich mache meine Filme auch so, jeden als ob er der erste wäre, ohne auf irgendeine Erfahrung zu bauen. Deswegen freue ich mich auch über jede unvoreingenommene, neugierige und offene Rezeption.

Ein Film, der mich besonders fasziniert hat, war „The End Of Violence„. Hier wurde deutlich, wie ein Individuum hilflos den Strukturen gegenübersteht. Wie sind Sie auf den Stoff gestoßen?

Die Stadt Los Angeles hat mich zu diesem Film inspiriert. Wenn man so will, sehe ich in „End of Violence“ ein Porträt von LA. Überwachung ist ein großes Thema hier, so wie Gewalt. Nur, daß diese Stadt dieses Problem selbst hochgezüchtet hat. Wie keine andere hat sie Bilder von Gewalt in alle Welt verbreitet, und steht jetzt hilflos und entsetzt vor ihrem eigenen Produkt und versucht sich davor zu schützen. Mich hat interessiert, diesen Aspekt der Stadt einmal zu untersuchen, und auch zu zeigen, wie wenig die eigentliche Realität von Los Angeles in all den Filmen vorkommt, die dort gemacht werden. Wann sieht man schon mal, daß die Hälfte der Bevölkerung, die „Latinos“ nämlich, als unsichtbar angesehen werden.

Der Realismus scheint sowieso nicht die Rolle in Mainstream-Filmen zu spielen. Während früher ansatzweise Filme ein Spiegel der Realität oder der Gesellschaft waren, scheint der Trend dahinzugehen, daß Kino (oder darüber hinaus Medien) oftmals versucht vorzugeben, was Realität ist. Ist die Annahme irrig?

„Self-fulfilling prophecies“ nennt man das auf englisch. So sehr Ihre These natürlich stimmt, daß das Wort „Realismus“ eigentlich ein Schimpfwort geworden ist in weiten Bereichen der Unterhaltungs- und Medienindustrie, so sehr würde ich doch behaupten wollen, daß Film nach wie vor in der Lage ist, mit realen Dingen wahrheitsgetreu und kraftvoll und ethisch fundiert umzugehen. Und gerade das digitale Medium kann das gut (wie die Dogma-Filme zeigen), obwohl man der digitalen Bildsprache ja oft die Fähigkeit zur Wahrheit absprechen will und sie als rein manipulatorisch abkanzelt.

Die digitale Technik bietet zwar zum einen ein immer besser funktionierendes Überwachungsnetz, aber auf der anderen Seite auch eine Demokratisierung im künstlerischen Bereich. Junge Musiker oder Filmemacher haben bessere Möglichkeiten ihre Ideen kostengünstig zu produzieren. Glauben Sie, daß die Kulturindustrie hier noch eine Chance oder überhaupt ein Interesse hat, gegenzusteuern, um wieder mehr Einfluß zu gewinnen?

Die digitale Technik leitet in der Tat eine große Kulturrevolution ein, und die gesamte Kinoindustrie wird dies in den nächsten Jahren wie ein gewaltiges Erdbeben verspüren. Ich glaube allerdings, daß die „Kulturindustrie“ da wenig Steuerungsfunktionen haben wird, so wie sie das ja auch im Moment schon kaum noch hat. Die „Filmkritik“ z.B. hat ja schon längst kaum noch eine Funktion, und die meisten journalistischen Organe in diesem Bereich sind ja Teil der Zulieferindustrie und der PR geworden, keine Instrumente der „Kritik“ mehr. Im Konsumzeitalter läuft eben alles nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Das ist im Grunde auch die gewaltige Chance, die sich in der Zukunft jungen Filmemachern auftut: Sie können, sofern sie denn was auf dem Kasten haben, mit Consumer-Technologie, die in jedem Laden zu kaufen ist, Filme produzieren und damit potentiell ein Publikum in der ganzen Welt erreichen. Das gab es in der über hundertjährigen Geschichte des Films noch nicht. Da waren die teueren Produktionsmittel einfach von vornherein immer ein Stolperstein. Die Großen Studios werden sich gewaltig umgucken, wenn nämlich ein überwiegend junges Publikum in der ganzen Welt seine Meinung kundtun wird, daß es nicht nur die vorgekauten Großprodukte und Blockbuster sehen will, sondern auch Neues, Erfinderisches, Gewagtes, Unkonventionelles. Und die digitalen Mitteln bieten die Möglichkeit, in nächster Zukunft, solche Produkte billig und ganz direkt, ohne all die Mittelsmänner, an ein Riesenpublikum zu bringen. Darin sehe ich in der Tat eine Riesenchance für ein neues, wirklich unabhängiges Kino.

Der Jahrestag zur deutschen Einheit hat sich zum zehnten Mal gejährt. In vielen Fernsehsendungen wurde die Befreiung von der Diktatur des Sozialismus und der totalen Überwachung gefeiert. „The End Of Violence“ zeichnet hingegen ein düsteres Bild vom aktuellen Hier und Jetzt.

Wenn man mal davon ausgeht, daß diese Zustände, die der Film in Los Angeles beschreibt, demnächst auch bei uns gang und gäbe sein könnten, dann könnte man die Frage so stehen lassen. Das Zeitalter des späten Kapitalismus, unser vielbeschworenes Konsumzeitalter, hat seine eigenen Gesetze von Überwachung und Kontrolle mit sich gebracht, und dem Individuum andere Zwänge aufgedrängt wie die des Sozialismus. Im Endeffekt ist dabei mitunter dasselbe herausgekommen. Verlust von individueller Freiheit in vielen Fällen, Überwachung, Bespitzelung, Abhören… Nicht mehr bedingt durch die (vorgebliche) Herrschaft des Proletariats, sondern nur noch durch die Maximen des Konsums. Trotzdem, ich habe viel Verständnis für die Menschen, die mit den größten Hoffnungen aus der DDR herausgetreten sind, und dann bitter enttäuscht waren von der Realität der Freien Welt, die so frei eben nicht war, sondern ihr eigenes Gestänge von Unfreiheiten aufgebaut hat. Nicht, daß ich jetzt Gott weiß wie sozialistisch klingen will. Man muß nur höllisch aufpassen, jeder für sich, in welche Zwänge man sich begeben will, was man bereit ist zu konsumieren, zu welchem Preis. Das Konsumgut „Gewalt“ lehne ich, für mein eigenes Leben, ab. Und nichts andres tut ja unser Held in dem Film „The End Of Violence„, der Filmproduzent. Wo er Gewalt einmal am eigenen Leib zu spüren bekommt, will er sich mit aller Konsequenz davon lossagen…

In ihren Filmen steckt unheimlich viel Poesie und bestimmte Motive tauch(t)en immer wieder auf, zum Beispiel Menschen auf der Reise. Sie selbst lebten in u.a. in San Francisco, Berlin und nun Los Angeles. Was bedeutet Ihnen Heimat, wann empfinden sie Heimweh?

Heimweh kenne ich nur als die plötzliche Sehnsucht nach einem Ort, den man gut kennt, aber wo man lange nicht mehr war. Das hat aber gar nichts mit „Heimat“ zu tun. Ich rede mit einem Freund aus Australien und habe plötzlich eine brennende Sehnsucht nach der australischen Wüste und den Monaten, die ich da jede Nacht auf dem Wüstenboden geschlafen habe, ohne Zelt, einfach nur auf dem Sand. Oder jemand schickt mir eine Postkarte aus San Francisco, und mir wird klar, daß ich die Stadt seit 3 oder 4 Jahren nicht mehr aufgesucht habe, und ich habe das beklemmende Gefühl, etwas Wichtiges in meinem Leben zu verpassen, wenn ich nicht bald wieder da hin komme. Wenn man so viel gereist ist und in so vielen Orten gelebt hat, denke ich mir manchmal, daß man eigentlich ein paralleles Leben in vielen Orten gleichzeitig führt. Ich versuche, meine Heimatstädte Berlin, San Francisco, Düsseldorf, Sydney, New York, München, Tokyo, Oberhausen, Lissabon und Los Angeles gleichzeitig in mir am Leben zu erhalten, sozusagen, und zu verfolgen, wie sie sich entwickeln. Das einzige, was ich je wirklich als „Heimat“ empfunden habe, ist die deutsche Sprache. In der möchte ich Zeit meines Lebens wohnen bleiben.

Wenn Sie auf der berüchtigten einsamen Insel einen Videorekorder hätten, welche drei Filme würden sie mitnehmen?

Also, bevor ich dahin eine Videokassette mitnähme, würde ich lieber 3 CDs und 3 Bücher einpacken. Wenn es darüber hinaus immer noch die Möglichkeit gäbe, Filme anzugucken, dann wären das: „Die Spielregel“ von Renoir, „Banshun“ von Ozu und „Only Angels Have Wings“ von Hawks. Morgen wäre das schon wieder eine andere Liste. Anders als spontan kann man so was ja eh nicht beantworten.

Nach „Buena Vista Social Club“ und „Warum werde ich nicht satt“, steht nun wieder etwas mit Musik an: ein Film über Bap und ohne Drehbuch. Was darf erwartet werden?

Ein Heimatfilm.

Herr Wenders, vielen Dank für das Gespräch.