Jiménez, Camilo: Tagebuch eines Ehrgeizigen. Arthur Schopenhauers Studienjahre in Berlin, 11.08.06

Einleitung

Die folgende Arbeit befasst sich mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer und seinem Leben als Student der Friedrich-Wilhelms Berliner Universität. Schopenhauer lebte zwischen 1811 und 1813 in Berlin, wo er drei Semester studierte. Diese Jahre stehen für die erste von drei Perioden, die Schopenhauer in Berlin verbrachte: 1820 kehrte er in die Stadt zurück und blieb dort bis 1822, während er dort als Privatdozent tätig war. 1825 kam er wieder nach Berlin und lebte dort bis zum Ausbruch der Cholera-Seuche im Jahr 1830, wobei er ein Einzelgänger im intellektuellen Milieu der Berliner Universitätsphilosophen blieb.

Die drei Berliner Aufenthalte Arthur Schopenhauers bieten aufschlussreiche Einblicke für die Erforschung der frühen Geschichte der Berliner Universität.

In Glossen, Notizen-, Vorlesungs- und Studienheften, Briefen, Gesprächen sowie in den Vorworten und an zahlreichen Stellen seiner philosophischen Werke zeigte sich Schopenhauer — als Student, Doktorand und Privatdozent — als unermüdlicher und ständiger Kritiker der Berliner Universität, besonders ihrer zwei wichtigsten Akteure: Fichte und Hegel.

Diese Kritik an die Universitäts-Philosophie, die oft nur als willentlicher und sarkastischer Spott betrachtet wird, vermochte die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen allerdings kaum zu erregen. Das allgemeine Desinteresse an Schopenhauers Aversion gegen Hegel und die Universität allgemein hatte zunächst bei den Studierenden und Kollegen, aber langfristig auch in der akademischen Umgebung deutscher Universitäten eine unmittelbare Wirkung auf das philosophische und biographische Ansehen Schopenhauers. Nicht ohne Grund entzündete sich das Interesse für sein Werk und seine Person erst 1848, zwölf Jahre vor seinem Tod, als um die Zeit der März-Revolution auch der Gesamtanspruch des Deutschen Idealismus’ obsolet wurde und die Philosophie neue Wege ging, wobei Schopenhauers Willens-Lehre eine wichtige Rolle spielte.

Aber obgleich Schopenhauers Teilnahme am Diskurs der Universitäts-Philosophie keine historische Relevanz zuerkannt werden kann, haben seine Berliner Jahre — dies bestätigen alle wichtigen Biographen des Philosophen sowie die detaillierte Studie des Schopenhauer-Forschers Yasuo Kamata — eine für die Begriffsentwicklung des jungen Schopenhauer wesentliche Bedeutung. Schopenhauer war nie gerne in Berlin. Trotzdem befand sich dort die Universität, wo er als Student zwischen dem 23. und 25. Lebensalter zu den Überzeugungen kam, die ihn allmählich dazu führten, Fichtes Bewusstseinslehre abzulehnen und sich somit von dem aufblühenden Deutschen Idealismus definitiv abzugrenzen. Dort verfasste er einen großen Teil seiner Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Vermutlich sind die Grundlagen seines philosophischen Hauptwerks, Die Welt als Wille und Vorstellung, ebenfalls dort entstanden. Auch war Berlin der Ort, wo der 32-jährige zwischen 1820 und 1822 — unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung —sich vergeblich als großer Philosoph und Antipode Hegels zu etablieren versuchte; wo er sich als Dozent versuchte und in dem Vorhaben vollkommen scheiterte. Es ist nicht zuletzt auch der Ort, wo der Philosophie Professor zwischen 1825 und 1830 auch die unfruchtbarste Periode seines Lebens erlebte.

Eine kritische Gesamtdarstellung von Schopenhauers Berliner Jahren existiert bisher nicht. Trotzdem haben neueste Auseinandersetzungen sowohl mit dem Leben des Philosophen[1] als auch mit der Geschichte der Berliner Universität[2] Schopenhauers drei Berliner Perioden eine beträchtliche Bedeutung zuerkannt. Es ist die Absicht der vorliegenden Arbeit, sich einer der drei Berliner Aufenthalte — nämlich dem ersten — kritisch zu nähern.

Die folgenden Seiten bieten eine Darstellung vom Leben des Studenten Arthur Schopenhauer. Folglich werden neben dem Berliner Aufenthalt zwischen 1811 und 1813 die zwei Jahre miteinbezogen, die der junge Schopenhauer zuvor als Medizin-Student in Göttingen verbrachte. Besonders berücksichtigt wird hier das zugängliche Quellenmaterial. Der vorliegende Text will diese Dokumente im biographischen Kontext der Studienjahre Schopenhauers einordnen anstatt sie selbst zu analysieren. Auch werden fünf der einschlägigsten Werke über das Leben Schopenhauers zu Rate gezogen, nämlich die Biographien von Wilhelm vom Gwinner, Eduard Grisebach, Arthur Hübscher, Walter Schneider und Rüdiger Safranski.

Der Medizin-Student in Göttingen

Am 9. Oktober 1809 immatrikulierte sich der 21-jährige Arthur Schopenhauer als Student der Medizin an der Göttinger Universität. Vier Semester verbrachte Schopenhauer in Göttingen, bevor er nach Berlin abreiste, um dort das Studium der Philosophie zu beginnen. Von diesen zwei Jahren in Göttingen weiß man, dass sie dafür ursächlich waren, dass der einst überzeugte Medizinstudent seine Absichten in dem Bereich aufgab und sich für die Philosophie entschied.[3]

Und in der Tat verwandelte sich das Medizinstudium an der Göttinger Institution bereits nach dem ersten Semester zu einer Beschäftigung mit der Medizin, vor allem aber mit den Naturwissenschaften und der Philosophie. Schopenhauers Biograph Eduard Grisebach — zusammen mit Wilhelm von Gwinner eine der wichtigsten Quellen zur Lebensgeschichte Schopenhauers — beide haben den Philosophen persönlich gekannt — berichtet, es sei im Sommersemester 1810 gewesen, als Schopenhauer zum Entschluss gekommen sei, sich dem Studium der Philosophie zu widmen.[4] Schopenhauers Vorlesungshefte sowie die Register der Universitätsbibliothek liefern ein anschauliches Bild dieses Wandels.

Ein Vergleich von Schopenhauers Fächerauswahl[5] im Wintersemester 1809/10 und dem darauf folgenden Sommersemester zeigt drei relevante Änderungen im Studienplan des Medizinstudenten. Zum einen fällt sofort auf, dass weder Anatomie, die Schopenhauer bei Hempel neben Naturgeschichte und Mineralogie bei Blumenbach, Mathematik bei Thibaut und „Staatengeschichte“ bei Heeren im Wintersemester besucht hatte, noch andere Fächer der Medizin auf dem Studienkalender für das Sommersemester 1810 erscheinen. Dagegen vermehren sich die naturwissenschaftlichen Fächer auf dem Plan: Er besuchte Vorlesungen über Chemie bei Stromeyer, Physik bei Tobias Mayer und Botanik bei Schrader.

Zweitens muss man die Vorlesung über die „Geschichte der Kreuzzüge“ beim Historiker Arnold Heeren sowie die über „Allgemeine Philosophie“ bei dem damals berühmten Philosophen Gottlob Ernst Schulze hervorheben, die Schopenhauer auch während des zweiten Göttinger Semesters hörte. Der Autor der anonym veröffentlichten Kritik der Kantischen Vernunftkritik Aenesidemus oder die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie habe dem jungen Studenten geraten, „sich im ‚Privatfleiß’ nur Platon und Kant zuzuwenden und keinen anderen zu sehen, nämlich nicht den Aristoteles und den Spinoza.“[6] Es scheint, dass der Einfluss Schulzes eine bedeutende Rolle bei Schopenhauers Abwendung von der damals aufkeimenden nachkantischen Entwicklung der deutschsprachigen Philosophie spielte. Und das, obwohl Schopenhauer in den Randglossen der Vorlesungshefte vom „Rindvieh Schulze“ sprach, den Vortragenden öfters für einen „Sophisten“ hielt und den Vorlesungsstoff nicht selten als „Gewäsch“ oder „Unsinn“ bezeichnete.[7] Er blieb dennoch Zeit seines Lebens dankbar gegenüber Schulze,[8] an dessen viva vox im Vorlesungssaal er sich Jahre später im Gespräch mit Julius Frauenstädt erinnerte.[9]

Entschlossen, Philosophie zu studieren, besuchte Schopenhauer Schulzes Vorlesungen weiter: eine über „Metaphysik und Psychologie“ im dritten und noch eine über „Logik“ im vierten Semester.

Die dritte Neuigkeit in Schopenhauers Studienplan im zweiten Semester an der Göttinger Universität ist der lateinische Privatunterricht, den Arthur wöchentlich bei Professor Kirsten besuchte. Seine „Freizeit“ in Göttingen, welche mit dem Desinteresse an der medizinischen Fakultät zunehmend länger wurde, verbrachte Schopenhauer fern vom so genannten „Studentenleben“. Zusätzlich zum Lateinunterricht widmete er täglich mehrere Stunden der Nachlektüre von den von Professor Kirsten besprochenen lateinischen Autoren. Außerdem weiß man, dass Schopenhauer das Flötenspielen weiter lernte, dass er sogar Gitarrenunterricht nahm, dass er ein in der Stadt bekannter Spaziergänger war und ansonsten hauptsächlich dafür sorgte, sich genügend Zeit für die Bewältigung seines ehrgeizigen Studienplans zu nehmen.

Zu den erwähnten Vorlesungen kamen dann im dritten und im vierten Semester die Philosophievorlesungen Schulzes sowie Vergleichende Anatomie und „Physiologie“ bei dem von ihm geschätzten Professor Blumenbach zu[10]; dann im Wintersemester 1810/11 Vorlesungen über Physik, Astronomie und Meteorologie bei Tobias Mayer sowie „Alte Geschichte“ bei Heeren; und zuletzt — im Sommersemester 1811 — eine Vorlesung über „Alte Geschichte und Ethnographie“ bei Heeren und „Reichsgeschichte“ bei Lüder.

Der persönliche Studienplan Arthur Schopenhauers in Göttingen bestand allerdings nicht nur aus Vorlesungen, die er oft ungern besuchte,[11] sondern auch im privaten Studium der Schriften Fichtes und Schellings. Arthur Hübscher, Biograph und Herausgeber von Schopenhauers Werken und Briefen, bestätigt — nach einer Prüfung der Ausleih-Register der Göttinger Universitätsbibliothek —, dass Schopenhauer sich schon bald von Fichtes und Schellings nachkantischen Lehren, die unter Studenten und Lehrenden en vogue waren, wieder abwandte[12]. Stattdessen, so Hübscher, habe sich Schopenhauers Denken, „Schulzes Rat gemäß, in der geistigen Nachfolge Platons und Kants“ gebildet. „Aristoteles, Spinoza und nicht minder Leibniz (…) bleiben zunächst beiseite“[13]: In der Tat waren die ersten Bücher, die Schopenhauer aus der Bibliothek entlieh, zwei Schriften Schellings, Von der Wertseele und Idee zu einer Philosophie der Natur, sowie die gesamten Dialoge Platons in der Schleiermacherschen Übersetzung[14]. Das Wintersemester 1810/11 begann für Schopenhauer — nach der Lektüre von Schulzes Aenesidemus und von der „Metaphysik“ Vorlesung Schulzes beeinflusst — „mit einem nachhaltigen Studium Platons und Kants“[15]. Zu Anfang des Sommersemesters 1811 entlieh er die Kritik der reinen Vernunft, worauf die systematische Auseinandersetzung mit den Schriften Kants im Herbst folgte[16].

Trotz des engen Kalenders des Medizinstudenten Schopenhauer und seiner allgemeinen Aversion gegen das Studentenleben in Göttingen („man schlüge überhaupt viel zu viel Zeit mit den Collegen todt“[17] pflegte Schopenhauer regen Umgang mit Kommilitonen, insbesondere mit zwei Schulfreunden aus dem Gymnasium in Gotha, Friedrich Gotthilf Ossan[18] und Ernst Anton Lewald; mit dem US-Amerikaner William Backhouse Astor, dem sich Schopenhauer „der Sprache halber“ genähert hatte, und der später als Begründer der Astor Bibliothek in New York Millionär wurde; sowie mit Christian Carl Josias von Bunsen.[19] Die Gruppe Schopenhauer, Astor und Bunsen hieß schon bald der „Göttinger Bund“, von dem Bunsen und Schopenhauer bis ins hohe Alter sprachen[20].

Grisebach berichtet außerdem von einem Göttinger Tischgenossen Schopenhauers, Karl Peck, von dem man weiß, dass er Jahre später den Philosophen Schopenhauer zu Besuch hatte und, nachdem der eher unangenehme Besucher fort war, seine Meinung zu dem Altbekannten grundlegend änderte[21].

Besonders gut verstand sich Arthur Schopenhauer mit Carl Bunsen, „dem Leibgesellschafter Schopenhauers“ — wie ihn Carl Georg Bähr einmal nannte[22] -, der auf Schopenhauer den Eindruck eines Genies machte. Arthur lud ihn nach Weimar ein, um die Osterferien im Haus seiner Mutter zu verbringen.

In diese Zeit fällt das erste Treffen des eher schüchternen Schopenhauer mit Goethe.[23] Schopenhauer brachte während dieser Weimarer Ferien seinen Freund Bunsen ins Haus des Dichters, Philosophieprofessors und Lehrer des Fürstensohns Christoph Martin Wieland mit.Zwei schriftlich festgehaltene Gespräche mit dem Weimarer Dichter[24] sowie ein Brief von Wielands Enkelin,[25] Wilhelmine Schorcht, dokumentieren die Besuche im März 1811 bei Wieland. Schopenhauer war von seinem Vorhaben, nach Berlin zu ziehen und Philosophie zu studieren, überzeugt. Im Gespräch mit Wieland gelang es ihm, die Vorbehalte des alten Professors gegenüber dem Philosophiestudium auszuräumen („Sie haben recht getan [dass Sie richtig gewählt haben], junger Mann, ich verstehe jetzt Ihre Natur; bleiben Sie bei der Philosophie“.[26] Jahre später, so beschrieb Carl August Bähr, stand eine Büste Wielands auf einem Postament im Arbeitszimmer von Schopenhauers Frankfurter Wohnung.[27] Über Schopenhauers Besuch schrieb die Enkelin Wielands ihrem Freund, dem Juristen Karl Reinhold:

”Neulich war der junge Schopenhauer auf einige Zeit in W[eimar]. Er kam von ganz filosophischen Ideen voll, er hat sich einer Filosofie mit Leib und Seele ergeben (ich weiß sie nicht namentlich zu sagen), die sehr streng ist; jede Neigung, Begierde, Leidenschaft müssen unterdrückt und bekämpft werden, dazu wünsche ich ihm nur die erforderliche Kraft, den Krieg zu bestehen, denn es gehört wohl eine Riesenseele dazu, die Forderungen alle ganz zu erfüllen, wie er den guten Willen hat.”[28]

Biographen wie Hübscher und Grisebach sind der Meinung, dass die Göttinger Jahre „für den Grund und die Richtung“ des Denkens des jungen Schopenhauers entscheidend waren:[29] Der 68-jährige Schopenhauer selbst erwähnte einmal seinem Freund Carl Georg Bähr gegenüber die Bedeutung der Studienjahre in Göttingen[30]. Andere Biographen, wie Schneider[31] und Safranski,[32] oder Forscher des „jungen Schopenhauer“ wie Kamata[33] weiten diese Periode auf die ersten Berliner Jahre aus und gehen davon aus, dass die Semester in Göttingen mit der darauf folgenden Zeit in Berlin Teile des gleichen Entwicklungsprozesses sind. Auch wenn eine erste Annäherung an die Naturwissenschaften sowie der Beginn des Studiums Platos und Kants in Göttingen geschahen, war es erst in Berlin, wo Schopenhauer Kant gründlich studierte, sich eigene philosophische Prinzipien aneignete und, konfrontiert mit den Ansichten des gängigen Deutschen Idealismus’ diesen zu verachten erlernte.

Nach Ende des Sommersemesters 1811 verließ Schopenhauer Göttingen mit der Absicht — trotz aller Liebe zum Harz und allen Abscheus gegen Berlin —, in die preußische Großstadt zu ziehen, um Fichte, Wolf und Schleiermacher[34] zu hören und den weit gerühmten Geist der Universitätsphilosophie näher kennen zu lernen[35].

Die Reise nach Berlin

Schopenhauer traf Anfang Oktober 1811 in Berlin ein. Nach dem vierten Semester in Göttingen und dem eher übereilten Abschluss des Medizinstudiums war Schopenhauer den Sommer lang aus eigenem Wunsch in den Harz gereist, bevor es im Frühherbst desselben Jahres endgültig nach Berlin hieß. Dies geschah entgegen dem Wunsch der Mutter, die den Sohn lieber in Weimar gesehen hätte. Die Liebe Schopenhauers zur Göttinger Landschaft, schreibt Grisebach,[36] war stärker. Und so blieb Goethes eher reservierter Empfehlungsbrief (und einige Bücher, die der große Dichter auch nach Berlin schicken wollte) in Weimar.

Aus der Reise im Harz stammt ein einziges Dokument, das Auskunft über Schopenhauers Begeisterung für das geplante Philosophiestudium und seinen Geisteszustand gibt. Es handelt sich um einen Text, der am 8. September einige Wochen vor der Ankunft in Berlin wahrscheinlich in Ellrich im Harz verfasst wurde. Es handelt sich dabei, was allerdings noch umstritten ist[37], vermutlich um einen Brief an seine Schwester Adele:

Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein
steiler Pfad über die spitze Steine und stechende Dornen: er ist einsam und wird immer öder je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muß alles hinter sich lassen, und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht unten das grüne Thal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber muß sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Misstöne dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht immer in reiner, kühler Alpenluft und sieht schon die Sonne wenn unten noch schwarze Nacht liegt.

Einen Trost gibt es, eine sichere Hoffnung, und diese erfahren wir
vom moralischen Gefühl. Wenn es so deutlich zu uns redet, wenn wir im Innern einen so starken Bewegungsgrund auch zur größten, unserm scheinbaren Wohl ganz widersprechenden Aufopferung fühlen: so sehen wir lebhaft ein, daß ein anderes Wohl unser ist, demgemäß wir so allen irdischen Gründen entgegenhandeln sollen; daß die schwere Pflicht auf ein hohes Glück deutet, dem sie entspricht: daß die Stimme, die wir im Dunkeln hören, aus einem hellen Orte kommt. —Aber kein Versprechen gibt dem Gebote Gottes Kraft, sondern sein Gebot ist statt des Versprechens…
Diese Welt ist das Reich des Zufalls und des Irrthums: darum sollen wir nur nach dem streben, was kein Zufall raubt, und nur das behaupten und nach dem handeln, worin kein Irrthum möglich ist.”[38]

Berlin hatte Schopenhauer bereits während eines kurzen Besuches im Jahr 1800 und nochmals am Ende seiner Europa Reise im Jahr 1804 kennen gelernt — und verabscheut:[39] Die Luft war voll mit vom Wind aufgewühlten Sand. Die Bewohner bedrückten ihn.[40] Die Abneigung gegen Berlin blieb ein Leben lang[41]. Mit Sarkasmus schrieb er mehr als vierzig Jahre später an seinen Freund Julius Frauenstädt: „Viel Selbstmord in Berlin? Glaub’s; ist physisch und moralisch ein vermaledeites Nest, und ich bin der Cholera sehr dankbar, daß sie mich vor 23 Jahren daraus vertrieben hat (…)“[42].

Universität

Berlin war trotz der Abneigung Schopenhauers ein Ort, wo der Philosoph wichtige Schritte in seinem Bildungs- und Begriffentwicklungsprozess machte. Zunächst entdeckte er seine Antipathie gegen die Universitätsphilosophie – was später mit der Bekanntschaft mit Hegel umso noch stärker werden sollte.

Er erlangte Kenntnisse von Fichtes und Schellings Bewusstseinsphilosophie sowie von Kants Vernunftkritik.Diese wirkten bei aller Ablehnung des damals aufblühenden Deutschen Idealismus’ bei der Entwicklung des eigenen Gedankengebäudes nach. Eine Grundvoraussetzung dafür war die intensive Beschäftigung mit Kant. Als Student in Berlin entwarf Schopenhauer die Vorarbeiten seiner Dissertationsschrift Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Wichtige Überlegungen, die später in Die Welt als Wille und Vorstellung grundlegend sind, entstammen zumindest im Grundriss ebenfalls dieser Zeit.

Diese Vielfalt an Beschäftigungen während etwa anderthalb Jahre war nur mit einer strengen Disziplin zu bewältigen. Wie in Göttingen hielt sich Schopenhauer auch in Berlin fern vom Leben der societé der aufwachsenden Metropole. Es liegen keine Briefe aus dieser Zeit vor;[43] man weiß lediglich, dass er sein Studium im Herbst 1812 einmal unterbrach, um die Ferien bei seiner Mutter und Schwester in Dresden und Leipzig zu verbringen.[44] Alle gesellschaftlichen Kontakte, von denen man in späteren Briefen und Gesprächen erfährt, fanden innerhalb der universitären Umgebung statt.

Tatsächlich war das einzige Anliegen des 23jährigen Studenten, zwei Jahre lang in Berlin zu bleiben und sich dort zu „rüsten, [um] bei der hochansehnlichen philosophischen Fakultät der Berliner Universität den Doktorgrad im verordneten Wege zu erlangen.“[45] Schopenhauer ließ sich folglich von dem ihm bereits aus dem Weimarer Kreis seiner Mutter Johanna bekannten Zoologieprofessor Lichtenstein über die „Bedingungen und Erfordernisse“[46] zur Erfüllung seines Vorhabens informieren und machte sich an die Bewältigung seines anspruchsvollen Studienplans.

Der Studienplan

In den drei Berliner Semestern absolvierte Schopenhauer ein gewaltiges Pensum. Grisebach behauptet, Schopenhauer sei die „24 Bücher allgemeiner Geschichte“ im ersten Semester durchgegangen.[47] Schopenhauers Studienhefte zeugen von den vielfältigen intellektuellen Beschäftigungen des jungen Studenten, vor allem der unermüdlichen Auseinandersetzung mit Kants Schriften, die bis zur Abfahrt Schopenhauers von Berlin im Jahre 1813 fortgeführt wurde und im Heft „Zu Kant“[48] dokumentiert ist. Aus den Vorlesungsheften[49] weiß man, dass Schopenhauer in diesem ersten Wintersemester 1811/12 neun Kurse besuchte: Drei Vorlesungen Fichtes („Über das Studium der Philosophie“, „Über die Tatsachen des Bewußtseins“ und „Über die Wissenschaftslehre“); „Experimentalchemie“, „Magnetismus“ und „Elektrizität“ bei Martin Heinrich Klaproth; „Ornithologie, Amphibiologie, Ichtyologie“ bei Paul Eman; die Vorlesung „Über weißblutige Tiere und Haustiere“ bei Lichtenstein; und „Nordische Poesie“ bei Rühs. Besonders gefiel Schopenhauer Lichtensteins Kollegium,[50] wo ihm, so Hübscher, die beliebte Stunde zur „lebendigen Anschauung“ in den zoologischen Gärtnern und Menagerien vorbehalten war.[51]

Im zweiten Semester, von Fichte bereits geistig distanziert[52], hörte Arthur Schopenhauer im Fach Philosophie lediglich Schleiermachers Vorlesung über die „Geschichte der Philosophie zur Zeit des Christentums“. Das Sommersemester 1812 wird durch ein gesamtwissenschaftliches Interesse Schopenhauers charakterisiert. Er blieb den Naturwissenschaften treu und besuchte zwei Kollegien Lichtensteins, „Zoologie“ und „Entomologie“, sowie Weiß’ Kurs über „Geognosie“. Schopenhauer richtete sein Interesse aber auch auf die Vorlesungen des Altertumsforschers Friedrich August Wolf, mit dem Schopenhauer zunächst aufgrund der Berühmtheit seiner Mutter Johanna in den Hofkreisen in Weimar in einem guten Verhältnis stand[53]. Damit befasste sich Schopenhauer wieder mit humanistischen Fächern. Neben Wolfs Vorlesungen, „Über die Wolken des Aristophanes“ und „Über die Satiren des Horaz“, gab es die Vorlesung des damals nur 25jährigen Altertumsforschers Phillip August Boeckh, „Über das Leben und die Schriften Platons“, ein Kollegium, das Schopenhauer, so Schneider[54], aus Zeitgründen nicht besucht hatte, von dem er aber aus den Skripten seines Freundes Carl Iken erfuhr.

Der Studienplan für das letzte Semester des Studenten Arthur Schopenhauer in Berlin, das Wintersemester 1812/13, folgte seinem Interesse für eine gesamtwissenschaftliche Ausbildung. Beim Humanisten Wolf lernte Schopenhauer über „Griechische Altertümer“ in einer für den jungen Studenten reizvollen Vorlesung, um deren Hefte er dann von Wolf gebeten wurde. Diese bekam Schopenhauer dann mit Verbesserungsvorschlägen und einer aufmunternden Widmung zurück[55]. „Physik“ hörte Schopenhauer bei Fischer, „Astronomie“ bei Bode, „Allgemeine Physiologie“ bei Horkel, „Zoologie“ bei Lichtenstein und „Anatomie des menschlichen Gehirns“ bei Rosenthal.

Der Unterricht von Rosenthal fand oftmals in der Berliner Charité statt, wo, so Gwinner, „zwei in der sogenannten melancholischen Station detinirte Unglückliche [Schopenhauers] Interesse erregten“[56]. Die Patienten seien geistesgestört, aber im Bewusstsein ihrer Krankheit gewesen. Schopenhauer habe ihnen Mitleid gezeigt; dafür seien ihm „interessante Gefühle und Gedanken“ mitgeteilt worden. Einem der Kranken habe der 24jährige Student sogar eine Bibel geschenkt. Als Dank habe Schopenhauer am Ende des Wintersemesters von ihnen zwei Geschenke bekommen: eine biblische Textauswahl von dem einen und ein Gedicht von dem anderen, welches lautete:

„Dem Edlen, welcher hold erscheint,
Auch dem, der in der Zelle weint,
Der leidende Menschenfreund.“[57]

Die Studien- und Vorlesungshefte

Bei jeder Vorlesung bekam Arthur Schopenhauer ein Heft, auf dem die für jede Sitzung vorgesehenen Vorträge standen. Fiel dem jungen Schopenhauer beim Verfolgen der Vorlesung etwas ein, so merkte er es an den Texträndern des jeweiligen Vorlesungsheftes an. Besonders auffällig sind die turbulenten Hefte aus Fichtes Vorlesungen[58]. Die drei Dokumente zeugen von Schopenhauers ersten verehrenden und respektvollen Anmerkungen zum gefeierten Autor der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre; jedoch aber zeigen sie auch an zahlreichen Stellen, wie, so Hübscher, diese „Verehrung a priori“ sich rasch in „Geringschätzung und Spott verwandelte“[59].

„Fichtes Vortrag ist wohl deutlich und er spricht langsam, doch verweilt er mir zu lange auf leicht zu verstehenden Dingen und wiederholt sie mit anderen Worten, so daß die Aufmerksamkeit ermüdet, das schon Begriffene wieder anzuhören, und man eher dadurch zerstreut wird“,

so heißt es nach dem ersten Vortrag über „das Studium der Philosophie“[60]. Ähnliche, abgemilderte Kritiken zeigen die ersten Protokolle aus den anderen zwei Vorlesungen Fichtes. Nach dem ersten Vortrag über die „Wissenschaftslehre“ zitiert z.B. Schopenhauer die englischen Versen: „Though this be madness/yet there’s method in it“[61]. Dem Titelblatt dieses Heftes fügte er den Verweis auf eine Fußnote neben der Rubrik „Wissenschaftslehre“ hinzu: So befindet sich unten auf dem Blatt ein Sternchen und neben diesem die Anmerkung: „vielleicht ist die richtige Leseart Wissenschaftsleere“[62]. Auf der Rückseite desselben Titelblatts stehen zwei Zitate: ein längerer Absatz von Kant über die Lüge und die Verse Goethes: „Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, /Es müsse sich dabey doch auch was denken lassen— “.

Schopenhauers sorgfältiges Studium der Philosophie und die intensive Auseinandersetzung mit Fichte zeitigten aber nicht lediglich Spott und Sarkasmus. Im Einklang mit Hübscher[63] und Safranski[64] zeigt der japanische Schopenhauer-Forscher Yasuo Kamata[65] anhand der sog. Frühen Manuskripte[66] Schopenhauers sowie seinerVorlesungs- und Studienhefte, dass der Besuch der Fichteschen Vorlesungen (und auch natürlich das Studium von Fichtes Schriften, welches unter dem Titel „Zu Fichte“ in den Studienheften protokolliert ist[67] eine entscheidende Rolle in der Begriffsentwicklung des jungen Philosophen spielte. Ein Dialog sei in den Glossen und Notizen entstanden. Man könne z.B. den Prozess verfolgen, wie Schopenhauer sich vom Begriff des Absoluten zur konkreten Vorstellung, „zu genauer Beobachtung und Begriffsentwicklung“ abwendete. Aus dem Fichteschen und Schellingschen ‚empirisches Bewußtsein’ sei Schopenhauers unabhängiges, ‚besseres Bewusstsein’ entstanden[68]; Modifikationen vom ‚intellektuellen’ bzw. ‚intelektualen’ Anschauungskonzept Fichtes und Schellings seien vollzogen worden[69]. Die für Schopenhauers Weltvorstellung grundlegende Idee einer ‚Duplizität des Bewußtseins’ sei aufgetreten[70]; und der Auftakt des Schopenhauerschen Willensbegriffes und der Schopenhauerschen „Lösung“ vom Problem des Kantischen Dings an sich ebenso geschehen[71]. Diesen letzten Schritt erörtert Hübscher wie folgend:

„Inzwischen ist die Synthese von Platons Idee und Kants Ding an sich erfolgt. (…) Vom Willen wird nichts gesagt. Scheinbar unvermittelt wird kurz darauf die Alleinherrschaft des einen weltschaffenden Willens verkündet: ‚Die Welt als Ding an sich ist ein großer Wille (…)’. Von der Idee wird hier nichts gesagt. Immer mehr führt die Überzeugung dazu (…), den Willen aller verstandesmäßigen Elemente zu entkleiden, ihn als blind und ziellos aufzufassen. Aber sollen Willens- und Ideenlehre nun im unbestimmten Nebeneinander bleiben? Plötzlich kommt, wie ein Blitz der Evidenz, der Zusammenschluß beider Gedankenreihen. ‚Der Wille’, heißt es, ‚ist die Idee’—ein Satz, der in einer späteren Fußnote sogleich widerrufen wird: ‚Das ist unrichtig: die adäquate Objektivität des Willens ist die Idee.“[72]

Indem dieser Prozess während der drei Berliner Semester zustande kommt, wächst die Empörung gegen Fichte in den Randglossen der Vorlesungshefte weiter. In der Vorlesung über die „Wissenschaftslehre“ heißt es: „Das Ich ist, weil es sich setzt, und setzt sich, weil es ist“; dies bereitete Schopenhauer Gelegenheit zur Ironie: Am Rand, neben dem Satz, malte er einen Stuhl.[73] Auf dem Heft der fünften Sitzung von „Über die Tatsachen des Bewußtseins“ scheint Schopenhauer von der Vorlesung ermüdet. Er kritzelt auf dem Rand:

„Ich muß gestehen, daß Alles hier gesagte mir sehr dunkel ist, ich es auch unrecht verstanden haben mag; auch daß F[ichte] in dieser Vorlesung Vieles gesagt hat, was ich durchaus nicht verstanden habe. Ob Fichte Schuld zu geben ist, oder meinen Mangel an Aufmerksamkeit, an gehöriger Stimmung dazu, oder an Verstande, oder endlich meinem Befangen-seyn in der kantischen Elementarlehre, weiß ich nicht.“[74]

Sechs Wochen danach, als „über die Reflektion“ gesprochen wird, schreibt er wütend über Fichtes Vortrag:

„In dieser Stunde hat er außer dem hier Aufgeschriebenem Sachen gesagt die mir den Wunsch auspressten, ihm eine Pistole auf die Brust sezzen zu dürfen und dann zu sagen: sterben muss du jetzt ohne Gnade; aber um deiner armen Seele Willen, sage ob du dir bey dem Gallimathias etwas deutliches gedacht hast oder uns blos zu Narren gehabt hast?“[75]

Und noch in der letzten Sitzung wird der vortragende Professor — diesmal wegen eines aufgedeckten Trugschlusses — bezüglich des Inhalts kritisiert:

„Nach F[ichte] ist die Ersch[einung] (das Ich und die Welt) uns nur faktisch bekannt, d.h. als Tatsache gegeben, und zwar ganz wie sie ist in dem Sicherscheinen d.h. in der Trennung des Ich von seinen Vorstellungen. Dies Getrennt-seyn nun (Subjekt und Objekt) wird erklärt aus dem was er (vel quasi) herleitet aus jenem faktisch gegebenen, also aus sich selbst. Folglich wird nichts erklärt, sondern gesagt: es muß so seyn, weil es ebenso ist. —‚Der Rest ist —Wind.’ Hamlet“[76]

Nicht nur Fichte war Gegenstand heftiger Kritik. Auch der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde von Schopenhauer in den Studien- und Vorlesungsheften in einem, so Hübscher[77], „kühnen, selbstbewussten Ton“ angegriffen[78]. „Keiner der religiös ist“, steht es in einer Glosse im Heft zur Vorlesung „Über die Geschichte der Philosophie zur Zeit des Christentums“, „gelangt zur Philosophie; er braucht sie nicht. Keiner der wirklich philosophirt ist religiös: er geht ohne Gängelband, gefährlich aber frey“. Schopenhauer antwortete somit auf eine genau gegensätzliche Behauptung Schleiermachers. Aber die Beziehung Schopenhauers zum Philosophen und Theologen Schleiermachen war verschieden von der Verehrung, die Schopenhauer für diesen als Philologe und Übersetzer Platos fühlte[79]. Gwinner berichtet, dass Schopenhauer von Schleiermacher „köstliche Anekdoten“ zu erzählen gewusst habe, dass er seinen Witz gelobt und vor allem den Satz: „[A]uf Universitäten lerne man nur, was man nachher zu lernen habe“ sehr gemocht habe[80].

Der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling wurde, wie Schleiermacher, von Schopenhauer mit größerem Respekt als Fichte behandelt. „Schelling (…), entschieden der Begabteste unter den Dreien [den drei Hauptgestalten des deutschen Idealismus’, Fichte, Schelling und Hegel]“ schrieb Schopenhauer Jahre später in Parerga und Paralipomena[81]. Schopenhauers Studium von Schellings Schriften entwickelt sich in drei Studienheften, „Schelling I“, „II“ und „III“[82], und ist genauso reich an Randglossen und Kommentaren wie die übrigen Studienbücher Schopenhauers. Wie schon erwähnt bildet die Bearbeitung des Schellingschen Willensbegriffes wahrscheinlich die wichtigste Stelle der Auseinandersetzung Schopenhauers mit Schelling[83].

Aber wichtiger als Schelling, Schleiermacher oder Fichte war Schopenhauers Beschäftigung mit Kant während der drei Berliner Semester. Die Notizen im Heft „Zu Kant“, welche zwischen 1812 und 1813 entstanden, enthalten die Ergebnisse einer kritischen Studie der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der Urteilskraft und der Prolegomena. Arthur Hübscher meint, dass die dort formuluierte Kant-Kritik noch von der Kritik in Die Welt als Wille und Vorstellung stark abweiche. „Neben dem ‚Phänomenalismus’“, schreibt Hübscher, „(…) und neben den Hauptsätzen der transzendentalen Ästhetik und der Lehre vom intelligiblen Charakter übernimmt Schopenhauer damals noch, mit Einschränkungen, die Lehre von den Kategorien. Sonst aber lehnt er Kants Philosophie noch immer und manchmal mit großer Schroffheit ab.“[84] Andere Forscher denken jedenfalls, dass vor allem Schopenhauers Auseinandersetzung mit Kants „problematischem“ Ding an sich in diesen Semestern besonders zu berücksichtigen sei[85]. Es ließe sich sogar behaupten, dass Fichte — zumindest mit seinem anti-empirischen Ansatz und als Partizipant der früh nachkantischen Polemik um Kants Ding an sich —auf Schopenhauers Idee von zwei von einander abgetrennten Bewusstseinswelten gewirkt und zusammen mit Plato einen besonderen Einfluss auf die einige Jahre später von Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung völlig entfaltete Lösung zu diesem kantischen Dualismus gehabt habe.

Die drei Semester zwischen Herbst 1811 und Frühling 1813 sind geprägt von der Anpassung des jungen Schopenhauers auf die akademische Umgebung und die Erfordernisse der akademischen Beschäftigung mit der Philosophie. Man kann aber den Wert nicht gering achten, den die anderen Fächer und die sie lehrenden Dozenten für die geistige Entwicklung des Philosophen hatten. In dem 1820 an die Berliner Universität ausgehändigten lateinischen Lebenslauf erinnert sich Schopenhauer: „Dem großen Verdienst dieser ausgezeichneten Männer um mich werde ich stets dankbaren Sinnes eingedenk bleiben.“ Und dann fügte er über Fichte, den bisher unerwähnt geblieben war, hinzu: „Auch Fichten, der seine Philosophie vortrug, folgte ich, um sie nachher um so gerechter beurteilen zu können, aufmerksam“[86].

Nicht nur im einsamen Studium oder im stillen Sitzen im Hörsaal focht Schopenhauer während dieser anderthalb Jahre einen inneren Kampf um seine Philosophie aus. Bekannt ist, dass er einmal während der Sprechstunde Fichtes eine heftige Diskussion mit dem Professor auslöste, „deren sich die dabei zugegen Gewesenen vielleicht erinnern werden“[87]. 42 Jahre später erzählte Schopenhauer seinem Freund Carl Heber folgendes über das Geschehen: „In dem philosophischen Conservatorium, das Fichte hielt, habe er (Schopenhauer), vierundzwanzig Jahre alt, ihn auf den Hund gesetzt, worauf Jener (wenn ich richtig verstanden habe) sich durch Verlegung der Stunde zu helfen gesucht, dann aber Schopenhauer wieder eingeladen habe, was aber abgelehnt worden sei“[88].

Der Berliner Freundeskreis

Von den freundschaftlichen Beziehungen Schopenhauers während der ersten Berliner Zeit weiß man wenig. Es lässt sich vermuten, dass Schopenhauers ehrgeizige Attitüde als Student dafür sorgte, dass sein Freundeskreis in Berlin sehr klein blieb und dass seine Beziehungen, gute und schlechte, sich im engen Rahmen seines akademischen Umfelds beschränkte. Der Streit mit Fichte war lediglich eine von mehreren Gelegenheiten, in denen Schopenhauer sich öffentlich zu erkennen gab. Gute Beziehungen unterhielt der eifrige Student, soweit man dies von den Quellenzeugnissen ableiten kann, mit den Dozenten Wolf, Lichtenstein und Blumenbach[89].

Schopenhauers Kommilitone in Göttingen, das „Wunderkind“ Karl Witte, den der Philosoph im Winter 1818/19 traf, schrieb in einem Brief an Wilhelm von Gwinner, dass „[u]ngünstige Urtheile“ über Schopenhauer aus Weimar und Berlin, wo Wittes Eltern gewohnt hätten, verbreitet worden seien[90]. Derselbe Witte berichtet aber, dass er in seinen vielen Treffen mit dem Philosophen „nichts Schlechtes an ihm“ bemerkt habe[91].

Schopenhauers Umgang mit seinen Freunden unterschied sich grundsätzlich von seinem sonstigen sozialen Verhalten. Mit Carl Iken, den Schopenhauer im ersten Berliner Semester im zoologischen Kollegium bei Lichtenstein kennen lernte und mit dem er im Herbst zusammen nach Dresden fuhr, behielt der Philosoph eine ausgezeichnete Beziehung bis ins hohe Greisenalter[92]. Seinem Freund Julius Frauenstädt erzählte Schopenhauer Jahre später, dass er Iken immer für das, „was Jean-Paul ein passives Genie nennt“, gehalten habe. Iken habe große Empfänglichkeit für alles Ästhetische gehabt, selbst aber nichts hervorbringen können[93]. Iken schrieb, wie bereits oben angeführt, für Schopenhauer während des zweiten Semesters in Boeckhs Vorlesung „Über das Leben und die Schriften Platons“ mit. Die beiden Freunde hätten gemeinsame Interessen gehabt: Einmal — berichtet Frauenstädt — habe Iken Schopenhauer Christian Reuters Satire Schelmuffsky’s Abenteuer zu Wasser und Land geliehen und der junge Philosoph sei „ganz vernarrt in dieses Buch gewesen“[94].

Zu solchen literarischen „Intimitäten“ gelang Schopenhauer mit keinem anderen seiner Berliner Kommilitonen. Aber in sehr guten Verhältnissen stand der junge Philosoph noch mit zwei Mitstudierenden, Josef Gans und einem gewissen Helmholtz, dieser letzte vermutlich der Vater des prominenten Physikers. Außer diesen drei Beziehungen und der oben erwähnten Beziehung zu den zwei Geisteskranken in der Charité weiß man nichts weiteres über Schopenhauers Freundeskreis — sofern man von einem solchen überhaupt sprechen kann — während der Studienzeit in Berlin.

Ob Frauen unter Schopenhauer Bekanntschaften in Berlin waren, ist von keiner Quelle herzuleiten. Man weiß, dass Schopenhauer fast zehn Jahre später eine Geliebte (Caroline Medon) in Berlin hatte und, wie er Julius Frauenstädt einmal erzählt habe, er sei im Punkte der Geschlechtsliebe kein Heiliger und „arg nach Weibern gewesen“; er habe „in Italien nicht blos das Schöne, sonder auch die Schönen genossen“[95].

Schopenhauers Frauenfeindlichkeit ist allgemein bekannt. Von Beziehungen zu Frauen während dieser Berliner Semester berichten weder die vorliegenden Dokumente noch Schopenhauers Biographen – sogar Safranski, der neueste unter den Biographen, wagt die Vermutung, dass Schopenhauers sexuelle Abstinenz bzw. dass seine „sehr späte Pubertät“ Effekte auf die eigene Begriffsentwicklung gehabt habe, besonders auf das Erscheinen eines „besseren Bewusstseins“, welches unabhängig von den Sinnen und vom Verstand immer noch in uns lagere, unsere Welt aber beherrsche[96]. Safranski schreibt:

„Schopenhauer hat Pech gehabt. Ihm widerfuhr bis zu dem Zeitpunkt, als er seine Blitze gegen die Sexualität schleuderte, kein Liebeserlebnis, bei dem er die Sexualität als etwas hätte erleben können, das in die ganze Person integriert ist, das die ganze Person schwungvoll mit auf Reisen nimmt. Dort, wo er Sexualität fand, liebte er nicht, und wo er liebte, blieb die Sexualität ausgegrenzt.

(…) Wir haben in der Regel gegen unsere Sexualität keine Chance, lehrt er. Als die grellste Manifestation des ‚Willens’ ist sie das ‚Ding an sich’ in Aktion, blamiert das arme Ich und treibt es vor sich her. Die Sexualität als Blamage der Selbstherrlichkeit hat Arthur Schopenhauer sehr konkret erlebt in seinen unbefriedigenden Verhältnissen zu Frauen.
Er hat Pech gehabt.“[97]

Unmittelbar betroffen von Schopenhauers Misogynie — zumindest teilweise — waren seine Mutter Johanna und besonders seine Schwester Adele gewesen. Der Briefwechsel mit Adele, im Unterschied von der seit frühester Jugend untergekühlten und distanzierten Korrespondenz mit der Mutter, bezeugt eine lebenslang emotional wechselhafte Beziehung zwischen den Geschwistern. Die drei bekannten Brüche in der Familie Schopenhauer geschahen erst nach Arthurs Studienzeit in Berlin: zum ersten Mal im Jahr 1814, dann 1819 und schließlich 1832. Trotzdem hat man herausfinden können, dass die anderthalb Jahre, die Schopenhauer ausschließlich dem Studium in Berlin widmete, sich verschlechternd auf die familiären Beziehungen auswirkten[98]. Nach der Abreise von Berlin traf Schopenhauer in Weimar ein, kam aber nicht zum Familienhaus sondern wohnte in einem Gasthof[99]. Ein Brief von der ersten Hälfte des Jahres 1814 liegt vor, den Johanna Schopenhauer ihrem Sohn schrieb, in dem ihm mitgeteilt wurde: „Seit unserer letzten Unterredung habe ich mir fest vorgenommen lieber Arthur, nie wieder von Geschäften mündlich mit Dir zu sprechen, weder von angenehmen noch unangenehmen, weil meine Gesundheit dabei leidet“[100]. Im selben Jahr brach die familiäre Beziehung zusammen.

Die Abreise

Ab Neujahr 1813 ist Berlin von der wachsenden Erregung über die sich nähernde militärische Auseinandersetzung mit Napoleon erfasst[101]. Russische Kosakentruppen kommen zwischen dem 16. und dem 17. Februar, „mit Jubelgeschrei vom Pöbel empfangen und an einigen Stellen auch kräftig unterstützt“[102], in der Stadt an. Tausende Berliner begeben sich auf die Flucht und emigrieren aus der militarisierten Stadt, hauptsächlich nach Frankfurt an der Oder und Breslau. „Die Stadt glich einem Hexenkessel“, wird berichtet[103]: Kosaken und Patrioten befinden sich in einem tödlichen Kampf gegen die in Berlin eindringenden Franzosen. Was zuerst in Straßenkämpfen die Angst der Berliner Einwohnern erweckt, wird am 20. Februar, als die Stadt nach einer Explosion verbarrikadiert und die Sicherheitsmaßnahmen an fast jeder Ecke verschärft werden, zum „erregendste[n] Tag, den Berlin seit Beginn des Krieges erlebt“ habe[104]. Über die „fieberhafte Unruhe“, die die Stadt seit diesem Tag erfasst, wird in einem zeitgenössischen Bericht erzählt[105]. Der König von Preußen entschließt sich am 23. Februar zum Bruch des Bündnisses mit Napoleon. Am 26. März wird die Landwehr in Berlin einberufen: Alle männlichen Einwohner vom 17. bis zum 40. Lebensjahr müssen sich kampfbereit vor den Zelten des Militärs in der Stadt melden (was übrigens großes Echo findet). Über die Lage in der Stadt zitiert Rüdiger Safranski den Bericht Bettina von Armins:

„Während Landsturm und Landwehr in Berlin errichtet wurden, war ein seltsames Leben da. Da waren alle Tage auf offener Straße Männer und Kinder (von 15 Jahren) von allen Ständen versammelt, die dem König und Vaterland schwuren, in den Tod zu gehen (…). Auch war es seltsam anzusehen, wie bekannte Leute und Freunde mit allen Arten von Waffen zu jeder Stunde über die Straßen liefen, so manche, von denen man vorher sich’s kaum denken konnte, dass sie Soldaten wären. Stelle Dir zum Beispiel in Gedanken Savigny vor, der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt (…), der Philosoph Fichte mit einem eisernen Schild und langen Dolch, der Philologe Wolf mit seiner langen Nase hatte einen Tiroler Gürtel mit Pistolen, Messern aller Art und Streitäxten an gefüllt (…).“[106]

Der Krieg gegen Napoleon beginnt am 28. März. Schlacht um Schlacht nähert sich Napoleon Berlin. Bei Lützen wird am 2. Mai die Lage am kritischsten. Schopenhauer ist von den Unruhen auch betroffen. Er beschließt, Berlin zu verlassen. 1820 erinnert er sich an die Tage:

In Berlin wäre ich zwei Jahre lang geblieben, wenn mich
nicht während des letzten Halbjahres, 1813, die Kriegsunruhen
vertrieben hätten (…). Da jedoch infolge des ungewissen
Ausgangs des Treffens bei Lützen die Stadt Berlin bedroht
schien (…) [und] ich (…) es für das beste hielt, dem Feind
entgegenzugehen, so richtete ich meinen Weg nach Dresden,
wo ich nach mancherlei Zwischenfällen und Gefährden
endlich am zwölften Tage ankam.[107]

In einem Brief an Professor Eichstädt, den Dekan der philosophischen Fakultät Jena, erzählt Schopenhauer über seine Entscheidung:

„Als zu Anfangs dieses Sommers der Kriegslärm von Berlin (…) die Musen verscheuchte (…) zog ich auch, da ich einzig zu ihren Fahnen geschworen hatte, in ihrem Gefolge von dannen (nicht sowohl deshalb), weil ich, durch besondere Verkettung der Umstände überall fremd, nirgends Bürgerpflichten zu erfüllen hatte, als vielmehr, weil ich aufs tiefste von der Überzeugung durchdrungen war, daß ich nicht dazu geboren sei, der Menschheit mit der Faust zu dienen, sondern mit dem Kopfe, und daß mein Vaterland größer als Deutschland sei.“[108].

Das Projekt, den Doktorgrad an der Berliner Universität zu erlangen, war gescheitert[109], und Schopenhauer, der sich einige Monate zuvor in dieser Sache an den Rektor der Universität Jena gewandt hatte, reiste im Sommer 1813 nach Dresden und von dort nach Weimar. Während fünf Jahre gibt sich dann der Philosoph — nach seiner Flucht aus Berlin — „der Arbeit seines Lebens“ hin[110]. „Die Stunde des Schauens und Schaffens“, wie Hübscher diese Zeit nach 1813 bezeichnet,[111] hinterlässt Schopenhauers Dissertationsschrift und sein Werk, Die Welt als Wille und Vorstellung. Dafür hat sich Schopenhauer in Rudolstadt niedergelassen, nicht weit entfernt von Weimar, aber weit genug, um die „häuslichen Missverständnisse“, die ihm missfielen, zu vermeiden und „sich zu den unauspresslichen Reizen der dortigen Gegend“ begeben zu können.[112] Im Gasthaus „Zum Ritter“ bleibt Schopenhauer bis zum 5. November. Dann, die Dissertation schon abgegeben, zieht er nach Weimar. Am Fenster der Herberge lässt er die folgende Inschrift zurück:

„Arth. Schopenhauer majorem anni 1813 partem in hoc conclave degit.
Laudaturque domus, longos quae prospicit agros.“[113]

Quellen

Von Arthur Schopenhauer:

Sekundär-Literatur

Abkürzungsverzeichnis

  • B =Gesammelte Briefe (1978)
  • G = Gespräche (1971)
  • HN = Der handschriftliche Nachlass, 1. Bd. (1966) & 2. Bd. (1967)
  • WWV = Die Welt als Wille und Vorstellung (1938)
  • P = Parerga und Paralipomena (1938)
Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Safranski (2004), S. 183-227 und 372-432.
  2. Gerhardt/Reinhard/Rindert (1999): Teil II, Kap. 8, a („Der Randgänger als Querulant: Arthur Schopenhauer“) S. 112-114.
  3. „Nachdem ich aber mich selbst und zugleich die Philosophie, wenn auch nur oberflächlich, so doch einigermaßen kennen gelernt hatte, änderte ich meinen Vorsatz, gab die Medizin auf und widmete mich ausschließlich der Philosophie.“, aus: B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 110).
  4. Grisebach (1897), S. 55.
  5. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 111).
  6. Hübscher (1952), S. 37 ff.
  7. HN 2. Bd., S. 13.
  8. Hübscher (1952), 37 ff.
  9. G, Nr. 231: Julius Frauenstädt.
  10. Den Physiologen Johann Friedrich Blumenbach wusste Schopenhauer in einem späteren Gespräch mit Julius Frauenstädt zu loben, in dem er jenen zusammen mit Schulze, als er sich an die Studien Jahre erinnerte, wie folgend beurteilte: „Wenn da ein Docent lebhaft ist, so kann er mächtig wirken“ (G, Nr. 231: Julius Frauenstädt); auch seinem Freund Carl Georg Bähr fiel besonders auf, dass Schopenhauer, als er über die an der Universität erworbenen Kenntnisse sprach, immer sagte: „(…) was sagt hier Blumenbach (…)“ oder „ah, das steht bei Blumenbach da und da (…)“ (G, Nr. 357: Carl Georg Bähr).
  11. „…ich hätte oft weit mehr zu Hause aus guten Büchern, als in den Hörsälen aus den Vorlesungen gelernt…“: G, Nr. 231: Julius Frauenstädt.
  12. Hübscher (1952), 39 f.
  13. Hübscher (1973), S. 170.
  14. Hübscher (1973), S. 112.
  15. Hübscher (1973), S. 129-30.
  16. Die ersten Randglossen Schopenhauers zu Kants Kritik der reinen Vernunft stammen aus dieser Zeit (siehe: Ibid).
  17. G, Nr. 231: Julius Frauenstädt
  18. Ossan war bereits ein Kamerad Schopenhauers aus der Jugendzeiten in Weimar und blieb lebenslang sein Freund, dessen Sohn mit der Zustimmung Schopenhauers den Namen Arthur erhielt.
  19. Sowohl Julius Frauenstädt (G, Nr. 231) als auch Wilhelm Gwinner (G, Nr. 441) bestätigen, dass in späteren Gesprächen mit Schopenhauer dieser immer sich an die Freunde Astor und Bunsen erinnerte, als es selten über die Göttinger Jahre gesprochen wurde.
  20. G, Nr. 409: Christian Carl Josias von Bunsen; auch in einem Gespräch mit Johann August Becker erinnert sich Schopenhauer an die Freunde: „(…) aus den drei befreundeten Studenten, die damals (1809) die Collegia von Heeren besuchten, sind doch drei Capitalkerle geworden: Astor (der Amerikaner) mit seinem Krösus Reichtum; Bunsen mit seiner Vornehmigkeit; ich mit meiner Sapientia“, aus: G, Nr. 115: Becker. Siehe auch G, Nr. 231: Julius Frauenstädt: „Der Eine, fügte er hinzu, ist nun Diplomat, der Andere ein Millionär und der Dritte ein Philosoph; so verschieden sind die Lebenswege.“
  21. Grisebach (1897), S. 55 f.
  22. G, Nr. 377a: Carl Georg Bähr.
  23. Ibid.
  24. G, Nr. 21: Christoph Martin Wieland.
  25. G, Nr. 22: Wilhelmine Schorcht (aus einem Brief vom 10. Mai 1811 an Karl Reinhold).
  26. G, Nr. 21: Christoph Martin Wieland.
  27. G, Nr. 377b: Carl Georg Bähr.
  28. G, Nr. 22: Wilhelmine Schorcht (aus einem Brief vom 10. Mai 1811 an Karl Reinhold).
  29. Hübscher (1952), S. 44; Grisebach (1897) 40-55.
  30. G, Nr. 357: Carl Georg Bähr.
  31. Schneider (1985), S. 120-130.
  32. Safranski (2004), S. 155-183.
  33. Kamata (1988), S. 119-128.
  34. B Nr. 256.
  35. „Im Herbst des Jahres 1811 zog ich nach Berlin …, war nach Kräften bemüht, in der Schule der berühmten Lehrer, an welchen diese Universität so reich ist, Geist und Gemüt höher auszubilden“, aus: Briefe, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 111).
  36. Grisebach (1897), S. 57; siehe auch Safranski (2004), S. 183 f.
  37. Lüdtkehaus (1991), S. 210.
  38. Lüdtkehaus (1991), S. 209-210.
  39. B, Nr. 279.
  40. Safranski (2004), S. 184 f.
  41. Ibid.
  42. B, Nr. 325: 09.04.1854, Schopenhauer an Julius Frauenstädt
  43. Schopenhauers Schwester, Adele, hat den größten Teil der an sie und die Mutter gerichteten Briefe vernichtet. Es ist (nur) wahrscheinlich, dass Briefe aus Berlin während dieser Zeit an die Familie gerichtet wurden (siehe: Lütkehaus [1998], S. 10).
  44. Es liegt ein Gespräch, aus Schopenhauers Aufenthalt während dieser Herbstferien in Dresden stammend: In einem Brief an Friederike und Wilhelm von Volkmann schrieb die Adeldame Helene von Kügelen Anfang Oktober 1812, sie habe sich mit einem Braunschweiger unterhalten, der anwesend gewesen sei, als der junge Arthur Schopenhauer „tags zuvor gelehrt beweisen wollte, es gäbe keinen Gott.“ (G, Nr. 24: Ein Braunschweiger).
  45. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  46. Ibid.
  47. Grisebach (1897), S. 59.
  48. HN, 2. Bd., S. 251-301.
  49. HN, 2. Bd.
  50. In einem Brief an Schopenhauer von 1816 erinnert sich sein Freund Carl Iken an die einmal im Gespräch vom Philosophen selbst mitgeteilte Begeisterung für Lichtensteins zoologisches Seminar (G, Nr. 23: Winter 1811/1812, Carl Inken).
  51. Hübscher (1952), S. 43 f.
  52. Ab dann habe Schopenhauer Fichte immer für einen „Charlatan“ gehalten (G, Nr. 347: Carl Hebler); in der Vorrede zur zweiten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung unterschrieb er ihn und Schelling offenkundig zu den Philosophen der „Windbeutelei“ (WWV, S. 18).
  53. G, Nr. 123: Julius Frauenstädt. 1816 saßen Wolf und Schopenhauer drei Abende zu Tisch mit Goethe in Weimar (G, Nr. 27: Goethe). Auch an Wolf war der Empfelungsbrief adressiert, den Goethe 1811 für Schopenhauer schrieb (siehe oben Seite 7).
  54. Schneider (1985), S. 136.
  55. HN, 2. Bd., S. 224.
  56. Gwinner (1910), S. 79, auch: G, Nr. 25: Zwei Kranke der Berliner Charité.
  57. Ibid.
  58. HN, 2. Bd., S. 29-216.
  59. Hübscher (1973), S. 128.
  60. HN, 2. Bd., S. 45.
  61. HN, 2. Bd., S. 46.
  62. Ibid.
  63. Hübscher (1973), S. 127-154.
  64. Safranski (2004), S. 201-212.
  65. Kamata (1988), S. 119-128.
  66. HN, 1. Bd.
  67. HN, 2. Bd., S. 340-361.
  68. HN, 2. Bd., S. 30 f.
  69. HN , 1. Bd., S. 26, (Berlin, 1812 B).
  70. HN, 1. Bd., S. 23 (Berlin, 1812 A).
  71. HN, 1. Bd., S. 188.
  72. Hübscher (1973), S. 137 f.
  73. Hübscher (1952), S. 46. Im HN wird die Zeichnung nicht aufgenommen; von ihr wird aber bei Gwinner (1910) als einen späteren Einfall Schopenhauers gesprochen (S. 69).
  74. HN, 2. Bd., S. 38.
  75. HN, 2. Bd., S. 41.
  76. HN, 2. Bd., S. 120.
  77. Hübscher (1952), S. 48 f.
  78. HN, 2. Bd., S. 224-229.
  79. Safranski (2004), S. 183.
  80. Gwinner (1910), aus: G, Nr. 443: Wilhelm Gwinner.
  81. P, 1. Bd., S. 26. Auch Carl Hebler äußerte Schopenhauer Jahre später über Schelling: „Der Gescheidenste von den dreien sei immer noch Schelling gewesen“ (G, Nr. 347: Carl Hebler).
  82. HN, 2. Bd., S. 304-338.
  83. HN, 2.Bd., S. 309; siehe oben auch S. 12.
  84. Hübscher (1973), S. 130 f.
  85. Grisebach (1897), 68 f.; Safranski (2004), 196 ff.
  86. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  87. Ibid.
  88. G, Nr. 347: Carl Heber.
  89. Lichtenstein, wie oben angeführt, kannte Schopenhauer bereits aus dem Kreis seiner Mutter Johanna in Weimar. Diesem und Blumenbach schrieb Schopenhauer im Jahr 1819 respektvolle Briefe, in denen er sie über sein Habilitationsvorhaben informierte und sie, besonders Lichtenstein, um Rat und Hilfe bat (B, Nr. 53, 54 und 55).
  90. Gwinner (1910), S. 134 f.
  91. Ibid.
  92. G, Nr. 23: Carl Iken.
  93. G, Nr. 184: Julius Frauenstädt.
  94. Ibid.
  95. G, Nr. 238: Julius Frauenstädt.
  96. Safranski (2004), S. 207 ff.
  97. Ibid.
  98. Lütkehaus (1998), S. 22 ff.
  99. Lütkehaus (1998), 213.
  100. Lütkehaus (1998), Brief Nr. 64: Nach Gwinner ist der Brief vom April 1814.
  101. Mieck (1987), S. 462.
  102. Zitiert nach Mieck (1987), S. 464 (Quelle: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1, Leipzig 1907-1912. S. 428).
  103. Zitiert nach Mieck (1987), S. 463 (Quelle: Stulz, Percy: Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 bis 1813, Berlin [Ost] 1960. S. 241).
  104. Mieck (1987), S. 464.
  105. Zitiert nach Mieck (1987), S. 464 (Quelle: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen [neu hrsg. v. Ernst Friedel], Berlin 1907. S. 339).
  106. Zitiert nach Safranski (2004), S. 223 (Quelle: Armin, Bettina von: Werke und Briefe. Deutscher Klassiker Verlag: Frankfurt am Main, 1986-95).
  107. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  108. B, Nr. 43.
  109. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 112).
  110. HN, 2. Bd., S. 345.
  111. Hübscher (1952), S. 50 f.
  112. B, Nr. 56: Dezember 1819, Vitae-Curriculum Arthurii Schopenhaueri, Phil: Doct:, an die philosophische Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin (Orig. auf Latein; dt. Übers. aus Brahn [1911], S. 113).
  113. Grisebach (1897), S. 74 (das Zitat ist von Horaz) ; Safranski (2004) bietet die deutsche Übersetzung: „Man lobt ein Haus, das auf weite Felder schaut“ (S. 248).

Israelischer Diplomat Avi Primor: „Kein Land im Nahen Osten wünscht sich einen Krieg.“ Avi Primor im Gespräch mit Camilo Jiménez, 03.08.06

Interview mit dem ehemaligen israelischen Botschafter in Berlin und Top-Diplomaten Avi Primor über den Nahost-Konflikt, das Recht Israels zur Selbstverteidigung und den verhüllten Größenwahn des Iran.

Am 12. Juli wurden zwei israelische Soldaten von der Hisbollah im nördlichen Israel entführt. Vier Tage später überfiel eine Miliz dieser Extremistenorganisation eine israelische Armee-Patrouille. Folge: Israel bombardiert den Libanon und den Gaza-Streifen, sein Recht zur Selbstverteidigung ausdrückend. Ist die Auseinandersetzung mit der Hisbollah einen Krieg wert?

Das hängt davon ab, was Sie unter Krieg verstehen. Ich weiß nicht, ob das ein Krieg ist. Ich glaube, ein Krieg bedeutet eigentlich eine Konfrontation zwischen zwei oder mehr Armeen bzw. Ländern, und das ist heute nicht der Fall. Wir verteidigen uns gegen eine Miliz, eine Terrororganisation, die uns aus dem Territorium des souveränen Libanon bombardiert, ohne dass der Libanon interveniert oder intervenieren kann, oder dass wir überhaupt eine Konfrontation mit einem arabischen Land haben. Wir haben überhaupt keine Ansprüche auf libanesisches Territorium, wir wollen gar nichts; die einzige Sache, die wir verlangen ist, dass man uns in Ruhe lässt. Und wenn wir aus dem Südlibanon, einem Territorium, das wir freiwillig und einseitig vor sechs Jahren geräumt haben, bombardiert werden, da bleibt doch nichts anderes übrig, als dass wir uns dadurch verteidigen, dass wir versuchen, die Miliz zu entwaffnen. Auf jeden Fall: keine Raketen mehr über unsere Grenze.

Wie rechtfertigen Sie dann die Konsequenzen, die solche Aktionen gerade in der libanesischen Bevölkerung hinterlassen?

Das Problem ist natürlich, dass diese Miliz, die Hisbollah, die von Iran bewaffnet wird und ihre Anweisungen aus Teheran bekommt, ein Bannerträger des iranischen Islamismus ist. Sie verschanzt sich innerhalb der Zivilbevölkerung der Schiiten im Libanon. Wenn wir uns dann verteidigen wollen, also wenn wir die Raketen der Hisbollah treffen wollen, so haben wir keine andere Alternative, als dass wir dort angreifen, wo sie sich tatsächlich befinden. Und wenn sie sich innerhalb der Zivilbevölkerung befinden, dann haben wir ein Dilemma. Manchmal fordern wir die Bevölkerung auf, ihr Dorf oder ihre Stadt zu verlassen, weil wir dorthin zurückschießen müssen. Schön oder angenehm ist das nicht. Wir haben aber keine Wahl: Wir müssen uns dort verteidigen, wo der Feind sich befindet; wir können nicht anderswohin schießen.

Berichten zufolge stieg die Anzahl an libanesischen Zivilopfern auf fast eintausend Menschen. Eine der gefürchteten Folgen der Bombardements im Libanon und im Gazastreifen ist das Risiko, dass die schnell steigende Zahl an Opfern so groß wird, dass eine neue Generation von Arabern entsteht, die Israel leidenschaftlich hasst. Machen Sie sich keine Sorgen darüber?

Ich glaube, dass die schiitische Bevölkerung im Südlibanon Israel ohnehin schon hasst, weil sie unter einer fundamentalistischen schiitischen islamistischen Gehirnwäsche lebt und dies mindestens seit sechs Jahren, d.h. seit dem wir das Territorium geräumt haben – aber bestimmt auch schon vorher. Also, in diesem Sinne wird sich nichts verändern. Es geht darum, dass diese Zivilbevölkerung die terroristische Miliz beherbergt; sie unterstützt sie, liebt sie, jubelt ihr zu – also ganz neutral sind diese Leute nicht. Und ich möchte noch hinzufügen: Sie sprechen von 600 Zivilopfern. Woher wissen Sie eigentlich, dass es dabei um Zivilisten geht? Das weiß ja kein Mensch. Diese Miliz, die Hisbollahmiliz, die trägt keine Uniform, es sind oft dieselben Leute, die in diesen Dörfern leben: Nachts tragen sie die Raketen, mit denen sie uns beschießen, und tagsüber arbeiten sie als Bauern, sodass man sie gar nicht erkennen kann. Natürlich, wenn ein Milizkämpfer der Hisbollah umkommt, dann sagt die Hisbollah sofort: Guck mal, da ist ein Zivilist umgekommen; aber das kann kein Mensch beweisen. Jeder Libanese, der bis heute gefallen ist, wird als Zivilist beschrieben. Sollte das bedeuten, dass wir heute in unserem Kampf noch keinen einzigen Hisbollahkämpfer getroffen hätten?

Der Chef der IAEA Mohamed El-Baradei hat gesagt, er könne sich nicht erinnern, die Situation in der Region schon einmal so bedrohlich empfunden zu haben. Betrachten Sie auch die Lage im Nahost als eine so alarmierend verschärfte?

Nein. Ich verneine die Frage, denn es gibt kein Land im Nahen Osten, das sich heute einen Krieg wünscht. Israel will keinen Krieg und die Nachbarn des Staates Israel auch nicht: Ägypten nicht, Jordanien nicht, auch nicht der Libanon und selbst Syrien wünscht sich keinen Krieg; und solange die Länder in Nahost keinen Krieg wollen, wird es keinen Krieg geben. Deshalb ist die Lage heute noch nicht so extrem gefährlich. Aber es gibt ein Land, das von uns weit entfernt ist und sich den Krieg wünscht: Das ist der Iran. Der Iran ist ein Brandstifter, der seine eigene Ambitionen im Nahost hat und auch die Hisbollahmiliz aufgefordert hat, den Krieg zu entfesseln. Aber der Iran liegt weit von uns entfernt, und wenn unsere Nachbarn keinen Krieg haben wollen, dann wird es keinen Krieg geben. Der Iran kann allein in unserer Region keinen Krieg führen, zumindest nicht, solange er über keine Atomwaffen verfügt. Trotzdem meine ich, dass die jetzige Situation gefährlich ist, weil man nie weiß, wie eine Krise eskalieren kann; man kann es sich ‚logisch’ vorstellen, wie ich es eben getan habe, aber nicht immer ist alles so logisch. Ich glaube, dass wir auf jeden Fall nicht nur eine Beruhigung des Südlibanon anstreben sollen und dies anhand von internationalen Truppen, sondern wir müssten auch mit Syrien verhandeln, obwohl unsere Regierung heute nicht dazu bereit ist, unter anderem, weil die Amerikaner es verhindern.

Es gibt auch eine weit verbreitete Vorstellung davon, wie nach einem Ende des Konflikts ein Friedensprozess durchgeführt werden konnte. Einige Leute behaupten aber, dass die immer wiederkehrenden Schwierigkeiten des Friedensprozesses nicht in der Theorie liegen, sondern in der praktischen Umsetzung in der Realität. Haben Sie unter den zahlreichen Vorschlägen zur Stabilisierung im Nahost einen gefunden, den Sie für realisierbar halten?

Ich sage Ihnen klipp und klar meine Meinung in dieser Sache: Das erste Problem des Nahen Ostens heute ist das palästinensische Problem. Mit den Palästinensern müssen wir verhandeln, wir müssen die palästinensischen Gebiete und die jüdischen Siedlungen auf diesem Boden räumen. Im Gaza-Streifen haben wir das einseitig gemacht. Die damalige Regierung Sharons behauptete, es gebe keinen Gesprächspartner. Ich stimme und stimmte dem damals nicht zu; aber ich war schon ziemlich zufrieden damit, dass sie zumindest als ‚Schlussfolgerung’ den Gaza-Streifen und vor allem die Siedlungen geräumt haben. Nun haben wir heute eine eher realistische und pragmatische Regierung, die von der rechten, nationalistischen Ideologie nicht geprägt ist. Aber diese Regierung steht heute vor einer neuen Situation im palästinensischen Lager. Da findet nämlich ein Machtkampf statt. Es gibt heute keine echte Regierung der Palästinenser. Die Hamas hat die Wahlen gewonnen, konnte aber nicht richtig die Macht ergreifen: Erstens, weil sie zersplittert ist zwischen der Führung vor Ort und der, die sich in Damaskus befindet. Zweitens reiben sie sich an der Macht des Staatspräsidenten Abu Mazen (Mahmoud Abbas), der verfassungsgemäß nicht nur viele Befugnisse besitzt, sondern dem auch Streitkräfte zur Verfügung stehen. Und solange dieser Machtkampf nicht zu Ende kommt, sei es, dass einer die Oberhand erzielt, oder dadurch, dass man einen Kompromiss schließt und eine Koalition bildet, haben wir Schwierigkeiten mit den Palästinensern zu verhandeln. Meine Meinung ist dennoch, dass wir mit jedem Palästinenser verhandeln müssen, sowohl mit Abu Mazenals auch mit der Hamas. Solange diese Verhandlungen nicht fruchtbar sein können, müssen wir auf jeden Fall die besetzten Gebieten und die Siedlungen räumen. Das ist auch die Meinung des neuen Ministerpräsidenten Olmert, wie auch die des Hauptpartners des Ministerpräsidenten, des Koalitionspartners Amir Peretz, der Chef der Arbeiterpartei und heute unser Verteidigungsminister ist. Aber gleichzeitig müssen wir mit den Syrern verhandeln. Mit denen kann man verhandeln, sie sind dazu bereit und wir kennen den Preis: Das ist ein Preis, den frühere Ministerpräsidenten wie Ehud Barakoder Benjamin Netanjahu zu zahlen bereit waren. Es besteht nur die Schwierigkeit, dass die Amerikaner es nicht zulassen wollen – es gibt sogar viele Amerikaner, die uns noch heute hinter den Kulissen dazu drängen, Syrien anzugreifen. Ich glaube, man müsste mit Syrien verhandeln. Ich glaube, man müsste mit den Palästinensern verhandeln oder zumindest die besetzten Gebiete einseitig räumen. Und das wird zu einem echten Friedensprozess führen. Aber all dies erst, nachdem wir Ruhe im Südlibanon bekommen. Es kann nicht alles parallel getan werden.

Sie haben eben auf die Amerikaner hingewiesen. Wie schätzen Sie die bisher zurückhaltende Beteiligung der USA im Nahost-Konflikt im Gegensatz zur klaren Einstellung der UNO ein, die von Israel den sofortigen Waffenstillstand und Entschädigung gefordert hat?

Da gebe ich den Amerikanern Recht – und ich gebe den Amerikanern nicht immer Recht: In Sachen Syrien und Irak widerspreche ich der Bush-Regierung. Aber im Südlibanon finde ich, dass sie Recht hat, denn sollten wir heute einen Waffenstillstand akzeptieren, würde das bedeuten, dass die Hisbollah da bleibt, wo sie vorher war, mit ihren Stellungen gegenüber Israel, mit ihren Raketen, mit den entführten israelischen Soldaten und mit dem Kontakt zu Iran, sodass sie sich weiter ausrüsten und weitere Anweisungen und Geld von dem Iran bekommen kann. Da hat man bisher überhaupt nichts getan. Insofern gebe ich den Amerikanern Recht und meine, erst müssen wir den Südlibanon von den Hisbollah-Milizen und ihren Waffen räumen, dann soll eine internationale Truppe kommen, damit sie die Übernahme des Südlibanon durch die libanesische Regierung ermöglicht, und nur dann kann man einen Waffenstillstand akzeptieren. Aber nicht in der heutigen Situation.

Sie würden also der israelischen Außerministerin Tzipi Livni zustimmen, die Ende Juli sagte, die Internationale Gemeinschaft dürfe momentan keine Waffenruhe fordern, weil ein Vakuum hinterlassen würde, das ein großer Sieg für die Hisbollah sei?

Ich würde das Wort Sieg nicht benutzen, denn das wäre kein Sieg für die Hisbollah. Die Hisbollah kann über uns keinen Sieg erlangen. Die Hisbollah würde nur in einer Position bleiben, in der sie uns bedrohen kann, aber vor allem würde der Iran an seiner Stelle bleiben. Und das können wir nicht zulassen. Insofern stimme ich der Außerministerin zu, weil dieses Vakuum zwischen Libanon und Israel weiter bestehen würde.

Selten war die Internationale Gemeinschaft dermaßen ratlos wie diese letzten Wochen. Würden Sie trotz aller Disparitäten im Westen immer noch von einer Internationalen Gemeinschaft im Bezug auf den Nahost-Konflikt sprechen?

Ich glaube nicht, dass die Internationale Gemeinschaft ratlos ist. Natürlich war sie überrascht, genau wie wir überrascht waren, weil keiner es erwartet hat, dass man uns aus dem Südlibanon wieder angreift, schließlich haben wir den Südlibanon vollkommen, total, freiwillig und einseitig geräumt, uns auf die internationale Grenze, wie die UNO es verlangt und dann anerkannt hat, zurückgezogen; warum soll man uns nun angreifen? Das hat keiner erwartet. Für die Internationale Gemeinschaft geht es um eine Lösung, die man vorbereiten muss, und das ist nicht so einfach. Die Internationale Gemeinschaft ist heute dazu bereit, eine internationale Friedenstruppe, eine ‚robuste’ Truppe, eine Kampftruppe, in den Südlibanon zu entsenden. Dort soll sie den Waffenstillstand und das Ende der Miliz nicht nur beobachten, sondern gerade zu erzwingen. Eine solche Friedenstruppe zusammenzusetzen braucht Zeit. Zunächst muss man ein Mandat der UNO bekommen, dann (nur) wahrscheinlich eine Schirmherrschaft der NATO. Schließlich muss man Länder finden, die sich dazu bereit erklären, Truppen zu entsenden, Truppen, die bereit sind zu kämpfen, ihr Leben zu riskieren. Das können natürlich nur Länder sein, die auch ein eigenes Interesse im Libanon haben. Doch zuvor müssen diese Länder die Genehmigung ihrer Parlamente bekommen und erst dann muss man die Truppe zusammensammeln und hinschicken. Das alles braucht Zeit. Selbst wenn man dieses Prozedere so weit als möglich beschleunigt – und das tun die Länder –, wird es noch ein paar Wochen dauern. Da ist also keine Ratlosigkeit der Internationalen Gemeinschaft, sondern eine Prozedur, die man durchgehen muss.

Wie Sie es angemerkt haben, hat die US-amerikanische Wochenzeitschrift TIME behauptet, der Iran sei die zentrale Figur des ganzen Konflikts. Glauben Sie, sollte eine Lösung für den Konflikt erst mal gefunden sein, dass der Iran wie auch immer einen Konflikt mit Israel anstrebt?

Ich hoffe sehr, dass dies nicht der Fall ist. Ich bin fest davon überzeugt, es gibt keine Widersprüche innerhalb der Interessen der Staaten zwischen Israel und dem Iran. Gerade heute habe ich einen Artikel für die Süddeutsche Zeitung geschrieben, in dem ich erkläre, was für eine unglaublich tief greifende Zusammenarbeit es zwischen dem Iran und Israel vor der Zeit Khomeinis gegeben hat – weil es ein ihnen gemeinsames geopolitisches Interesse für Israel und den Iran ist, zusammenzuarbeiten. Die Fundamentalisten ziehen das religiöse, fanatische Interesse dem Interesse des Staates vor und deshalb haben sie die Zusammenarbeit mit Israel zugrunde gerichtet und sich zum Bannerträger im Kampf gegen die Existenz Israels erklärt. Ich glaube, dass es nicht im Interesse des Staates Iran ist und infolgedessen wird es auch nicht so bleiben. Irgendwann gewinnt das Interesse des Landes die Oberhand. Auch der islamische Iran hat nationale, ja, imperiale Interessen, genau wie der Schah, und seine Interessen gelten nicht Israel.

In Iran ist Israel heute ein ‚schwarzer Peter’, den man verwendet, um die Bevölkerung aufzuhetzen. Also der Hass gegen Israel, die Drohungen gegen Israel sind eigentlich Folge der Volksverhetzung, und zwar der Volksverhetzung vor allem im Iran, aber auch in der arabischen Welt, um sich darin als Held darzustellen.

Aber der Iran hat seine Schwierigkeiten in der arabischen Welt. Zunächst einmal, weil die Iraner keine Araber sind und historisch im Konflikt mit den Arabern stehen. Ferner, weil sie Schiiten sind und die große Mehrheit der arabischen Welt sind Sunniten, und die Feindschaft zwischen den beiden ist historisch und tief greifend. Gleichzeitig hat der Iran einen eigenen Ehrgeiz. Dieser besteht darin, die unmittelbaren Nachbarn, also die arabischen Staaten, Irak, Saudi Arabien und die Emiraten im Golf zu beherrschen. Nicht unbedingt erobern, aber so oder so irgendwie beherrschen. Sollte ihnen das gelingen, würden sie, also der Iran mit den arabischen Vasallenstaaten, über 75% der weltweiten Erdölreserven verfügen. Wenn Sie nun bedenken, dass Russland die Atomprojekte des Iran sowohl mit Geld als auch mit 6.000 russischen Experten unterstützt, dann können Sie sich eine Allianz zwischen zwei atomaren Staaten vorstellen. Das ist die eigentliche Gefahr, die vom Iran ausgeht – und sie ist nicht unmittelbar gegen Israel gerichtet – auch wenn man sich im Iran schon freuen würde, sollte Israel ausgelöscht werden –, sondern sie richtet sich gegen die unmittelbaren Nachbarn. Gemeinsam mit Russland zur Weltmacht aufsteigen, und dann die Welt erpressen zu können.

Sie sprachen von einer tief greifende Zusammenarbeit zwischen dem Iran und Israel. Könnte diese nicht wieder neu entstehen?

Ich glaube schon, weil beide Länder ein echtes Interesse daran haben. Eben deswegen war es schon so vor der Khomeinistischen Revolution. Solange der Fanatismus, der Fundamentalismus, der Messianismus – wenn Sie wollen – im Iran herrschen, spielen die Interessen des Staates eine kleinere Rolle. Aber ich bin der Überzeugung, dass sich das im Laufe der Zeit ändert. Der Iran selber wandelt sich allmählich: Die Bevölkerung will sich modernisieren, fühlt sich mehr den USA verbunden als den religiösen Führern. Noch kann es kein Parlament, keine Demokratie geben, da die religiösen Kräfte die Regierungsgeschäfte in der Hand haben. Es gibt diese so genannten ‚Pasdaran’, das sind die Kämpfer der Revolution, das sind die Fanatiker, die dem so genannten ‚geistlichen Entführer’ entkommen, dem hamanai, unterstellt sind, und sie erpressen die Bevölkerung. Aber man weiss, wie es bei Diktaturen ist: Wenn sie über die Mehrheit der Bevölkerung jahrelang nicht verfügen können, zerbrechen sie irgendwann. Dann kehrt der Iran zurück zu seinen normalen staatlichen Interessen, die mit den Interessen des Staates Israel eigentlich viele Gemeinsamkeiten haben.

Deutschland könnte sich als möglicher Vermittler profilieren, falls die Hisbollah und Israel indirekte Verhandlungen zum Austausch von Gefangenen aufnehmen. Dennoch, selbst der libanesische Präsident Emile Lahoud bezweifelt, dass die Deutschen diesmal so behilflich sein können, wie sie es 2004 waren, als 400 palästinensische Gefangene durch die deutsche Intervention freigelassen wurden. Trotzdem hat der BND bereits Aufgaben im Nahost übernommen. Halten Sie Deutschland im Augenblick für einen angemessenen Vermittler?

Der beste Vermittler, weil Deutschland von einem hohen Ansehen auf beiden Seiten profitiert. Die Frage ist nur – und insofern hat der libanesische Ministerpräsident Recht –, mit wem verhandelt man? Wir wollen mit der Hisbollah nicht verhandeln, aber wir bestehen darauf, dass die Hisbollah, die aus Libanesen besteht, dem souveränen libanesischen Staat die Macht zum Verhandeln sowie die Geiseln übergibt. Dann werden wir verhandeln wollen, und da können die Deutschen die besten Vermittler sein.

Aufruf zur Menschlichkeit. Über F. Hengsbachs ‚Das Reformspektakel‘

Besprochen von Camilo Jiménez

Das 2005 neu aufgelegte Buch des Jesuitenpaters Friedhelm Hengsbach, Das Reformspektakel. Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient, formuliert die seit dem Ende des industrialisierten Zeitalters immer wieder ausgesprochene Klage darüber, dass der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Fortschritts steht und sich dadurch eine immer inhumanere Gesellschaft bildet. Das Buch will aber zugleich Hoffnung machen. Für Hengsbach liegt die Rettung der Menschen in ihren eigenen Händen.

Der 190-seitige Band behandelt die vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder initiierte „Agenda 2010“. Für den 68-jährigen Professor für Christliche Gesellschaftsethik steht zweierlei fest: Zum einen, dass die Reformen in Deutschland, so wie sie bisher durchgeführt werden, nur schief laufen können. Und zweitens, dass die einzige Möglichkeit eines positiven Ausgangs dieses deutschen „Reformspektakels“ eine Rückbesinnung auf die Priorität des Menschen ist. „Die am Markt orientierten Reformversuche sind bedrohlich für den sozialen Zusammenhalt“, lautet die grundlegende Argumentation des Buches.

Während die „Agenda 2010“ die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in Deutschland versprach, zeigt die Entwicklung der Lebensumstände in Deutschland im ersten Jahr nach Verabschiedung des Reformpakets genau das Gegenteil. Für die Bürger, den Markt und für den Sozialstaat ging es gleichermaßen bergab. Das liegt für Hengsbach nicht allein an den Reformplänen von Rot-Grün, sondern an der Sozialpolitik der letzten dreißig Jahre – sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Arbeitsgesellschaften weltweit.

Zentral bei der Kritik der Agenda 2010 ist eine generelle In-Frage-Stellung davon, was man heute unter „Reform“ zu verstehen hat: „Reform bedeutet immer Veränderung. Aber sollten sich die Verhältnisse nur verändern, nicht verbessern?“ Von vornherein setze das Reformstreben in Deutschland, so Hengsbach, eine grundlegende Entwurzelung der Menschen im Land voraus: „Die Agenda rechnet mit gesellschaftlich entkoppelten Menschen“, also mit einer Gesamtheit von Staatsbürgern, die genau alle Voraussetzungen erfüllen, deren voller oder partieller Mangel aber die Reformen motiviert hat. „Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen. Die Adressaten der Agenda sollen sich wie souveräne Wirtschaftssubjekte verhalten.“ Seit dem Amtsamtritt Helmut Kohls im Jahr 1982 suche man nicht mehr nach dem sozialen Zusammenhalt Deutschlands. Dem Sozialstaat würden seine lebenswichtigsten Teile abgeschnitten und diese zu marktliberalen Reformprojekten umgewandelt.

Friedhelm Hengsbach entzündet die Diskussion über die ethischen Verpflichtungen der gesellschaftlichen Institutionen gegenüber den Menschen. Ist der Staat für die Menschen da oder der Mensch für den Staat? Hengsbachs Buch vertritt eine feste Position in diesem Bezug. Für ihn ist es Aufgabe der sozialen Institutionen, allen Notwendigkeiten des Menschen zur Verfügung zu stehen. Also, der Staat für die Menschen.

Die Verteidigung einer solchen Stellung gegenüber Phänomenen, wie z.B. der Marktwirtschaft oder der sozialen Ungleichheit — die die Verfolgung eines solchen menschen-solidarischen Prinzips in Frage stellen —, wird stets im erbitterten Kampf gegen Widersacher aller Art stehen. Hengsbach tritt in diesem Sinne als Konservativer auf. Seine Ansprache für die Solidarität zwischen Institutionen und Menschen versucht die Veränderung der Gesellschaft durch ein Prinzip zu blockieren: dass der Mensch der Mittelpunkt jeglicher Gesellschaft ist.

Jeder Mensch muss „Zivile Verantwortung“ übernehmen

Letztlich ist Das Reformspektakel ein Aufruf zu einer Bewegung des Volkes für sein Recht auf Gerechtigkeit und Menschenwürde. Für Hengsbach bildet die Zivilgesellschaft das Modell einer „demokratischen Selbstorganisation“. Mit einem Bewusstsein für die Mängel der während der 80er und 90er Jahre prominenten Zivilgesellschaft, sieht Hengsbach, dass der Weg aus einem Entmenschlichungsprozess in der Gesellschaft jedoch in den Prinzipien einer zivilgerichteten Sozialordnung zu finden ist. Begriffe wie „Corporate Citizenship“ und „Zivile Verantwortung“ werden erwogen; Tatsachen, wie die massenhaften Demonstrationen gegen die Hartz IV-Reform, das Zusammenschließen der zahlreichen Verlierer der Reformen in Unionen und Korporationen (und heute wohl in einer populären Linkspartei) werden berücksichtigt. Aufgrund dieser Beobachtungen sieht Hengsbach reale Möglichkeiten für einen gesellschaftlichen Ausgleich in Deutschland.

Friedhelm Hengsbach ist kein Pessimist. Die noch bestehende Chance, eine normative Gesellschaft zu bilden, die den Menschen — so wie sie sind — dient, ist eine Möglichkeit, die aber allmählich hinter den Kulissen des deutschen „Reformspektakels“ zu verschwinden droht. Das Werk eines Moralisten kann nur ein Schlusswort haben: „Aktion!“.

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Jiménez, Camilo: Neue kolumbianische Autoren, 11.08.05

Der Roman wurde Antioquia als Gattung versagt. Viel zu viele waren wir, um in Fiktionen zu schwelgen. Außerdem stand unsere Realität immer im harten Licht der Mittagssonne, die jede Art von Atmosphäre ausschloss.

Das Rot war rot und das Weiß weiß und basta. Was für eine Atmosphäre kann es geben, wo es dunkel wird und wie aus Strömen gießt in der unermesslichen Ewigkeit um sechs Uhr abends? Ohne Winter, ohne Herbst, ohne Sommer, ohne Zyklone, ohne Brandung, in einer Vorhölle von abgewaschenen Bergen, wo der anmutige Krummsäbel eine einfache Machete ist… Natürlich kann es in Antioquia keinen Roman geben!“, schreibt Fernando Vallejo in seinem ersten, 1986 erschienenen Roman Los días azules. Diese Behauptung scheint offenbar nicht für ganz Kolumbien zu gelten.

Dabei hat der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez für die Schilderung der fiktiven Stadt Macondo den Nobelpreis erhalten. Alvaro Mutis, ebenfalls Kolumbianer, erhielt 1993 den Cervantespreis. Der Roman La tejedora de coronas von Germán Espinoza wurde sogar in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen. Und Fernando Vallejo bekam erst 2003 den venezolanischen Literaturpreis Rómulo Gallegos. Doch erst seit kurzem wird die Literatur Kolumbiens in Deutschland zur Kenntnis genommen. Suhrkamp, Klaus Wagenbach und Rotpunkt, also ein Frankfurter, ein Berliner und ein Schweizer Verlag, wagten das Experiment. In den vergangenen zwei Jahren sind Bücher der Autoren Fernando Vallejo, Santiago Gamboa und Memo Ánjel auf Deutsch erschienen.

Man darf sich fragen, was der Grund dafür ist, dass in einem Land, das angeblich nicht literaturwürdig ist, die Belletristik gerade jetzt einen positiven Schub erlebt. Die Antwort: Kolumbien ist eine noch nicht geschriebene Geschichte. Kolumbien steckt voller Historien, als Hort korrupter Politiker, blutdurstiger Mafiosi oder Gossenkinder, die sich als Boxer, Radfahrer oder Fußballer aus dem Elend hocharbeiten. Kinderbanditen, jugendliche Klebstoffschnüffler, verhungernde Familien unter durchgeweichten Kartondächern prägen das Bild, das man sich hierzulande von dem Land macht. Kolumbien ist als ehemalige Kolonie Spaniens eine zwischen Indígenas und den Nachfahren unzähliger Zuwanderer aus aller Welt bunt zusammengewürfelte Gesellschaft.

Fernando Vallejo, Santiago Gamboa & Memo Ánjel

Fernando Vallejo, Santiago Gamboa und Memo Ánjel erobern nun die deutsche Leserschaft.

Der 1942 geborene Fernando Vallejo verließ seine Heimat. Seine kritischen Filme wurden zensiert, er selbst von Guerillas bedroht. Er lebt heute in Mexiko City. Der studierte Biologe beschäftigt sich mit Sprachtheorie, jeden Morgen spielt er auf seinem Steinway-Flügel. Die Filmemacherei hat er eingestellt, seit einiger Zeit schreibt er Romane. Er ist bekannt als militanter Tierfreund, bekennender Homosexueller und Frauenfeind, aber auch als höchst sympathischer und warmherziger Mensch, der wie die Leute aus dem Hügelgebiet Antioquias spricht und denkt. 2001 veröffentliche er den Roman El desbarrancadero (Der Abgrund), der sofort riesigen Erfolg hatte. Vallejo erhielt 2003 den mit 100 000 Dollar dotierten Premio Rómulo Gallegos, die er für die Pflege der Straßenhunde von Caracas spendete, was in seiner Heimat für einen Skandal sorgte.

Der ehemalige Journalist und studierte Literaturwissenschaftler Santiago Gamboa wohnt in Rom, ist von Natur aus ein Literat, ein mit seiner Heimatstadt Bogota zutiefst verbundener Weltreisender, ein Schriftstellerfreund und Autorenförderer, selbst ein Talent, das dieses Jahr zu einer Lesetour durch Deutschland eingeladen wurde und dabei mit seinen heiteren Geschichten seinen Anhängern großes Vergnügen bereitete. 2002 erschien sein dritter Roman, eine Kriminalkömodie mit hohem Niveau, intelligente Unterhaltung für Krimifans und Freunde gut geschriebener Prosa mit Humor: Los impostores (Die Blender). Gamboa war nach China geschickt worden, um einen Reiseführer zu schreiben. Die Arbeit brachte ihn auf die Idee für seinen Roman: Drei Männer begeben sich auf die Suche nach einer Urkunde des 19. Jahrhunderts. Sie finden in der Riesenstadt Peking aber nichts weiter als sich selbst und einen Haufen subtiler Späße für Gelehrte. Die kolumbianischen Leser nahmen die weltbürgerliche und anspruchsvolle Geschichte von sophistischen Loser begeistert auf. Das Buch war der Renner der letzten Buchmesse in Bogotá.

Memo Ánjel wohnt zurzeit in Berlin, ist ein Sepharde aus Medellín, der Hauptstadt der bereits erwähnten Region Antioquia, ein leidenschaftlicher Raucher mit der eigenartigsten Sprachart, ein vielseitiger Autor für Zeitungen und das Radio, außerdem Professor für Kommunikationsmanagement in seiner Heimatstadt und DAAD-Stipendiat im Berliner Friedenau. Der Autor von bislang acht Romanen ist ein geborener Erzähler, der von der Kritik gefeiert wird. Unter dem humboldtschen Motto: „Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache” stellte er in Berlin seinen neuesten, auf spanisch noch nicht erschienenen Roman La mesa de los judíos (Das meschuggene Jahr), im Deutschen Historischen Museum vor. Die Veranstaltung mit seinem Übersetzer, dem Kolumbienkenner Peter Schulze-Kraft, war ein voller Erfolg. Ánjel gewann mit Sympathie und Klugheit Publikum und Rezensenten in Deutschland und in der Schweiz.

Der Abgrund

Svenja Beckers Übersetzung des anspruchvollen Roman Der Abgrund (Suhrkamp) ist rundum gelungen. Dabei ist der hochstilistische Vallejo für jeden Übersetzer eine harte Nuss. Das sah man beim Scheitern des Wiener Zsolnay Verlags mit Klaus Laabs liebloser Übersetzung von Vallejos meist verkauftem Werk, La Virgen de los Sicarios (Die Madonna der Mörder, Wien 2001; 1993 orig. ersch.). Svenja Becker zeigt dagegen Sorgfalt bei der Verwandlung der künstlerisch verschlüsselten Sprachformen Vallejos ins Deutsche. Für sie ist Vallejo vor allem ein „Sprachfreak“.

Der Autor hat sich immer skeptisch zu Übersetzungen seiner Werke geäußert. Er schreibe für die spanische Sprache. Svenja Becker hat sich nicht abschrecken lassen und eine deutsche Übertragung vorgelegt, deren einziger Mangel ist, dass die Leichtigkeit des Originals an manchen Stellen verloren geht.Die iberoamerikanische Jury des Rómulo Gallegos-Preises in Caracas lobte den Abgrund: „Wir stehen vor einem tiefst literarischen und bewegenden Roman, der Themen von dramatischer Aktualität durch eine unerhörte Kraft der Sprache zu reflektieren vermag.“ Die Schilderung der täglichen Gewalt, der Familienkrise und Krankheit, so die Jury, schafften eine Erneuerung der spanischsprachigen Literatur.

Vallejo mischt in seinem Roman Realität und Fiktion. Der Autor schildert die Aids-Krankheit, das Leiden und den Tod seines Bruders Darío. In Medellín, in den achtziger und neunziger Jahren Ort brutaler Auseinandersetzungen rivalisierender Drogenkartelle, spielt sich die absurde Inszenierung einer zerbrechenden Familie ab. Vallejo beschreibt den Todesweg eines geliebten Menschen. Der Ich-Erzähler schützt sich mit zynischen Sprüchen über Politiker, Kolumbien, Gott und die Welt. Sein Motto lautet: Die Existenz ist ein Müllsack von Erinnerungen.

Die Blender

Die Übersetzerin Stefanie Gerhold ist mit Santiago Gamboa vertraut. Die 1999 mit dem Preis der spanischen Botschaft für junge Übersetzer ausgezeichnete Münchenerin hat bereits Werke des spanischen Krimiautors Manuel Vázquez Montalbán sowie drei Romane von Gamboa übertragen und arbeitet im Moment am Neuprojekt des 2004 in Bogotá erschienenen El retrato de Ulises, Gamboas letztem Buch.

Gamboa bedient sich des Genres Krimi, um seine aberwitzige Geschichte voll subtiler Ironie voranzutreiben. Die Herausforderung an die Übersetzung liegt in den Details und den kleinen Wortspielen. Obwohl man die deutsche Version, genauso wie die spanische, schnell und gut gespannt liest, bleibt der im Original unmittelbar wirkende Witz mitunter auf der Strecke.

Die Story ist eine Verkettung von Absurditäten. Drei Männer suchen das verschollene Manuskript einer Sekte aus dem Umkreis des Boxer-Aufstands um 1900 in China. Sie treffen in Peking aufeinander und fangen an, gegeneinander zu intrigieren. Indessen ist ihnen die Boxer-Sekte bereits auf der Spur. Die unzähligen Abenteuer enden in einer doppelten Verfolgungsjagd: Die Blender sind hinter dem Manuskript her, und die Anhänger der Sekte jagen die Blender.

Das meschuggene Jahr

Memo Ánjel betraute auf eigenen Wunsch den Kolumbien-Literaturexperten Peter Schultze-Kraft und den bekannten Schriftsteller Erich Hackel aus Österreich mit der Übersetzung des noch nicht einmal auf Spanisch erschienenen neuesten Romans. Die Übersetzung ist hervorragend. Der leichte Humor und die Kraft mancher Stellen zeigen die Feinsinnigkeit des Übertragungsteams. Ein ausführliches Glossar der verwendeten jüdischen Begriffe ergänzt die prachtvolle Edition des Schweizer Rotpunktverlags. Kolumbien, das unbelesene Land, verbleibt zwar uninformiert über Ánjel, im deutschsprachigen Raum aber können Leser und Kritiker sich freuen. Memo Ánjel verspricht übrigens im Klappentext eine Fortsetzung.

Im Herzen der kolumbianischen Kaffeeregion prophezeit eine jüdische Großfamilie in den fünfziger Jahren den Auftakt des „meschuggenen Jahres“, der Zeit, in der sie sich endlich den Traum erfüllen können, das auserwählte Land Israel zu besuchen. Der Autor schildert aus der Sicht eines 13-jährigen eigene Erlebnisse. In Das meschuggene Jahr weiß man nicht, ob das Medellín im Roman in der Tat die Gewaltmetropole der letzten Jahrzehnte ist oder ob es sich um eine Fantasie Ánjels handelt. Aber abgesehen davon ist das Werk außergewöhnlich innerhalb der Literatur Kolumbiens, wo Autoren, der márquezschen Legenden müde, sich fast zwanghaft der realistischen Schilderung der tagtäglichen Gewalt verschrieben haben. „Ich schreibe ganz bewusst nicht über Gewalt“, sagt ein stets lächelnder Memo Ánjel auf die Frage nach dem Fehlen von Killern oder von den Liebesgeschichten zwischen toten Kaimanen, toten Flussfahrten und was das márquezsche Genre noch zu bieten hat.

Hinweise

  • Vallejo, Fernando: Der Abgrund (übers. v. Svenja Becker; Originaltitel: El desbarrancadero,Madrid: Alfaguara 2001). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. ISBN: 3-5184-1655-3. 19,80 Euro. Gebunden. 192 Seiten.
  • Gamboa, Santiago: Die Blender (übers. v. Stefanie Gerhold; Originaltitel: Los impostores, Barcelona: Seix Barral 2002). Berlin: Klaus Wagenbach 2004. ISBN: 3-8031-3195-2. 21,10 Euro. Gebunden. 320 Seiten.
  • Ánjel, Memo: Das meschuggene Jahr (übers. v. Erich Hackl u. Peter Schultze-Kraft; Originaltitel: La mesa de los judios, unersch.). Zürich: Rotpunktverlag 2005. ISBN: 3-8586-9290-5. 19,50 Euro. Gebunden. 194 Seiten.