Thiel, Pascal: Internet und Meinungsfreiheit im Lichte der UN, 11.10.2013

Paris, Palais de Chaillot, am 10. Dezember 1948: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet mit Resolution RES 217 A (III) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (UDHR). In 30 Artikeln hatte eine Menschenrechtskommission um US-Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt zuvor ein Paket international konsensueller Menschenrechte formuliert. Im Laufe der Jahre durch einige Übereinkommen erweitert, gilt sie als Grundlage der UN-Menschenrechtsarbeit.

In Artikel 19 der Erklärung ist die freie Meinungsäußerung (= Meinungsfreiheit) festgeschrieben. Dort heißt es:

Everyone has the right to freedom of opinion and expression; this right includes freedom to hold opinions without interference and to seek, receive and impart information and ideas through any media and regardless of frontiers.

Im Lichte unserer heutigen Zeit, dem digitalen, dem Internetzeitalter, eine Formulierung mit Weitsicht. Denn der Artikel schreibt Meinungsfreiheit in jedem Kommunikationsmedium vor: Somit auch im Internet.

Freie Meinung im Internet

Dass das Internet ein zweischneidiges Schwert ist, brachte 2011 auf einer Podiumsdiskussion des UN-Menschenrechtsrats Norwegen auf den Punkt. Einerseits bescheinigte der skandinavische Staat dem Internet einen „unglaublichen Mobilisierungseffekt“, andererseits zeigte es sich besorgt vom Potential desselben, „Menschenrechte zu untergraben“.

Ersteres wird vor allem durch drei Säulen ermöglicht: Die Information durch das Internet, der Ausdruck im Internet und die Organisation über das Internet. Die Bündelung dieser Faktoren findet in sozialen Netzwerken statt. Es ergeben sich neue Möglichkeiten zur Wahrnehmung der Äußerungs- und Meinungsfreiheit.

Beispiel Ägypten: Noch in den Wirren der Revolution entsteht der Begriff „Facebookrevolution“. Glaubt man dem Blogger und Journalisten Richard Gutjahr, der Anfang 2011 selbst in Kairo weilte, boten soziale Netzwerke wie Facebook oder MSN vor allem Jugendlichen eine gute Möglichkeit, den jahrzehntelang aufgestauten Unmut zu kanalisieren: „[Die Jugendlichen] lösen sich von der Mundpropaganda und verschieben sich zugunsten digitaler Chaträume und Internet-Netzwerke.“ Zwar fällt die Revolution nicht allein auf soziale Medien zurück, dennoch habe es „die schnelle Ausbreitung der Proteste […] ohne die Netzwerke wohl nicht gegeben.“

Auch die Vereinten Nationen haben diese Entwicklung erkannt. Der UN-Sonderberichterstatter zur Förderung und des Schutzes des Rechts auf freie Meinungsäußerung Frank La Rue beschreibt das Internet in einem Bericht (A/HRC/17/27) vom 16. Mai 2011 vor dem Menschenrechtsrat als „entscheidendes Mittel“ (§ 20) bei der Wahrnehmung des Rechts zur freien Meinung und Meinungsäußerung.

Probleme

Im gleichen Atemzug warnt La Rue doch auch vor zwei zentralen Problemen bezüglich des Internets: vor dem oftmals nicht vorhandenen Zugang zum Internet bzw. die Inexistenz einer Infrastruktur zur Nutzung des Internets und das Problem inhaltsbezogener Restriktionen von staatlicher Seite.

Gerade in Entwicklungsländern seien die Menschen bei der Internetnutzung oftmals mit Hindernissen konfrontiert, so UN-Sonderberichterstatter La Rue. Auch daher bilden die Entwicklungsländer die Kerngruppe der „Feinde des Internets 2012“ von  „Reporter ohne Grenzen“ (ROG). Mit Weißrussland, China, Iran, Saudi Arabien, Syrien, Turkmenistan, Usbekistan und Vietnam sind acht von zehn der „Feinde des Internets“ Entwicklungsländer. Als besonders bedenklich gelten der Iran und China, da in diesen Staaten die Internetüberwachung zusehends intensiviert wird.

Gerade China fiel in der Vergangenheit immer wieder mit Negativschlagzeilen auf – zudem befindet sich das Land seit Jahren mit Google in einem Streit, der seit 2010 durch das einstweilige Zerwürfnis der Volksrepublik mit dem Internetkonzern geprägt ist. Damals hatte Google China vorgeworfen, E-Mail-Konten von Gmail-Nutzern gehackt zu haben.

Während in vielen Ländern die staatliche Regulierung des Internets kontrovers diskutiert wird, ist dies in mindestens ebenso vielen Ländern Realität: Diese inhaltsbezogenen Restriktionen sind  zumeist nicht ausreichend legitimiert, sondern basieren auf willkürlich bis rechtswidrig beschlossenen Gesetzen.

Dies und mehr kritisiert UN-Sonderberichterstatter La Rue in seinem Bericht. Doch auch die oftmals fehlende Transparenz bei der staatlich durchgeführten Sperrung von Internetseiten ist ihm ein Dorn im Auge. Als besorgniserregend erachtet er zudem die Schaffung neuer Gesetze, die einerseits den Ausdruck im Internet nachträglich als kriminell erklären und andererseits „vorsorglich“ die Meinungsfreiheit im Internet einschränken. Außerdem kritisiert er verstärkt stattfindende Eingriffe von Staaten in die Arbeit von Intermediären. Intermediäre sind private, digitale „Organisationen“, die Intermediationsfunktionen wahrnehmen, das heißt ähnlich einer Agentur dem Internetnutzer Dienstleistungen vermitteln.

Weiterhin verurteilt der Sonderberichterstatter die Unterbrechung des Internetzugangs in vielen Staaten als eklatante Verletzung von Art. 19 UDHR. La Rue zeigt sich zudem besorgt über die Zunahme von Cyber-Angriffen: Es sei die Pflicht eines jeden Staates, seine Bürger vor digitalen Angriffen Dritter zu schützen, insbesondere bei Gefährdung der Meinungsfreiheit. Zudem komme es dadurch immer wieder zu Verletzungen des Rechts auf Privatsphäre.

Noch viel zu tun

Zusammenfassend ist festzuhalten: Ist die Internetfreiheit nicht gegeben, so kann keine Meinungsfreiheit über das Internet wahrgenommen werden – und der Mensch ist somit in seiner Handlungsfreiheit nach der UDHR eingeschränkt.

Das Internet Governance Forum (IGF) in Nairobi, Kenia, 2011, bezeichnete das Internet als „Raum mit begrenzter Regulation“. Doch wie das erreicht werden kann, steht weiter in den Sternen: Auf konkrete Lösungswege wartet man bislang noch.

 

Dieser Artikel erschien zuerst am 26. Oktober 2012 auf media-bubble.de.

P.D. James – Der Tod kommt nach Pemberley

Besprochen von Pia Klein

  • P.D. James: Der Tod kommt nach Pemberley. Kriminalroman. Droemer 2013. 384 Seiten, 19,99 Euro.

Die bekannte Krimiautorin P.D. James wagt sich an daran, „Stolz und Vorurteil“, den Klassiker von  Jane Austen, weiterzuschreiben. Ein Unterfangen, welches bekanntermaßen nicht im Sinne Austens gewesen wäre, hat die doch in ihrem Roman „Northanger Abbey“ unmissverständlich klargemacht, dass sie von Schauergeschichten überhaupt nichts hält. Dennoch kommt bei James der Tod nach Pemberley.

Einige Jahre sind vergangen, seit die Schwestern Elizabeth und Jane Bennet einen Mann fürs Leben gefunden haben. Während eines stürmischen Herbstes steht der alljährliche Ball Lady Annes vor der Tür, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Plötzlich fallen Schüsse im Wald. Die Jüngste der Bennet-Schwestern, Lydia, erleidet einen Nervenzusammenbruch. Es gibt einen Toten, und jemand muss ins Gefängnis. Es bleiben Fragen: War es Wickhams Schuld? Was stimmt nicht mit dem Haus im Wald? Wen wird Darcys Schwester  Giorgiana heiraten? Und welches Geheimnis haben die Eheleute Lizzy und Mr. Darcy vor einander? Es gibt viele Indizien, aber Beweise leider keine. Nur wer die Lektüre bis zum letzten Kapitel durchhält, bekommt die Antworten.

Die Autorin beginnt mit einer Zusammenfassung für Nicht-Austen-Kenner, bei der die moderne Krimiautorin wunderbar den Ton ihres Vorbildes trifft. Die dann folgende Krimigeschichte aber entwickelt sich enttäuschend. Zunächst hat man den Eindruck, Lizzy würde sich wie Miss Marple auf die Suche nach dem Mörder machen, der ihr kleines Paradies in Gefahr bringt. Doch stattdessen wird die Gedankenwelt ihres Gatten, Mr. Darcy, ausgebreitet. Schließlich liegt die Lösung des Rätsels bei der Herkunft eines unehelichen Kindes, das bei den Protagonisten des Jane Austen-Romans „Emma“ ein neues Zuhause findet.

P.D. James ist sichtlich bemüht, den Stil des großen Vorbilds zu erreichen. Dies gelingt ihr aber nur zu Beginn des Romans. Was dann folgt, sind Verwicklungen, die den Leser seltsam unberührt lassen, weil es ihr nicht gelingt, das Seelenleben ihrer Figuren glaubhaft zu schildern. Die Charaktere sind zwar zahlreich, aber farblos. Insgesamt funktioniert „Der Tod kommt nach Pemberley“ weder als Krimi noch als Fortsetzung eines Klassikers.

Die fiktive Realität. Dr. Christian Hißnauer im Gespräch mit Alexander Karl, 09.10.2013

Egal ob Doku-Soap oder Reportage – Dokumentationen in allen erdenklichen Facetten flimmern tagtäglich über die Bildschirme. Doch eines zeichnet sie alle aus: Sie enthalten immer auch Fiktion. Ausführlich hat sich Dr. Christian Hißnauer, Jahrgang 1973, mit den diversen Doku-Formaten beschäftigt und promovierte 2010 mit seiner Arbeit über „Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen“ an der Universität Göttingen. Heute ist er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.

Alexander Karl sprach mit ihm über die Fiktion in Dokumentationen, die Darstellung der RAF und Daniela Katzenberger.

Herr Hißnauer, für Sie zählen auch Reality-TV-Formate wie Big Brother zur Dokumentation. Worin liegt das wissenschaftliche Interesse, Formate wie “Big Brother” und “Daniela Katzenberger – Natürlich blond” zu untersuchen?

Christian Hißnauer: Es gibt unterschiedliche Ansätze, mit denen man die diversen dokumentarischen Formate bewerten kann. Bei einer Reportage lassen sich journalismusethische Maßstäbe anlegen, anhand derer auch bewertet werden kann. Das ist bei “Big Brother” und “Daniela Katzenberger – Natürlich blond” anders. Hier greifen keine journalistischen Standards, es geht nur um Unterhaltung. Da wird beispielsweise Daniela Katzenberger in allerlei Situationen gezeigt und wie sie darauf reagiert. Etwa, wie sie sich ihre Brüste neu machen lässt. Das kann man unterhaltsam finden oder nicht, aber mehr will dieses Format nicht. Eine klassische Dokumentation über Brustvergrößerung würde hingegen viel mehr Hintergrundberichte bringen und auch das Kriterium der faktischen Richtigkeit würde eine Rolle spielen. Das ist bei Daniela Katzenberger vollkommen egal. Im Zweifelsfalle sogar, ob sie sich die Brüste hat machen lassen oder nicht.

Egal ob Doku-Soap, Reality-TV oder klassische Reportage: In all diesen Formaten schaut man Menschen – ob Schauspieler oder nicht – zu. Man bekommt Einblicke in ihre Lebenswelt. Hat Dokumentarismus auch immer etwas mit Voyeurismus zu tun?

Die Frage ist: Wo fängt Voyeurismus an? Wenn eine Sozialreportage Einblicke in fremde Lebensbereiche gibt, besteht immer die Gefahr, dass es voyeuristisch wird. Es kommt auf den Standpunkt an, aber auch auf die Inszenierung. Wenn bei Reality-TV-Programmen nur Höhepunkte aneinander gereiht werden, dann wirkt es schneller voyeuristischer als in einer klassischen Reportage, in der die Protagonisten ausführlich zu Wort kommen. Letztendlich zeigt man aber durchaus die gleichen Sachen.

Sie sagen, dass Dokumentationen immer fiktionale Aspekte enthalten.

Ja, bei jeder Art von Dokumentation spielt der Autor mit fiktionalen Aspekten – und das auf ganz verschiedenen Arten. Ein Beispiel: Als Autor legt man den Anfangspunkt und den Endpunkt einer Geschichte fest. Genauso die Zwischenschritte. Damit suggeriert man als Autor, dass alles Wichtige erzählt wurde. Alles, was ausgeblendet wird, wird somit automatisch zum Nicht-Wichtigen. Für den Protagonisten, den man darstellt, kann das ganz anders aussehen. Ganz stark hat man das bei Eberhard Fechner, der aus ganz verschiedenen Interviews einen Film zusammensetzt. Dabei schneidet er die Menschen so zusammen, als würden sie miteinander reden. Und das, obwohl die Interviews vielleicht tausende von Kilometern voneinander entfernt aufgenommen wurden. Das ist erfundene Geschichte auf der Basis von Fakten, weil das Erzählte die Schöpfung des Autors ist.

Dokumentarismus umfasst also ein weites Feld. Doch wenn der Dokumentarismus-Begriff so stark zwischen Realität und Fiktion schwankt – warum entscheidet man sich dann, ein Buch über Fernsehdokumentarismus zu schreiben?

Zum einen ist das Thema auch dadurch spannend und es gibt bisher wenig Literatur zum Fernsehdokumentarismus. Zum anderen haben wir täglich mit Dokumentationen und Doku-Soaps zu tun, die mal mehr oder weniger erfunden sind. Die Frage ist also: Wie unterscheiden sich die Formate? Wie geht der Zuschauer damit um?

Der Zuschauer scheint vor allem in den letzten Jahren sein Gefallen an Doku-Soaps, wie eben “Daniela Katzenberger – Natürlich blond“, gefunden zu haben.

Das stimmt, sie sind ja auch oft krawallig. Aber man muss davon ausgehen, dass es verschiedene Nutzungsmotive gibt. Einige Zuschauer erheben sich über die Formate und verstehen, dass die Sendung gefaked ist. Andere erhoffen sich tatsächlich Lebensberatung von “Raus aus den Schulden“. Das ist nicht neu, sondern gab es auch schon bei den Daily-Talkshows in den 1990er Jahren.

Fernab von Daniela Katzenberger und Co. beschäftigen Sie sich auch intensiv mit der Geschichte und Darstellung der RAF. Warum setzen Sie sich – wie auch die deutsche Fernsehlandschaft – so intensiv mit diesem Thema auseinander?

Es gibt unheimlich viele Filme und Dokumentationen, die sich mit der RAF beschäftigen. Mir geht es darum, wie über die Medien Geschichtsbilder erzeugt werden. Und die verändern sich. Jede Generation macht sich sein eigenes Bild von der RAF, genauso wie auch von Hitler.

Was bedeutet das konkret?

Wir haben heute andere Filme zu diesen Themen als vor zwanzig Jahren. Die Aussagen sind auch andere. Beispielsweise die Landshut-Entführung von 1977 in Mogadischu: Wenn wir Dokumentationen aus den siebziger oder achtziger Jahren sehen, wird dies gerahmt in dem Thema des palästinensischen und internationalen Terrorismus. Damals spielte die RAF wenn überhaupt nur am Rande eine Rolle. Heute tritt die Rahmung in dem Bild des internationalen Terrorismus zurück. Stattdessen wird die Landshut-Entführung als eine Hilfsaktion für die RAF dargestellt, sogar teilweise so, als hätte die RAF dies in Auftrag gegeben – was wohl so nicht ganz stimmt. Damit werden nicht nur die Entführung, sondern auch ihre Opfer der RAF zugeschrieben. Das bekannte Ziel der RAF waren staatliche Repräsentanten und Wirtschaftsbosse. Jetzt ist es die ganz normale Bevölkerung, jeder Urlaubsflieger hätte ein Opfer werden können. Und durch die neuen Opferbilder entstehen auch neue Geschichtsbilder.

Kann man davon ausgehen, dass auch die NSU bald so ausführlich behandelt wird?

Bei der NSU verhält es sich anders, alleine schon durch die Opferstruktur. Momentan richtet sich der Fokus ganz stark auf das Versagen des Staates, was übrigens auch im ganzen RAF-Diskurs keine Rolle mehr spielt. Wir wissen etwa, dass die ersten Waffen damals vom Verfassungsschutz in die Szene gebracht worden sind. Es wird immer gesagt, dass die Terroristen reden sollten. Aber auch der Verfassungsschutz sollte hier – ähnlich wie beim NSU – sein Schweigen aufgeben. Übrigens fehlt heute im RAF-Diskurs ein Opferbild – nämlich jene, die unschuldig bei Hausdurchsuchungen oder Polizeikontrollen erschossenen worden sind. Davon gibt es mindestens fünf Menschen. Und das wird völlig tot geschwiegen.

Das Buch zum Interview: Hißnauer, Christian: Fernsehdokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen. UVK, 2011. 416 Seiten, 32,00 Euro.

 

Das Interview erschien zuerst am 21. November 2012 auf media-bubble.de.

„Coffeeshop“: Multimediales Erzählen in der ‚Literatur‘

Besprochen von Alexander Karl

Das ist der Literaturbranche bestimmt nicht Latte (Macchiato): Denn Coffeeshop von Gerlis Zillgens stellt einen Bruch mit den gängigen Buchkonventionen dar. Zunächst einmal ist es kein haptisches Buch, sondern eine E-Book-Serie mit 12 Episoden (wahlweise auch als Hörbuch oder als Read & Listen Version verfügbar). Darin erlebt die Sachensucherin Sandra die unterschiedlichsten Abenteuer mit ihren drei besten Freunden, deren zentraler Treffpunkt der „Coffeeshop“ ist, das Café ihres schwulen Freundes Captain. Allein die Episodenhaftigkeit und somit die strukturelle Anlehnung an TV-Serien mag für den Literaturbetrieb ungewöhnlich sein. Dabei stellt dies aber nur Basis-Version der Erzählung dar. Denn die „Coffeeshop“-App sorgt für ein kunterbuntes Story-Erlebnis.

Multimediale App

Multimedial wird Coffeeshop vor allem durch die App, die es parallel zu den anderen Produkten gibt: Jede der 12 Episoden in der App besteht nicht nur aus geschriebener Handlung, sondern reichert sie multimedial an. Kurze Filme greifen Handlungselemente auf, führen sie aus und kommentieren sie. Comicsequenzen zeigen die Gedanken der Protagonistin Sandra. Zudem werden Gespräche mit ihrem Vater auf rein auditiver Ebene eingebunden. Hinzu kommen weitere Elemente, um weiter in das „Coffeeshop“-Universum einzutauchen: Die Tagesgerichte des Coffeeshops lassen sich mittels der abrufbaren Rezepte nachkochen und Steckbriefe fassen die Eigenheiten der Protagonisten zusammen. Eine weitere Perspektive auf die Handlung wird durch die jeweils zur Episode passenden Kolumnen von Captain geboten. Hinzu kommen ein Spiel sowie Musik- und Büchertipps der Protagonistin, wobei letztere ins Web ausgelagert sind. Zusätzlich kann man sich die Episoden auch vorlesen lassen.

All das, was sonst transmedial ist

Mit dieser App geht Coffeeshop weit über das hinaus, was der Literaturliebhaber alter Couleur kennt: Statt ‚nur‘ gedruckte Worte auf Papier zu liefern, schafft Coffeeshop ein multimediales Erlebnis, das weit über die eigentliche Buchlektüre hinausgeht und innerhalb einer App all das versammelt, was in TV-Serien sonst gerne transmedial ausgelagert wird. Etwa bei der Erfolgsserie Breaking Bad, die online mit den Blogs der Figuren Marie und Hank sowie Graphic Novel Games und einigen Minisoden aufwartet – wie Jason Mittell in seinem online vorab publizierten Buch Complex TV : The Poetics of Contemporary Television Storytelling beschreibt, dienen die transmedialen Erzählungen von Breaking Bad vor allem dazu, den (Neben-)Figuren zusätzliche Tiefe zu verleihen. Ähnliches lässt sich auch bei Coffeeshop mit der Kolumne von Captain feststellen, da die eigentlichen Episoden aus Sandras Ich-Perspektive erzählt werden. Und auch die kurzen Videos ermöglichen Kommentare der weiteren Hauptdarsteller und Nebenfiguren, etwa Sandras Eltern.

Doch wie neu ist dieses Vorgehen? „Coffeeshop ist ein multimediales Projekt, bei dem erstmals ein Verlag und eine Filmproduktionsfirma zusammenarbeiten und ihre Stärken in einer neuen Form des Storytellings verbinden“, heißt es in einer Presseinformation.

Mehr noch: Coffeeshop stellt ein Beispiel für Paradigmenwechsel der Buchwelt dar, die zusehends mit hochwertig produzierten (und komplexen) TV-Serien konkurrieren muss, die als Romane der Neuzeit gefeiert werden. Daher scheint es nur logisch, die Stärken der unterschiedlichen Medien zu vereinen und dadurch ein multimediales Gesamterlebnis zu schaffen.

 

Die Rezension erschien zuerst am 11. Juni 2013 auf media-bubble.de.

Paulette – Eine raubeinige Krimikomödie nach einer wahren Geschichte

Besprochen von Pia Klein

  • Paulette. Frankreich 2012. 87 Min. Regie: Jérôme Enrico. Mit Bernadette Lafont, Carmen Maura, Dominique Lavanant.

Die alte Paulette lebt in einem der berüchtigten Pariser Banlieues. Früher betrieb sie mit ihrem Mann ein Café. Nun ist der Mann gestorben. Das Café ist von Asiaten aufgekauft worden. Die Rente reicht hinten und vorne nicht. Paulette weiß sich aber mit Erfindungsreichtum und Schätzen aus den Müllcontainern zu helfen. Bis sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen kann und ihre komplette Wohnungseinrichtung gepfändet wird. In ihrer Verzweiflung eifert die alte Dame schließlich den Halbstarken im Viertel nach und wird eine Hasch-Dealerin. Darin ist sie bald so erfolgreich, dass sie den professionellen Drogenhändlern zur missliebigen Konkurrentin wird.

Die Ausländer haben ihr alles weggenommen. Darüber klagt sie bei ihrem Beichtvater, der zwar schwarz ist, es aber Paulette zufolge verdient hätte weiß zu sein. Schwarz ist auch der Mann, den ihre Tochter geheiratet hat. Doch der ist praktischerweise Polizist. Was liegt da näher, den Schwiegersohn auf dem Revier zu besuchen und ihm die Geheimnisse der Drogenfahndung zu entlocken? Ein brutaler Kontrast zum schwarzen Humor des Films ergibt sich, als Paulette von konkurrierenden Dealern zusammengeschlagen wird. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Regisseur Jérôme Enrico eine wahre Begebenheit erzählt. Das Ende kommt dennoch sehr aufgesetzt daher. Die neue Bilderbuchfamilie verkauft Haschkekse in Holland – ganz legal. Warum kauft die raffinierte Alte mit dem Geld aus der Dealerei nicht ihr Café von den Asiaten zurück?
Bernadette Lafont spielt die Charaktere der Paulette wunderbar griesgrämig überzeugend und ist die eigentliche Attraktion des Films. Ein würdiger Abschluss der Filmkarriere der im Juli 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Schauspielerin.

 

Oh Boy

Besprochen von Pauline Fois

  • Oh Boy. Deutschland 2012. Regie : Jan Ole Gerster. Mit : Tom Schilling, Frederike Kempter u.a. 88 min.

Niko hat sein Jura-Studium vor zwei Jahren abgebrochen, was sein Vater schließlich  entdeckt. Seine Freundin hat ihn verlassen. Er beschließt, nach Berlin zu ziehen. Der Kinozuschauer erlebt nun Nikos ersten Tag in der Hauptstadt. Sein Nachbar empfängt ihn mit einem selbstgemachten Kuchen und erzählt ihm weinend nach fünf Minuten von seinen Eheproblemen. In einem Café erkennt ihn eine Frau, die während der Schule in ihn verliebt war. Dann wird seine Karte vom Geldautomat verschluckt und er muss seinen Vater um Geld bitten. Es sind Alltagszenen, die scheinbar willkürlich aneinander gereiht werden. Sie werden aber immer tragischer.

Obwohl der Film in der Gegenwart spielt, ist er in Schwarzweiß gedreht. Diese nostalgische Stimmung wird verstärkt durch einen jazzigen Soundtrack. Der Film ist eine gelungene Mischung aus Tragödie und Komödie. Er schildert den Snobismus Berliner Lokalitäten, in dem es fast unmöglich ist, einen „normalen“ Kaffee zu bestellen. Am Ende lernt Niko in einem Café einen alten Mann kennen, der ihm sein Leid mit der neuen Zeit klagt. Die beiden verstehen sich gut, doch als der alte Mann das Café verlässt, trifft ihn der Schlag. Niko folgt ihm ins Krankenhaus. Aber da er kein Verwandter ist, erfährt er nicht einmal den Namen des gerade Verstorbenen.

Der Film ist gerade aufgrund seiner ruhigen Erzählweise interessant. Zeitweise vergisst man die Handlung über den schönen Bildern und der stimmungsvollen Musik. „Oh Boy“ ist ein Gegenentwurf zu den Erfordernissen unserer hektischen, erfolgsorientierten Zeit. Niko träumt von einem neuen Anfang in einer großen Stadt, in der niemand ihn kennt. Als Französin würde ich diesen  mit sechs „Lolas“ prämierten Film mehr empfehlen als „Lola rennt“. Selbst wenn Tykwers rasanter Kinoerfolg gut gemacht ist, hat er nicht die Tiefe von Gersters Film. Hat ein Erwachsener das Recht, ein Leben als Träumer zu führen? Sollte er nicht besser einen Job finden als vom Vermögen des Vaters zu leben? Während man mit „Lola rennt“ einfach eine gute Zeit hat, lädt „Oh Boy“ dazu ein, sich wie der Protagonist mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen.

Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Besprochen von Hans W. Giessen

  • Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 425 S., EUR 74,90.

Dass ich das Thema des Buches wichtig finde, wird bereits daran sichtbar, dass ich für besprochen@avinus bereits Texte zu Robert D. Putnam und zum Buch von Youssef Courbage und Emmanuel Todd geschrieben habe, die ähnliche Fragestellungen betreffen. Der Band von Courbage und Todd mit dem französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist eine direkte Reaktion auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996. Auch Christoph Antweiler beschäftigt sich mit diesen Fragen, und bis zu einem gewissen Grad ist auch sein Buch ein Rejoinder Huntingtons.

Dabei geht es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich mitunter mit Unverständnis gegenüberstehen, manchmal antagonistisch, und es sogar kulturell motivierte Terrorakte und Kriege gibt. Es geht darum, dass man Kulturen nicht auf ihre Gegensätze reduzieren kann. Denn es gibt auch zahlreiche anthropologische Konstanten beziehungsweise „Universalien“. Sie sind in der Realität immer wieder Brücken zwischen den Kulturen. Zudem wandeln sich Kulturen: Vom Wikinger zum heutigen Skandinavier war es ein weiter Weg, der offenbar innerhalb einer „Kultur“ zurückgelegt wurde. Es ist also falsch, Kulturen als unwandelbar und einander unverständlich darzustellen. Mehr noch: Es kann sogar gefährlich sein, denn das hieße ja, es wäre bestenfalls ein Nebeneinander möglich, schlimmstenfalls wären Krieg und Terror die einzigen Möglichkeiten des Kontakts, keineswegs aber wäre ein friedliches Miteinander auf der Erde denkbar.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade Ethnologen nur auf die Differenzen der verschiedenen Kulturen abstellen. Dafür gibt es viele prominente Beispiele, von Franz Boas bis Clifford Geertz. Gewiss, sie verstehen sich als empirische Wissenschaftler, und hier fällt eher das Unterschiedliche auf – das man sogar messen kann, wie es Geert Hofstede gemacht hat. Seine Ergebnisse sind das statistische Resultat von rund 100.000 Fragebögen. Diese Ergebnisse ermöglichen in der Tat ein besseres Verständnis kulturabhängigen Verhaltens.

Allerdings spielt menschliches Verhalten sich auf mehreren Ebenen ab, wie nicht zuletzt Hofstede selbst bestätigt. Jedes Individuum ist einzigartig und verhält sich in spezifischen Situationen so wie kein anderer Mensch sich verhalten würde. Dann gibt es in der Tat die Ebene der Kultur. Vergleichbar wichtige (und messbare) Ebenen sind aber auch soziale Stellung oder der weltanschauliche Kontext. Ich kann mich oft besser mit einem türkischen Universitätsangehörigen unterhalten (mit dem ich, trotz unterschiedlicher Kultur und Sprache, doch einiges an Erfahrung gemeinsam habe) als Mitgliedern des eigenen Kulturkreises, die aus einem ganz anderen Milieu stammen.

Schließlich gibt es eine weitere Ebene – ebenfalls von Hofstede bestätigt –  die von vielen Ethnologen aber offenbar ignoriert wird: diejenige anthropologischer Konstanten, das, „was allen Menschen gemein ist“, die „Universalien“, wie Christoph Antweiler sie nennt. „Was ist den Menschen gemeinsam?“ lautet der Titel seines Buches.

Christoph Antweiler wurde 1956 im Rheinland geboren, studierte in Köln Ethnologie, Paläontologe und Geologe und promovierte in Ethnologie. Seine Feldforschung hat er auf der indonesischen Insel Sulawesi durchgeführt; die dabei entstandene Studie arbeitete er zu seiner Kölner Habilitation aus. Zunächst hatte er den Ethnologie-Lehrstuhl an der Universität Trier inne, heute ist er an der Universität Bonn tätig. Inzwischen hat er sich zu einer der prominentesten Stimmen in Deutschland entwickelt, die nach Gemeinsamkeiten menschlichen Verhaltens trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen sucht.

Antweiler wehrt sich dagegen, dass „kulturelle Differenz gegenwärtig die globale Leitwährung des Denkens über Kultur“ ist und dass von einem „wieder erstarkten Denken von Kulturen als Kugeln, Monaden oder Containern“ geredet wird. Auch wenn diese Aussage ein wenig zu verallgemeinernd ist – in der Tendenz hat er bedauerlicherweise recht. Dennoch kippt Antweiler nicht ins andere Extrem. In der Einleitung macht der Autor deutlich, um was es ihm geht:

Autoren werden von Journalisten oft gebeten, ihr Buch in einem Satz zusammenzufassen. Angesichts dieses umfangreichen Buches gönne ich mir für diese Kurzformel drei Sätze: Es existiert eine enorme Vielzahl zwischen und innerhalb der Kulturen der Menschen, aber es gibt dennoch viele Phänomene, die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen. Diese Universalien sind teilweise in der Biologie des Menschen begründet, teils haben sie aber auch andere, soziale, kulturelle und systemische Ursachen. Wir brauchen Kenntnisse über Universalien für eine empirisch fundierte Humanwissenschaft und dieses Wissen ist auch praktisch relevant für realistische Lösungen menschlichen Zusammenlebens.

Antweiler will also die „Universalienforschung rehabilitieren“, indem er Universalität und Vielfalt zusammenbringt, „statt sie gegeneinander auszuspielen“, wobei sein Schwerpunkt bei den von den meisten Fachkollegen vernachlässigten Universalien liegt.

Der Einführung folgt ein historischer Überblick über das „Denken über Universalien“. Dabei überschreitet Antweiler wiederholt die Grenzen des Faches Ethnologie – sein Buch ist im besten Sinn interdisziplinär. Es behandelt entgegen der heutigen eindimensional ethnologischen Sicht „uralte Fragen zu Menschen und Kulturen“. Antweilers Spektrum reicht von der philosophischen Anthropologie (die nach dem „Wesen des Menschen“ fragt) bis hin zu Hofstedes ökonomischen Blick, dazwischen finden sich soziologische oder psychologische Ansätze. Auf dieser Grundlage gelingt es Christoph Antweiler, eine profunde Basis menschlicher Universalien zusammenstellen. Neben der sozialwissenschaftlichen und kulturellen Vorgehensweise richtet sich seine Aufmerksamkeit außerdem auf die „evolutionäre Erklärung“ (evolutionary explanation) als „dritte grundlegende Möglichkeit, Universalien zu erklären“. Ein Glossar, eine umfassende Bibliographie, ein Register mit Stichworten und Autorennamen sowie ein Anhang mit neun Universalienlisten runden das Werk ab.

 

Kleine Wunder in Athen

Besprochen von Laura Erler

  • Kleine Wunder in Athen (Akadimia Platonos), Regie: Fillipos Tsitos, Produktion: Deutschland, Griechenland 2009, Laufzeit: 103 Minuten.

Griechenland noch vor der großen Krise: Stavros‘ (Antonis Kafetzopoulos) Leben als Kioskbesitzer ist ziemlich trostlos. Das Geschäft läuft miserabel, seine einzigen Kunden sind seine ebenso erfolglosen verschrobenen Freunde. Um die Zeit totzuschlagen, sitzen sie täglich untätig vor seinem Geschäft, philosophieren über Rockmusik oder spielen Fußball. Dabei ziehen sie über die unerwünschten ausländischen Arbeiter her. Als albanische Bauarbeiter  ein „Denkmal für interkulturelle Solidarität“ vor ihrer Tür aufstellen wollen, platzt ihnen der Kragen. Solidarität? Albaner sollen billige Arbeitskräfte für die Griechen sein, sonst nichts. Kurzerhand reißen sie das Projekt nieder und beschließen: „Ihr baut auf, wir zerstören“.

Bis eines Tages der albanische Arbeiter Marenglen in Stavros‘ Wohnzimmer sitzt und behauptet, er sei sein Bruder, der bei der Umsiedlung der Familie nach Athen in Albanien zurückgelassen wurde. Die  Mutter bestätigt die Geschichte und glaubt, sich auf einem alten Familienfoto des Fremden zu erkennen. Stavros‘ Welt steht Kopf: seine Mutter spricht plötzlich  Albanisch und stellt seine gesamte Identität infrage. Die rassistische Parole seiner Freunde „Albaner, ihr werdet niemals Griechen sein“, bekommt plötzlich einen faden Beigeschmack. Stavros beginnt darüber nachzudenken, ob nun Herkunft und Sprache oder aber  Sozialisierung für die Identität ausschlaggebend ist. Dabei gerät er unweigerlich mit seinen fremdenfeindlichen Kumpels aneinander.

„Kleine Wunder in Athen“ des Regisseurs Fillipos Tsitos beäugt kritisch und zugleich wunderbar ironisch den alltäglichen Rassismus, der in Griechenland seit Generationen selbstverständlich ist. Der Film ist ein Plädoyer für kulturelle Toleranz – eine Thematik, die allerdings nicht nur in Griechenland eine große Rolle spielt. Der Film versucht nicht, mit reißerischer Hollywoodkomik zu überzeugen. „Kleine Wunder in Athen“ arbeitet  mit ruhigen Bildern, auf die man sich einlassen muss. Der feinsinnige Humor und die Ironie werden von einem Publikum, das noch nie in Griechenland war, vielleicht nicht immer verstanden. Der griechenlandaffine Zuschauer dagegen genießt urkomische Situationen und erkennt die Eigenheiten der Griechen in jedem Moment wieder. Man fühlt mit dem Protagonisten, als der sich inmitten eines albanischen Folkloreabends wiederfindet. Der Hund „Patriot“, der bei Albanern anschlägt, kläfft nun auch Stavros an. Wenn Stavros‘ pflegebedürftige Mutter im Glauben, ihre Söhne vereint zu haben, erstmals nach langer Zeit glücklich ihren Teller leer isst, verstehen wir auch die emotionale Dimension der Einwanderungsproblematik. Die kauzigen Charaktere sind authentisch und sympathisch, obwohl man sich stetig für sie fremdschämt. Die Darsteller überzeugen in ihrer Ambivalenz – als faule Schmarotzer ebenso wie als sich sorgende Freunde.

 

Vom Verschwinden des Qualitätsjournalismus

Besprochen  von Bastian Buchtaleck

  • DONSBACH, W./ RENTSCH, M./ SCHIELICKE, A.M./ DEGEN, S. (Hrsg.): Entzauberung eines Berufs. Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden. UVK, Konstanz 2009. ISBN 978-3-86764-192-0.
vom verschwinden des qualitätsjournalismus                                     © UVK – Verlag

 

Die Ergebnisse des Buchs „Entzauberung eines Berufs“ sind nicht nur alarmierend, sie sind niederschmetternd: „Die Mehrheit der Befragten, darunter gerade auch die Jungen, hält Journalisten für unmoralisch, rücksichtslos, manipulativ, bestechlich und – überraschend im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion als vierte Gewalt – für zu mächtig. Zudem fühlen sie sich nicht sachlich genug informiert.“ Ebenso wird eine Studie zitiert, wonach acht von zehn Zeitungsredakteuren einräumen, dass im redaktionellen Teil der eigenen Zeitung auf die Interessen von Inserenten Rücksicht genommen wird.

Das alles klingt wahrlich ernüchternd. Doch worin bestand der Zauber des Berufs Journalist ursprünglich? Walter Donsbach und seine Co-Autoren schreiben, „Recherchetiefe, Neutralität und Fairness“ seien zentrale Merkmale des Journalismus gewesen. Lange Zeit war Journalismus eine Instanz, die die Wahrheit über finanzielle und persönliche Interessen gestellt hat und darum eine Kontrollfunktion auf Wirtschaft und Politik ausübte. Gleichzeitig brachten Journalisten das Neueste vom Tage in die Haushalte.

Journalismus in Deutschland – kein Vertrauen und wenig Glaubwürdigkeit

Die Ergebnisse der Studien rechnen deutlich mit dieser offensichtlich nicht mehr aktuellen Einschätzung ab. Gefragt wurden deutschlandweit 1054 Personen ab 18 Jahre. Ihr Bild vom derzeit praktizierten Journalismus ist düster. Weniger als Journalisten vertrauen die Deutschen nur noch Managern und Politikern.

Für die Erosion der Glaubwürdigkeit des Berufsstandes machen die Autoren mehrere Gründe aus. Allen voran den wachsenden Online-Markt, der andere Anforderungen an die Journalisten stellt als die klassischen Printausgaben. Seit im Internet fast alle Informationen und Nachrichten sekundenschnell verfügbar sind und ebenso schnell übernommen werden können, ist es schwierig, mit exklusiven Nachrichten und hoher Geschwindigkeit positiv herauszustechen. Es gibt immer mehr Anbieter, die dieselben Inhalte im Überfluss anbieten.

Mehr Anbieter bedeuten gleichzeitig weniger Auflage oder Klicks pro Angebot. Um trotzdem ein möglichst großes Stück des verbleibenden Kuchens zu erhalten, passen die Redaktionen ihre Inhalte an die Nachfrage an. Sie ändern sich in Richtung Personalisierung (People), Emotionalisierung (Klatsch) und Skandalisierung – kurz: das was man unter Boulevard versteht.

Soft News verdrängen die klassischen Hard News

Diese neuen Themen werden als Soft News bezeichnet. Sie unterscheiden sich von den Hard News dadurch, dass sie mehr auf Gerüchte und Spekulationen setzen als auf Fakten. Obwohl der Studie nach die meisten Zeitungsleser Soft News ablehnen, sind jene Zeitungen und Webseiten, die in erster Linie mit Soft News arbeiten, stärker nachgefragt als seriöse Angebote. Der Verdacht liegt nahe: auf die „Entzauberung eines Berufs“ folgt auch die Entzauberung des Lesers. Offensichtlich bevorzugen Leser in Umfragen andere Inhalte als sie sie schließlich am Kiosk oder im Internet nachfragen. Anspruch und Wirklichkeit gehen nicht nur bei den Journalisten auseinander.

Den Leser zu journalistischer Qualitätsarbeit nötigen

Vor diesem Hintergrund scheint es sogar möglich, dass der klassische Journalismus gerade darum gut gewesen ist, weil er seine Monopolstellung ausgenutzt und nicht auf die Bedürfnisse seiner Leser geachtet hat. Es gab ihn nur als Gesamtpaket und alternativlos in Form einer Tageszeitung. Wer Vermischtes lesen wollte oder Sport, musste immer erst an Wirtschaft und Politik vorbei. Der Leser wurde also ein Stück weit zum Qualitätsjournalismus genötigt. Man konnte es sich leisten, der Leser war auf die Zeitung oder Zeitschrift als Informationsquelle angewiesen. Journalismus hat sich lange auf einem künstlichen Plateau befunden. Nun wandelt sich der Journalismus, weg von einem Vollangebot und hin zu einem an der Nachfrage orientierten Journalismus.

Insgesamt liegt der Titel „Entzauberung eines Berufs“ vollkommen richtig. Früher war der Beruf des Journalisten irgendwie magisch. Er war der weiße Ritter gegen Korruption und Lüge. Doch die Zeiten haben sich geändert. Mit dem Internet sind Nachrichten Massenware geworden und wahrscheinlich ist es so, dass der Journalismus erst jetzt sein wahres Publikum findet. Das Buch zeigt dies gut auf, auch wenn der Anteil, den der Lesers daran hat, nicht genügend gewürdigt wird. Guter, ausführlicher, intensiv recherchierter Journalismus ist teuer, und die Gesellschaft muss entscheiden, wie viel ihr Qualitätsjournalismus wert ist.

 

„Freie Journalisten in Deutschland“-Verdünntes Weihwasser

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • MEYEN, Michael/ SPRINGER, Nina/ in Kooperation mit dem DFJV: Freie Journalisten in Deutschland. UVK, Konstanz 2009. ISBN: 978-3867641562.

freie journalisten ein deutschland- verdünntes weihwasser

                                       © UVK – Verlag

 

Bereits 2006 stellte der ehemalige Chef des Deutschen Journalistenverbandes Siegfried Weischenberg fest, dass „die Professionalität und die Identität des Journalismus bedroht“ seien. Er bezeichnete den Traumberuf vieler junger Menschen als ‚Weihwasser‘, das die Kommunikationsverhältnisse der Gesellschaft durchaus reinige, sieht es jedoch als schon reichlich verdünnt an. Nun haben Michael Meyen und Nina Springer in Kooperation mit dem Deutschen Fachjournalisten-Verband auf 180 Seiten einen umfassenden Report zusammengetragen. Er basiert auf einer vom Institut für Kommunikations­wissenschaft und Medienforschung der Universität München konzipierten Online­befragung von mehr als 1500 Journalisten und 82 Interviews. Um mehr über die berufliche Situation freier Journalisten in Deutschland zu erfahren, wurden die Teilnehmenden zu den Themen Werdegang, Arbeitsalltag und zu ihrem Selbstverständnis befragt.

Freie Journalisten seien in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, so die Autoren. Zum einen würden die Inhalte verschiedener Medien verstärkt von Freien produziert, während die fest angestellten Redakteure rein administrativ tätig seien. Zum anderen seien freie Journalisten ökonomisch attraktiv für Unternehmen, da sie häufig geringer entlohnt würden und nicht vertraglich gebunden seien. Sie stellten also zum inhaltlichen auch einen großen wirtschaftlichen Faktor dar. „Freie Journalisten benötigen im Unterschied zu Redakteuren eine doppelte Kompetenz: sie müssen nicht nur journalistisch arbeiten können, sondern auch Unternehmergeist besitzen“, stellen die Autoren fest.

Der Report entwirft ein deutliches Bild der Aufgaben, Chancen, Probleme und Möglichkeiten freier Journalisten. Auch nach dem beruflichen Status selbst und den Einkommensverhältnissen wird gefragt. Dem Selbstverständnis ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Letzteres sei geprägt vom „Ideal des neutralen Vermittlers“. Hierzu wurde eine „Selbstverständnis-Typologie“ erstellt, deren Unterteilung in Journalismus-Typen wie dem ‚Politiker‘, dem ‚Dienstleister‘, dem ‚Selbstverwirklicher‘ und weiteren sehr schlüssig scheint. Im letzten Kapitel wird zusätzlich eine ‚Typologie der freien Journalisten‘ entwickelt. Hierbei unterscheiden die Autoren zum Beispiel zwischen den ‚Redakteuren‘, den ‚Unternehmern‘ und den ‚Künstlern‘. Beide aufgestellte Typologien sind klug gewählt und begründet.

Meyen und Springer zeigen auch deutlich die Probleme auf, mit denen freie Journalisten umgehen müssen und die eine Bedrohung des ‚Weihwassers-Journalismus‘ darstellten. Selbständigkeit sei zwar die Freiheit, den Tag selbst einteilen zu können, zugleich ließen sich aber oftmals Geschäftliches und Privates nicht trennen. Außerdem klagten einige der befragten Journalisten, sie müssten aus Angst, in Zukunft nicht wieder berücksichtigt zu werden oder auch aus finanziellen Gründen jeden Auftrag annehmen. Der Report zeigt, dass die Freien – gemessen an der meist hochwertigen Ausbildung –  relativ schlecht bezahlt werden und darüber hinaus stark von den Redaktionen abhängig sind. Durch diese doppelte Unsicherheit können Freiberufler nur schwer ein missionarisches Statement oder eine eigene Politik entwickeln. Mehr noch: Freie Journalisten sind dazu gezwungen, andere Jobs anzunehmen. Die PR als verwandte Branche ist da für viele eine verlockende Alternative. Dort wird geregelter und besser bezahlt und außerdem bietet sie Raum für eigenes kreatives Schreiben – das ‚Weihwasser‘ allerdings verdünnt sich auf diese Weise.

Insgesamt ist der Report „Freie Journalisten in Deutschland“ keine Anleitung für die Praxis – der freie Journalist kann wenig mehr daraus lernen, als dass er mit seinen Problemen nicht alleine ist. Aber die Arbeit erhellt in einer verständlichen Sprache die ‚Blackbox‘ des freien Journalismus. Sie kann dabei Faktoren identifizieren, die ein besseres Einkommen ermöglichen, und die allgemeinen Bedingungen des Berufsstands deutlich darlegen. Gleichzeitig stellt der Report fest, dass Freiberuflichkeit mit Unsicherheiten und geringem Einkommen verbunden ist: Der Gehalt des ‚Weihwassers‘ nimmt mit dem Gehalt der Journalisten ab. Es mag also zwar dünner geworden sein, aber es ist – das zeigt „Freie Journalisten in Deutschland“ auch – immer noch gehaltvoll genug.