Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Besprochen von Hans W. Giessen

  • Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 425 S., EUR 74,90.

Dass ich das Thema des Buches wichtig finde, wird bereits daran sichtbar, dass ich für besprochen@avinus bereits Texte zu Robert D. Putnam und zum Buch von Youssef Courbage und Emmanuel Todd geschrieben habe, die ähnliche Fragestellungen betreffen. Der Band von Courbage und Todd mit dem französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist eine direkte Reaktion auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996. Auch Christoph Antweiler beschäftigt sich mit diesen Fragen, und bis zu einem gewissen Grad ist auch sein Buch ein Rejoinder Huntingtons.

Dabei geht es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich mitunter mit Unverständnis gegenüberstehen, manchmal antagonistisch, und es sogar kulturell motivierte Terrorakte und Kriege gibt. Es geht darum, dass man Kulturen nicht auf ihre Gegensätze reduzieren kann. Denn es gibt auch zahlreiche anthropologische Konstanten beziehungsweise „Universalien“. Sie sind in der Realität immer wieder Brücken zwischen den Kulturen. Zudem wandeln sich Kulturen: Vom Wikinger zum heutigen Skandinavier war es ein weiter Weg, der offenbar innerhalb einer „Kultur“ zurückgelegt wurde. Es ist also falsch, Kulturen als unwandelbar und einander unverständlich darzustellen. Mehr noch: Es kann sogar gefährlich sein, denn das hieße ja, es wäre bestenfalls ein Nebeneinander möglich, schlimmstenfalls wären Krieg und Terror die einzigen Möglichkeiten des Kontakts, keineswegs aber wäre ein friedliches Miteinander auf der Erde denkbar.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade Ethnologen nur auf die Differenzen der verschiedenen Kulturen abstellen. Dafür gibt es viele prominente Beispiele, von Franz Boas bis Clifford Geertz. Gewiss, sie verstehen sich als empirische Wissenschaftler, und hier fällt eher das Unterschiedliche auf – das man sogar messen kann, wie es Geert Hofstede gemacht hat. Seine Ergebnisse sind das statistische Resultat von rund 100.000 Fragebögen. Diese Ergebnisse ermöglichen in der Tat ein besseres Verständnis kulturabhängigen Verhaltens.

Allerdings spielt menschliches Verhalten sich auf mehreren Ebenen ab, wie nicht zuletzt Hofstede selbst bestätigt. Jedes Individuum ist einzigartig und verhält sich in spezifischen Situationen so wie kein anderer Mensch sich verhalten würde. Dann gibt es in der Tat die Ebene der Kultur. Vergleichbar wichtige (und messbare) Ebenen sind aber auch soziale Stellung oder der weltanschauliche Kontext. Ich kann mich oft besser mit einem türkischen Universitätsangehörigen unterhalten (mit dem ich, trotz unterschiedlicher Kultur und Sprache, doch einiges an Erfahrung gemeinsam habe) als Mitgliedern des eigenen Kulturkreises, die aus einem ganz anderen Milieu stammen.

Schließlich gibt es eine weitere Ebene – ebenfalls von Hofstede bestätigt –  die von vielen Ethnologen aber offenbar ignoriert wird: diejenige anthropologischer Konstanten, das, „was allen Menschen gemein ist“, die „Universalien“, wie Christoph Antweiler sie nennt. „Was ist den Menschen gemeinsam?“ lautet der Titel seines Buches.

Christoph Antweiler wurde 1956 im Rheinland geboren, studierte in Köln Ethnologie, Paläontologe und Geologe und promovierte in Ethnologie. Seine Feldforschung hat er auf der indonesischen Insel Sulawesi durchgeführt; die dabei entstandene Studie arbeitete er zu seiner Kölner Habilitation aus. Zunächst hatte er den Ethnologie-Lehrstuhl an der Universität Trier inne, heute ist er an der Universität Bonn tätig. Inzwischen hat er sich zu einer der prominentesten Stimmen in Deutschland entwickelt, die nach Gemeinsamkeiten menschlichen Verhaltens trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen sucht.

Antweiler wehrt sich dagegen, dass „kulturelle Differenz gegenwärtig die globale Leitwährung des Denkens über Kultur“ ist und dass von einem „wieder erstarkten Denken von Kulturen als Kugeln, Monaden oder Containern“ geredet wird. Auch wenn diese Aussage ein wenig zu verallgemeinernd ist – in der Tendenz hat er bedauerlicherweise recht. Dennoch kippt Antweiler nicht ins andere Extrem. In der Einleitung macht der Autor deutlich, um was es ihm geht:

Autoren werden von Journalisten oft gebeten, ihr Buch in einem Satz zusammenzufassen. Angesichts dieses umfangreichen Buches gönne ich mir für diese Kurzformel drei Sätze: Es existiert eine enorme Vielzahl zwischen und innerhalb der Kulturen der Menschen, aber es gibt dennoch viele Phänomene, die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen. Diese Universalien sind teilweise in der Biologie des Menschen begründet, teils haben sie aber auch andere, soziale, kulturelle und systemische Ursachen. Wir brauchen Kenntnisse über Universalien für eine empirisch fundierte Humanwissenschaft und dieses Wissen ist auch praktisch relevant für realistische Lösungen menschlichen Zusammenlebens.

Antweiler will also die „Universalienforschung rehabilitieren“, indem er Universalität und Vielfalt zusammenbringt, „statt sie gegeneinander auszuspielen“, wobei sein Schwerpunkt bei den von den meisten Fachkollegen vernachlässigten Universalien liegt.

Der Einführung folgt ein historischer Überblick über das „Denken über Universalien“. Dabei überschreitet Antweiler wiederholt die Grenzen des Faches Ethnologie – sein Buch ist im besten Sinn interdisziplinär. Es behandelt entgegen der heutigen eindimensional ethnologischen Sicht „uralte Fragen zu Menschen und Kulturen“. Antweilers Spektrum reicht von der philosophischen Anthropologie (die nach dem „Wesen des Menschen“ fragt) bis hin zu Hofstedes ökonomischen Blick, dazwischen finden sich soziologische oder psychologische Ansätze. Auf dieser Grundlage gelingt es Christoph Antweiler, eine profunde Basis menschlicher Universalien zusammenstellen. Neben der sozialwissenschaftlichen und kulturellen Vorgehensweise richtet sich seine Aufmerksamkeit außerdem auf die „evolutionäre Erklärung“ (evolutionary explanation) als „dritte grundlegende Möglichkeit, Universalien zu erklären“. Ein Glossar, eine umfassende Bibliographie, ein Register mit Stichworten und Autorennamen sowie ein Anhang mit neun Universalienlisten runden das Werk ab.

 

Carl Sagan trifft Umberto Eco

Besprochen von Hans W. Giessen

  • FLYNN, Michael F.: Eifelheim. Tor, New York 2006. Reprint 2009. ISBN
    978-0765340351.

Das Buch „Eifelheim“ hat einen deutsch klingenden Titel, obgleich es ein amerikanisches Buch ist, von einem amerikanischen Autor, in einem amerikanischen Verlag erschienen. Aber der Titel trügt nicht: „Eifelheim“ ist der Name eines „deutschen“ Dorfes, genauer: eines Schwarzwalddorfes zur Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit (also, wenn wir streng sind, zu einer Zeit, als es „Deutschland“ noch nicht gab).

Tatsächlich handelt es sich um zwei Parallelgeschichten, die sich einerseits im titelgebenden Ort „Eifelheim“ des 14. Jahrhunderts und zum anderen in der (in einer nahen Zukunft angesiedelten) Gegenwart eines Akademikerpärchens an einer US-amerikanischen Universität entwickeln. Verbunden werden die beiden Geschichten in der Person des Historikers Tom Schwoerin. Er versucht, herauszufinden, wieso der Ort im Jahr 1349 nach einer Pestepidemie aufgegeben und dann nie wieder besiedelt wurde, obgleich es sich von der Lage her angeboten hätte. Alle geographischen und ökonomischen Daten sprechen dafür, dass hier eine Siedlung stehen müsste. Es muss also etwas Dramatisches passiert sein, dass es dazu nicht gekommen ist – aber was? Dies erläutert der Teil der Handlung, der in „Eifelheim“ selbst angesiedelt ist. Wobei die Handlung selbst schnell erzählt ist – es handelt sich gerade nicht um eine mäandernde, aber vorwärtstreibende ,Handlung’ im Sinn anderer historischer Romane à la „Wanderhure“, die auf eine anderes Publikum zielen, das Sex und Krimieffekte im historischen Ambiente sucht. „Eifelheim“ beschreibt Sozialstrukturen, Verhaltensschemata, philosophische und weltanschauliche Konzepte, dazu kommen wissenschaftliche Konzepte insbesondere aus der Quantenphysik – aber weniger vorwärtstreibende Handlung im Sinn zahlreicher äußerer Ereignisse. Von daher können die Ereignisse des Buches hier bedenkenlos erzählt werden, da die Spannung andere Quellen hat. Immerhin beginnt die Geschichte buchstäblich mit einem Donnerschlag: Ein Raumschiff stürzt in einen nahegelegenen Wald. Offenbar handelt es sich um eine Bruchlandung, die Passagiere sind auf der Erde gestrandet, müssen ihr Raumschiff reparieren. Der Dorfpfarrer entdeckt eine Art Haus, das plötzlich im Wald aufgetaucht ist. In der Folge liegt der Schwerpunkt dann aber nicht mehr auf schnellen Handlungseffekten. Vielmehr geht es um den sich langsam anbahnenden Kontakten zwischen den Außerirdischen, insektenartig aussehenden Wesen, die von den Menschen, die ihre Sprache und Art des Kommunizierens nicht verstehen, „Krenken“ genannt werden.

Das Buch wirbt, meiner Meinung nach völlig gerechtfertigt, mit einem Zitat aus einer Rezension des “Entertainment Weekly“: “Carl Sagan meets Umberto Eco“. Wobei der Hinweis auf den Astrophysiker Sagan eher auf seinen Roman “Contact“ aus dem Jahr 1995 abzielt als auf seine wissenschaftlichen Bücher (von denen in Deutschland sicherlich und zumindest noch “Cosmos“ aus dem Jahr 1980 bekannt sein dürfte), und der Hinweis auf Eco ebenfalls nicht vorrangig den Semiotiker meint, sondern wohl eine Referenz auf seinen berühmtesten Roman „Il nome della rosa“, ebenfalls aus dem Jahr 1980, darstellt, der in der selben Zeit wie „Eifelheim“ spielt (korrekterweise: zwanzig Jahre früher, 1327). Also ein Buch, das literarische Kategorien überschreitet, natürlich historischer Roman, gleichzeitig Science-Fiction, ebenso aber auch philosophischer Dialog…

Die Außerirdischen sind im Wortsinn Fremde, im Denken, Handeln, im Anblick. Sie sind auf den ersten Blick ausgesprochen unsympathisch: nicht nur, dass sie bizarr aussehen, wie übergroße, graufarbene Heuschrecken. Sie sind auch cholerisch, neigen zu Gewaltausbrüchen, sind eingebunden in eine strenge Hierarchie, dort äußerst statusorientiert. Insektenmäßig ist also nicht nur ihr Aussehen: Ihre Instinkte sind durch ihre Jugend geprägt, die sie in einem bienenartigen Schwarm erleben. Aber die Krenken werden, ihrer Sozialstruktur zum Trotz, dennoch auch als Individuen gezeichnet. Manche werden geradezu sympathisch, andere bleiben unangenehm. In der Tat ist ein Reiz des Buches, dass und wie sehr es sie sich als individuelle, realistisch anmutende ,Personen’ entwickeln lässt.

Was ich besonders faszinierend finde, ist, dass es eher die Außerirdischen sind, die sich den Menschen zuwenden, als umgekehrt. Unter den Dorfbewohner gibt es nur wenige, die neugierig sind, wieso die Krenken hierhergekommen sind, wie es in der Hölle (oder wo auch immer diese Wesen herstammen) aussieht, geschweige denn, wer sie wirklich sind. Offensichtlich ist die Gegenwart, sind die eigenen Ängste zu dominant – oder ist die menschliche Natur so? Aber auch hier zeichnet Michael F. Flynn ein differenziertes Bild. Einige Dorfbewohner suchen den Kontakt. Zunächst fühlt sich der Dorfpfarrer durch ihre Ankunft herausgefordert und versucht, herauszufinden, was dies für das Dorf bedeutet.

Pfarrer Dietrich ist eine faszinierende Figur. Er hat in Paris bei den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit studiert, bei Jean Buridan, seinerseits Schüler Wilhelm von Ockhams (der im Buch auch einen Gastauftritt hat). Offenbar hatte er dann aus theologischen ebenso wie sozialen Gründen einen Bauernaufstand unterstützt – er hat also konkrete Schlüsse aus Ockhams Philosophie gezogen. Natürlich hat er sich dabei mächtige Gegner gemacht; sein Leben scheint bedroht gewesen zu sein. So wird erklärt, warum dieser gebildete und hochintelligente Mann fast versteckt in einem abgelegenen Schwarzwalddorf lebt. Dietrich hat also seine Wunden. Emotional ist er deshalb vorsichtig, lässt sich nicht direkt auf seine Mitmenschen ein, wirkt eher ,verkopft’ – auch er ist eine zwiespältige Figur, nur begrenzt sympathisch. Aber er ist nicht tumb und lehnt Fremdes einfach deshalb ab, weil es fremd und anders ist. Dennoch bleibt er in seiner Zeit verwurzelt. Flynn beschreibt keinen ,Gegenwartmenschen’, der halt in einer anderen Epoche lebt. Nein, Dietrich ist durchdrungen von der Theologie seiner Zeit. Und er hat große Schwierigkeiten, die Krenken, ihre Technologie und Sozialstruktur zu verstehen, beziehungsweise in Begriffe und Konzepte zu übersetzen, mit denen er umgehen kann. Aber die Ockhamsche Theologie (oder seine Persönlichkeit) veranlassen ihn doch, auf die Krenken zuzugehen und ihnen zu helfen. Die Kommunikation erfolgt über einen Übersetzungscomputer, den die Außerirdischen besitzen. Dennoch bleibt sie schwierig. Da das Vokabular bei Krenken und Menschen semantisch höchst unterschiedlich besetzt ist, entstehen faszinierende Diskussionen. Um zu erklären, wie Weltraumflüge funktionieren, erklären die Krenken quantenphysikalische Phänomene. Dietrich kann dies natürlich nicht verstehen – aber: er versteht dennoch, denn er fügt die Informationen der Außerirdischen in sein theologisches Konzept ein. So gehen die Diskussionen (die wir Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus beiden Perspektiven zumindest abstrakt nachvollziehen können) oft haarscharf aneinander vorbei – und ergeben doch auf merkwürdige, äußerst faszinierende Art einen neuen ,Sinn’. Und es funktioniert auch umgekehrt: Theologische Aussagen Dietrichs werden von den Krenken als Anmerkungen zu (oder Umschreibungen von) quantenphysikalischen oder astronomischen, aber auch sozialen Prozessen interpretiert. Wenn beispielsweise Jesus der bald zurückerwartete – es herrscht ja Endzeitstimmung – “Lord of the stars“ ist: Bedeutet dies, dass er ein Raumfahrer ist, der die Krenken aufgrund seiner Erfahrungen und seines Wissens aus ihrer Situation erlösen kann?

Auch das hat mir gut gefallen: Der Konflikt zwischen figurativer und konkreter Sprache ist ein wichtiges Subthema des Buches. Die Außerirdischen haben keine ,Antenne’ für Metaphern – die aber die christliche Theologie dominieren. Dies erweist sich als noch einschneidender als die unterschiedlichen Kenntnisse über die Naturgesetze, über die Welt, über Welterklärungskonzepte. Sprachliche Kommunikation und die dadurch entstehenden Missverständnisse und dann doch wieder aufflackernden Momente des Einvernehmens sind auf jeden Fall der entscheidende Knackpunkt im Verhältnis zwischen Dietrich und den Außerirdischen. Allein die Art, wie Flynn den Umgang, die Kommunikation zwischen Menschen und Krenken konzipiert hat, ist faszinierend, die theologischen Diskurse des Buchs sind mitunter atemberaubend.

Die Gegensätze zwischen Krenken und spätmittelalterlichen Dorfbewohnern sind im Übrigen fast genauso groß wie zwischen dem Pfarrer und Teilen seiner Gemeinde. Dietrich wird von Bruder Joachim von Herbolzheim unterstützt, der Franziskaner ist. Joachim kann mit der eher vernunftbetonten Theologie Dietrichs nichts anfangen: Seine Religiosität ist ausschließlich emotional begründet. Er sieht in den Krenken sofort Dämonen. Dies meint auch die Mehrheit der Dorfbewohner. Man kann es ihr nicht verübeln, der Augenschein scheint ihnen Recht zu geben: Die Fremden können fliegen, auch wenn sie keine Flügel haben. Und so entwickelt sich als erste Frage, was denn die eigentliche Herausforderung sei: Muss man die Fremden eliminieren oder bekehren? Pfarrer Dietrich will die Krenken bekehren. Dazu muss zunächst die theologische Frage geklärt werden, ob Außerirdische überhaupt Christen sind oder werden können. Schließlich gelingt es ihm, sich mit einigen der Krenken anzufreunden und sie zu überzeugen. Dem ersten Täufling gibt er den Namen Hans. Damit ist auch – und zumindest – bewiesen: Die Krenken haben eine Seele. Und: Die christliche Botschaft ist so stark, dass ihr Einfluss sogar die ursprüngliche Natur der Krenken überwindet.

Die Außerirdischen haben weitere Integrationserfolge. Bemerkenswerterweise gibt es sogar Parallelen zwischen der hierarchischen Gesellschaftsstruktur der Krenken und der spätmittelalterlichen Feudalordnung. Auch dies erlaubt es den Krenken, sich anzupassen, und der lokale Potentat Manfred von Hochwald kann gar, überraschend problemlos, ein Lehnsverhältnis der Krenken akzeptieren. Er ernennt einen der Außerirdischen, der ihm behilflich ist, gar zum Baron Großwald.

Beeindruckend ist also, wie Flynn die Konsequenzen des Kontakts zwischen Menschen und Krenken gestaltet. Die Menschen ändern sich letztlich kaum, ihre Persönlichkeitsstrukturen bleibt gleich – auch die des in der Geschichte so dominanten Pfarrers Dietrich, der zwar offen und (scheinbar) tolerant auf die Fremden zugeht, aber doch so sehr in seinem Weltbild verhaftet ist, dass er sie zu bekehren versucht und ihn die Vorstellung umgekehrter Anpassung an die Kultur der technologisch weiterentwickelten Wesen undenkbar erscheint. Dagegen erwägen und akzeptieren einige der Krenken in der Tat menschliche Normen und Werte. Sie machen emotional wie intellektuell den größeren ,menschlicheren’ Schritt. Die christliche Bekehrung und Taufe sind dafür nur die (aus menschlicher Sicht) extremsten Gesten. Schließlich wird das Dorf von der Pest erreicht. Der Dorfpfarrer versucht sein Möglichstes, den sterbenden Dorfbewohnern zu helfen. Die Krenken haben ihr Raumschiff repariert und wollen die Erde wieder verlassen. Aber einige bleiben, um der Dorfbevölkerung zu helfen und die Toten zu begraben. Sie sind humaner geworden als die meisten Menschen des Dorfes, sie orientieren sich am Dorfpriester – während sich, natürlich, kein Mensch an ihnen orientiert.

Dies ist besonders faszinierend: Flynn kann glaubhaft darstellen, dass und warum verschiedene Außerirdische, obgleich einer überlegenen Technologie entstammend, lieber in einem pestverseuchten spätmittelalterlichen Schwarzwalddorf bleiben wollen, um dort als Christen (im spätmittelalterlichen Sinn des Wortes) weiterzuleben. Bald sterben aber auch sie. Manche kommen in Kämpfen um, manche erfrieren, aber vor allem leiden sie an der irdischen Nahrung, der eine Aminosäure fehlt, die sie zum Überleben benötigen. Sie besitzen zwar technologische Möglichkeiten, die den menschlichen Erfahrungshorizont übersteigen. Aber ihre Lage ist dennoch so verzweifelt wie die der Dorfbewohner. So diskutieren der Pfarrer und sein außerirdischer Freund Hans philosophische Fragen nach dem Sinn des Lebens und der Ursache von Unheil.

Rund 700 Jahre später ist die Stelle, an der das Dorf existiert hatte, noch immer verwaist. Im ,Gegenwartsteil’ des Buches stößt Tom Schwoerin, der Historiker, der mathematisch-statistische Methoden nutzt, um zu neuen Erkenntnissen über historische Probleme zu gelangen, auf die erstaunliche Tatsache dieser Wüstung. Auch der ,Gegenwartsteil’ ist spannend und faszinierend. Die ,Handlung’ ist Folge des Zusammenlebens des Historikers mit einer theoretischen Physikerin, Sharon Nagy. Beide sind in einer schwierigen Phase ihrer Beziehung, in ihre Arbeit vertieft, vom jeweils anderen genervt. In solchen Situationen bringen sie oft abfällige Bemerkungen des anderen weiter. Einmal schleudert Tom beiläufig Sharon den Vorwurf entgegen, dass die Lichtgeschwindigkeit, Einstein zum Trotz, auch unter identischen Bedingungen nicht gleich sei. Wütend überprüft Sharon den Vorwurf – und muss in der Tat feststellen, dass die Lichtgeschwindigkeit seit Messbeginn (wenngleich nur minimal) langsamer geworden ist. Zunächst vermutet sie, dass einfach die Messmethoden präziser geworden sind. Aber dann bestätigt sich der Vorwurf ihres Lebensgefährten.

Sie erforscht die Rätsel von Raum und Zeit und entwirft ein zwölfdimensionales Universum – und entdeckt dabei exakt die Mechanismen, die die Außerirdischen für ihre Reise genutzt haben. Zunächst aber muss ihr Partner das Rätsel des Dorfes lösen. Infolge mühsamer Recherchen erfährt er, das ,Eifelheim’ zunächst ,Oberhochwald’ hieß und erst nach den Ereignissen von 1348 und 1349, nachdem der Ort also aufgegeben war, als ,Teufelheim’ bezeichnet wurde; daraus entwickelte sich dann ,Eifelheim’. Eine beiläufige Nebengeschichte schildert die Hilfe, die Schwoerin von einer Bibliothekarin erhält, die ihn offenbar als Forscher (und darüber hinaus) anhimmelt. Aber er ist so absorbiert, dass er darauf nicht eingeht. So bleibt er bei Sharon – zum Glück (nicht nur für seine Beziehung), denn die eigentliche Lösung des Rätsels ist Sharon zu verdanken. Beide reisen schließlich nach Freiburg und von dort weiter zur Wüstung Eifelheim, und finden sogar das (christliche) Grab des Krenken Hans – und dort eine Art Plan, der die Theorie von Sharon bestätigt und erklärt, wie die Außerirdischen durchs Weltall reisen konnten. Mithin haben die Forschungsfragen ihres Freundes auch die theoretische Physikerin weitergebracht, ihr sogar zu einem empirischen Beweis ihrer theoretischen Überlegungen verholfen. Michael Flynns Roman ist so präzise durchkomponiert, dass Vergangenheit und Zukunft sowie Geschichte (Geistes-  beziehungsweise Sozialwissenschaft) und Physik (Naturwissenschaft) jeweils exakt den Schlüssel zur Erklärung und Lösung der gegenseitigen Fragestellungen und Probleme bieten. Die Ökonomie des Romans hat zur Folge, dass die jeweiligen Epochen, Ergebnisse, Geschichten und Welterklärungen, so verschieden sie objektiv sind, zueinander passen wie Puzzleteile.

Die Zeit, das Dorf, die Menschen – alles ist sehr glaubwürdig, gerade weil nichts einseitig (perfekt, gut – oder schlecht) ist. Michael F. Flynn geht fair mit dem spätmittelalterlichen Europa um, er hat Respekt – genauso wie mit den Wissen­schaftlern, die er im Gegenwarts-Teil beschreibt. Das spätmittelalterliche Weltverständnis erscheint mitunter so fremd wie dasjenige der im Band beschriebenen Physik oder der Außerirdischen. Aber Flynn macht deutlich: Auch wenn uns die jeweiligen Denkansätze fremd sind, sind sie nicht minderwertig, sondern differenziert und sinnvoll, damals wie „heute“. Sie sind anders, weder besser, noch schlechter. Sie haben Interesse und Verständnis verdient.

Freilich: Damit ist der Roman zu komplex, um es beispielsweise mit einer „Wanderhure“ aufzunehmen. Letztlich ist er auf bizarre Weise gar ein Gegenentwurf zu Ockhams Rasiermesser. Immer wieder werden Erwartungen gebrochen – angefangen von den „menschlichen“ Außerirdischen, über die Tatsache, dass die beiden Wissenschaftler jeweils Fächer repräsentieren, die man gemeinhin eher dem jeweils anderen Geschlecht zutraut (theoretische Physik wird eher als ,männlich’ wahrgenommen, Geschichtestudierende sind überwiegend weiblich…). Selten verbindet ein Buch so viele verschiedene Themen und Forschungsgebiete, von der Anthropologie über die Epidemiologie, die Gesellschaftstheorie, Kosmologie, Quantentheorie, Religionspolitik, Soziologie und Sozialgeschichte, mittelalterliche Theologie bis zur Xenobiologie, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig sind die Grenzen unseres (des?) Wissens ein zentrales Thema. Ist diese Komplexität der Grund, warum der Band bisher nicht in Deutschland erschienen ist? Diese Tatsache ist beschämend, nicht nur, weil die Geschichte in Deutschland spielt. Der Band wurde weltweit aufgenommen und es ist auch zu Übersetzungen in unsere Nachbarsprachen gekommen, ins Französische und ins Polnische, zudem beispielsweise ins Japanische – in Japan hat der Roman sogar einen nicht unbedeutenden Preis erhalten, ebenso wie in den USA, wo er es auf die Shortlist zum Hugo gebracht hat. Nur in Deutschland traut sich offenbar niemand an das Buch heran.

Vielleicht ist auch ein Grund, dass Michael Flynn als Science-Fiction-Autor wahrgenommen wird, und das Genre der Science-Fiction in Deutschland fast nur mit Computerspielen und den von ihrer Ästhetik beeinflussten Hollywood-Baller-Filmen assoziiert wird. Möglicherweise dominiert diese Assoziation so sehr, dass lediglich noch Leser zu Science-Fiction-Romanen greifen, die Nervenkitzel, Thrill suchen. Die Verlage, die Science-Fiction-Literatur verlegen, passen sich diesem Trend an (oder müssen sich ihm anpassen, da sie sonst zu wenig Umsatz erzielen?) – und so erwarten Interessenten ernsthafter, nachdenklicher Science-Fiction gar keine entsprechenden Werke mehr.

Offensichtlich war dies das Schicksal des einzigen Flynn-Bandes, der bisher in Deutschland erschienen ist („Der Fluss der Sterne“, erschienen 2008 bei Heyne in München, im Original 2003 unter dem Titel “The Wreck of the River of Stars“ ebenfalls bei Tor in New York veröffentlicht und von Andreas Brandhorst übersetzt). Auch dies ist ein eher ruhiges, reflektierendes Buch, aber der Verlag glaubte, Werbung für das Buch mit Sätzen wie „das größte aller Abenteuer beginnt […] – ein atemberaubendes Science-Fiction-Erlebnis“ machen zu müssen. Kein Wunder, dass die Leser, die auf der Suche nach Action waren, enttäuscht wurden, und andere Leser den Band gar nicht erst in die Hand nahmen. Kurz und gut, die Erwartungen wurden gegenseitig missachtet. So entstehen sich selbst verstärkende Schleifen: Niemand erwartet mehr seriöse, nachdenkliche Science-Fiction-Geschichten, und wenn dies doch mal vorkommen sollte, bekommen ihre potentiellen Leser dies gar nicht erst mit, weil in den einschlägigen Verlagsprogrammen anders vorherrscht – und die Action-Fans sind enttäuscht und schimpfen über den Verlag, falls sie ,fälschlicherweise’ ein solches Buch erwerben. Haben mithin Bücher wie Eifelheim überhaupt noch eine Chance in Deutschland?

Aber es gibt sie noch: ernsthafte Literatur, die sich großer Themen annimmt und diese atemberaubend und spannend aufbereitet. Wo die Spannung der Durchführung zu verdanken ist und nicht einer vordergründigen Action. ,Eifelheim’ ist ein solcher Roman und hätte eine Chance verdient. Immerhin kann man ihn ja heutzutage über die großen Lieferdienste in der amerikanischen Originalfassung schicken lassen, Gott sei Dank.

 

Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik.

Besprochen von Hans W. Giessen

  • BUCKLAND, Michael: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Aus dem Englischen von Gernot Rieder. Avinus, Berlin 2010. ISBN: 978-3869380155.

(Erstmals erschienen in: Information – Wissenschaft & Praxis 62 Jahrgang Nr. 2/3, März/April 2011, 134 – 135.)

Dass sich die Technik, die gesellschaftliche Entwicklung, das Weltwissen immer schneller ändern, ist ein Gemeinplatz. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Informationswissenschaft vor allem auf die Gegenwart blickt. Dabei ist auch ihre Geschichte überraschend und teilweise ausgesprochen spannend. Ein Beispiel ist die Lebensgeschichte des Emanuel Goldberg (geboren am 31 August 1881 in Moskau, gestorben am 13 September 1970 in Tel Aviv), die in weiten Teilen eine deutsche Lebensgeschichte ist – bis Goldberg in den dreißiger Jahren nach Israel fliehen musste.

Nun war Goldberg kein Informationswissenschaftler im engeren Sinn – sprich: er hat weder Bibliothekswissenschaften noch ein anderes Fach studiert, das als Vorläufer der heutigen Informationswissenschaft gelten kann. Vielmehr war er ausgebildeter Chemiker, zudem Erfinder, Hochschullehrer, Unternehmer, Fotograf und Filmregisseur. Dass seine Biografie dennoch hier gewürdigt wird, hängt damit zusammen, dass auf ihn auch eine Erfindung zurückgeht, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, die aber in der Tat bahnbrechend war: die ,Statistische Maschine’. Sie hat die unterschiedlichsten Wissensbereiche, Techniken und Medien zusammengeführt. Die wichtigsten Medien waren der Mikrofilm, mit dessen Hilfe Dokumente gespeichert wurden, zudem Lochkarten, um Suchanfragen formulieren zu können. Technisch nutzte Goldberg einen ,Kinematographen’; die Dateneingabe erfolgte über ,Telephonie’. Letztlich handelte es sich um ein optisch-elektronisches System, das in einem Bildschirm-Arbeitstisch integriert war, den Goldberg wohl 1931 bereits konstruiert hatte; im zweiten Weltkrieg ist er offenbar durch Bombardierung vernichtet worden. An diesem Arbeitsplatz war es damals schon möglich, Dokumente aufgrund spezifischer Kriterien zu suchen, auszuwählen und abzubilden.

Das klingt nach der fiktiven Memex in Vannevar Bushs berühmten und vielzitierten Essay “As we may think“ aus dem Jahr 1945? In der Tat; und offenbar wusste Bush auch von Goldberg – der mithin der eigentliche ,Erfinder’ dessen ist, wofür Bush in vielen Fußnoten gedankt wird: des Konzepts der Suchmaschine, bis zu einem gewissen Grad auch des Hypertexts. In Wahrheit hatte Bush keinen entsprechenden Apparat in petto, sondern griff nur Ideen dessen auf, was Goldberg 15 Jahre früher realisiert hatte. Aber 1945 war Goldberg in Israel, hatte seine einflussreiche Stellung in Deutschland verloren – wo sich an ihn, den Juden, auch niemand mehr erinnern wollte. Aber auch in Amerika hat ihn nicht zuletzt Bush offenbar bewusst verschwiegen, um den eigenen Stern umso stärker leuchten zu lassen. Erst jetzt hat die neue Biografie von Michael Buckland deutlich gemacht, wer Goldberg tatsächlich war: unter anderem eben auch ein früher Informationsexperte, einer der Begründer der Informationswissenschaft.

Michael Buckland ist emeritierter Professor der School of Information an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Einerseits will er die Geschichte der Informationswissenschaft an durchaus entscheidender Stelle korrigieren. Buckland ist dazu der richtige Mann, mit überlegenem fachlichen Überblick. So wäre allein die Art und Weise, wie er diesen komplexen informationswissenschaftsgeschichtlichen Stoff fachlich wie sprachlich fasst (und etwa technische Erfindungen und Vorgänge anschaulich beschreibt), ein Musterbeispiel souveräner Informationsaufbereitung. Einzige Kritik: Angesichts der Fülle an Namen, technischen Daten und Geräten wäre ein Register wünschenswert gewesen. Immerhin gibt es einen ausführlichen Appendix, in dem Goldbergs Laborerzeugnissen aufgelistet und wohl erstmals eine Gesamtveröffentlichungsliste Goldbergs publiziert wird.

Andererseits ist Buckland von seinem Helden ganz offensichtlich fasziniert, und er taucht tief in diese spannende Verknüpfung von Lebens- und Zeitgeschichte ein. Goldberg stammt aus einer jüdischen Familie, die in Moskau lebte; sein Vater hat es, eine große Ausnahme für einen Juden im zaristischen Russland, zum Offizier, Hofrat und in den Adelsstand gebracht. Bemerkenswert ist, dass der Sohn, obwohl hochintelligent, dennoch nicht an der ,Kaiserlichen Technischen Lehranstalt’ studieren konnte, da die Studienplätze für Juden limitiert waren. Freilich, der junge Mann, der auch Deutsch sprach (angeblich hat ihm seine deutschstämmige Mutter ihre Sprache so beigebracht, dass er akzentfrei redete und als Muttersprachler durchgehen konnte), nutzte dieses Problem virtuos, indem er seine Ausbildung selbst in die Hand nahm. Neben Studien an der Universität Moskau besuchte er Veranstaltungen an den Universitäten in Königsberg, Leipzig und Göttingen, zwischendurch war er auch in London. Er suchte sich die besten Lehrer, in Göttingen etwa Walter Nernst, der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten sollte, und in Leipzig Wilhelm Ostwald, Chemie-Nobelpreisträger von 1909. Das klingt, wie man sich ein Studium vorgestellt haben mag, als der ,Bologna-Prozess’ konzipiert wurde… Bei Wilhelm Ostwald konnte Goldberg 1906 auch promovieren. Die Arbeit trug den Titel „Beiträge zur Kinetik photochemischer Reaktionen“.

Vor diesem Hintergrund ist es fast kein Wunder mehr, dass er bereits ein Jahr später, nach kurzer Assistenzzeit an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, zum Professor an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig ernannt wurde, wo er sich zunächst mit den technischen Voraussetzungen der Reproduktionsfotografie befasste. Aber nicht nur – er war immer offen, forschte weiter, dabei stets anwendungsorientiert. Schon damals befand er sich, als einer der wenigen seiner Zeit, an der ,Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine’, denn immer ging es ihm auch darum, was der Mensch aufgrund seiner physischen und psychischen Konstellation nutzen wollte und konnte. Und obwohl er sich stets als Chemiker und Techniker verstand, war er beispielsweise schon im Studium im Kontakt mit Wilhelm Wundt, der damals gerade die Psychologie als empirische Wissenschaft begründete. Seine Lehrveranstaltungen umfassten auch künstlerische Fragestellungen und Themen.

Goldberg war so innovationsfreudig, erfinderisch und anwendungsorientiert, dass er Angebote aus der Industrie erhielt, insbesondere aus England und den USA, dort von Kodak. Aber er wollte in Deutschland, in seiner ,Heimatstadt Leipzig’ bleiben. Dort wurde 1914 sein Sohn Herbert geboren. Aber auch hier kam bald ein sehr interessantes Angebot, das er dann auch annahm. So wechselte Goldberg 1917 auf den Direktorenposten der „Internationalen Camera Actiengesellschaft“. Er war maßgeblich beteiligt, als die ICA 1926 durch Fusionen in die Zeiss Ikon umgewandelt und zum weltweit führenden Unternehmen im Bereich von Fotoapparaten und Filmkameras ausgebaut wurde. Eine beeindruckende, glückliche Karriere; glücklich wohl auch im Privatleben – 1922 wurde als zweites Kind die Tochter Renate geboren.

Auch bei Zeiss Ikon blieb er überraschend innovativ, kreativ, ja spielerisch. Auf der einen Seite war er an Patenten aus den unterschiedlichsten Bereichen beteiligt, von der Luftfotografie bis zur Mikrofotografie. Vielleicht hätte aus Goldberg gar ein deutscher Edison werden können. Natürlich ist es müßig, zu spekulieren, was er noch hätte entwickeln können, wenn er nicht 1933 ausgebremst worden wäre. Zudem war Goldberg nicht nur Techniker und Erfinder, sondern auch, wie Edison, ein kaufmännisch, und, dahingehend den Vergleich sogar übertrumpfend, ein künstlerisch hochbegabter Mann. Er kümmerte sich um Marketingstrategien und drehte, um zu zeigen, wie gut die Kinamo-Filmkamera funktionierte, selbst kleine Minimovies: „Die Drehbücher hatte er selbst verfasst und auch für die Produktion verzichtete er auf Hilfe von außen. In den Filmen traten er selbst, seine Frau, seine Kinder und einige Freunde der Familie als Schauspieler auf“ (121). Aber die Filme waren offenbar alles andere als amateurhaft, wie Buckland betont: „So lässt sich in ihnen eine sehr fachkundige Komposition, ein gekonnter Schnitt und ein ziemlich raffinierter Einsatz von Gegenlicht und Schatten erkennen“ (125). Der noch junge Joris Ivens, später einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer des zwanzigsten Jahrhunderts, besuchte Goldberg, um von ihm zu lernen. In seinem berühmten frühen Film „Die Brücke“ aus dem Jahr 1928, der als einer der ersten Dokumentarfilme auch die Rolle des Filmemachers thematisierte, indem Ivens sich bei der Arbeit zeigt, ist er mit einer Goldbergschen Kinamo-Kamera zu sehen.

Der Bruch kam bereits 1933, als Emanuel Goldberg von SA-Schergen entführt und misshandelt wurde. Immerhin war er in der Position, sich retten zu können. Bis 1937 arbeitete er für eine Zeiss-Niederlassung in Frankreich, bevor er nach Palästina emigrierte. Auch wenn er weiter kreativ und unternehmerisch blieb – er gründete ein Laboratorium, aus dem später die Electro-Optical Industries hervorging, der Nukleus der optischen Industrie Israels –, war es schwer, an die frühen Erfolge anzuknüpfen. So verlief sein weiteres Leben glimpflich im Vergleich zu dem anderer Juden, und insofern war er nach wie vor ein Glückskind. Aber dennoch: Er wurde aus seinem Lebensumfeld gerissen, seine Karriere war zerstört. Was hätte er noch alles entwickeln können, wäre sie weiter so verlaufen, wie sich dies abgezeichnet hatte!

Dass Bucklands Goldberg-Biografie nun auch in deutscher Sprache erscheint, ist eine kleine Wiedergutmachung und Goldbergs Bedeutung absolut angemessen. Dass sie zudem ausgesprochen lesbar und spannend geschrieben ist, macht aus der Lektüre ein intellektuelles Vergnügen.

 

Rendezvous statt Kampf der Kulturen?

Besprochenvon Hans W. Giessen

  • COURBAGE, Youssef/ TODD, Emmanuel: Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. Piper, München 2008. ISBN 978-3492051316 Pick It!

Der französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist natürlich eine Reaktion auf Samuel Huntingtons vielbeschworenen „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996, dessen vieldiskutierte These besagt, dass die Konfliktlinien auf der Welt entlang kultureller – eigentlich: religiös-ideologischer – Großräume verlaufen. Der 11. September 2001 wurde vielfach als dramatischer Beleg für Huntingtons Szenario empfunden.

Youssef Courbage und Emmanuel Todd leugnen den Einfluss Huntingtons auf die öffentliche Meinung im ,Westen‘ natürlich nicht, und ebensowenig, dass die islamischen Länder einen speziellen Kulturraum darstellen – ansonsten hätten sie ihren Titel anders wählen beziehungsweise ihr Thema anders einkreisen müssen. Natürlich streiten sie auch nicht den ideologisch begründeten Hass vieler junger Muslime auf den Westen ab. Allerdings gehen die Autoren davon aus, dass die Kultur nur eine unter mehreren Variablen ist, die menschliches Verhalten prägt – in ihren Augen ist sie nicht einmal die wichtigste Variable. Soziale und insbesondere demographische Variablen seien letztlich wichtiger. In ihrer Analyse sozialdemographischer Daten finden Courbage und Todd nun Hinweise, die Huntington (zumindest) die Brisanz nehmen: Auch der islamische Kulturkreis werde von den Kräften der modernen Welt erfasst; dies führe auch dort zu mehr Rationalität – die Globalisierung ist stärker als der Kampf der Kulturen.

Youssef Courbage ist gebürtiger Syrer und arbeitet heute als Forschungsdirektor am Institut National d’Études Démographiques in Paris. Emmanuel Todd, Urgroßcousin des Anthropologen Claude Lévy-Strauss, ist am selben Institut tätig. Ihre demographischen Daten sind eindrucksvoll. Zunächst stellen sie eine Wechselwirkung zwischen Bildung und Geburtenraten fest. Sie können zeigen, dass überall, wo Frauen Lesen und Schreiben lernen konnten, die Geburtenzahl rückläufig ist. Analphabetismus nimmt (auch) in der arabischen Welt deutlich ab; gleichzeitig sinken die Geburten pro Frau vom hohen einstelligen Bereich (sechs bis acht, in vielen Fällen über zehn Kinder) auf durchschnittlich rund zwei Kinder. Die Geburtenraten der islamischen Länder nähert sich also rapide denjenigen an, die wir seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus anderen Kulturkreisen kennen: natürlich aus Europa, aber beispielsweise auch aus Ostasien.

Das Buch ist wichtig, weil es strukturelle Variablen aufwertet, die in kulturwissenschaftlichen Diskussionen häufig übersehen werden – Huntington, um ein letztes Mal seinen Namen zu nennen, berücksichtigte eben nur kulturell-religiös-ideologische Parameter und kommt so nach meinem Dafürhalten zu einer Überbewertung scheinbar unüberwindlicher Gegensätze. (Im Übrigen: Courbage und Todd führen die Auseinandersetzung mit Huntington nicht explizit; vielleicht geht der Titel vom „rendez-vous des civilisations“ lediglich auf Marketingüberlegungen des Verlags zurück.).

Dass gerade demographische Variablen von großer Bedeutung sein können, zeigen komparatistische Beobachtungen zum „youth bulge“, wonach ein überproportionaler Anteil von jugendlichen Männern ohne ökonomische oder auch nur karrieremäßige Perspektive in auffälliger Häufigkeit mit Unruhen, Kriegen, Eroberungen, aber auch Bürgerkriegen und chiliastischen Bewegungen korreliert. Das war im Europa der frühen Neuzeit nicht anders als heute in der islamischen Welt. Wenn also die Demographie eine Abschwächung dieses „youth bulge“ andeutet, ist dies vermutlich ebenfalls nicht ohne Konsequenzen. Ich vermute, dass es doch zu simplifizierend ist, daraus eine kulturelle Konvergenzentwicklung abzuleiten – dass dieses Faktum aber ebenfalls kulturell wirksam ist, scheint ebenso einleuchtend. Darauf hingewiesen und es mit eindrucksvollem Zahlenmaterial illustriert zu haben ist das große Verdienst dieses Buches.

Allerdings scheinen mir Autoren in ihrem Bemühen, durch Aufwertung der früher allzu oft vernachlässigten sozialstrukturellen Variablen die globalen Entwicklungen besser zu verstehen, mitunter ins Gegenteil zu verfallen und kulturell-religiös-ideologische Parameter (oder auch nur den Wechselwirkungen zwischen Kultur und Struktur) zu wenig Bedeutung beizumessen. Ein Beispiel für diese einseitige Überbewertung ist die Annahme, die Alphabetisierung führe quasi zwangsläufig zu einer rationaleren Gesellschaft. Ein simples Gegenbespiel dazu wären die Irrationalismen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts Deutschland beherrscht hatten, ein alphabetisiertes Land, das „Land der Dichter und Denker“. Solche Über- und Fehlbewertungen ändert jedoch nichts daran, dass die Mitberücksichtigung struktureller (soziodemographischer) Variablen eine Erweiterung unseres Verständnisses menschlichen Verhaltens ermöglicht.

 

Über „Bowling Alone“ von Robert D. Putnam

Besprochen von Hans W. Giessen

  • PUTNAM, R. D.: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. Simon & Schuster: New York 2000. ISBN 978-0684832838.

1. Verwaltung, Staatswesen, Gemeinschaftsgefühl und Medien

Robert D. Putnams Buch hat den Titel ”Bowling Alone“; dieser Titel stellt zugleich die Quintessenz seiner These dar. Ganz allgemein geht es um die Frage, wieso sich manche Gesellschaften zu wohlhabenden Gebilden, ,blühenden Gemeinwesen’ entwickeln, und andere nicht. Das Dramatische der Antwort des Autors Robert D. Putnams ist, dass er nicht nur einen Schlüssel erkannt zu haben glaubt, sondern gleichzeitig die Begründung, warum offensichtlich die Grundlage des amerikanischen Wohlstands – langsam, aber stetig – im Schwinden begriffen sei. (Im Übrigen geht Putnam von langfristigen Prozessen aus; eine kurzfristige Wirtschaftskrise hat mit seiner These nichts zu tun).
Für Putnam hängen die wirtschaftliche Entwicklung und der gesellschaftliche Wohlstand einer Region unter anderem und insoweit leicht nachvollziehbar davon ab, wie die jeweilige Verwaltung funktioniert.
Putnam ergänzt diesen Satz mit der weiteren These, dass eine Verwaltung vor allem dann gut funktioniere, wenn sie von einem gewissen Verantwortungsgefühl geprägt sei. Dieses Verantwortungsgefühl entstehe vor allem – oder eigentlich: nur – dann, wenn es überhaupt Gemeinschaften mit einem Gefühl gegenseitiger Verpflichtungen gebe, für die die Verwaltung dann tätig werden könne. Putnams Kernfrage lautet demnach: Wie entsteht ein solches Verantwortungsgefühl und ein darauf fußendes Gemeinwesen, wie kann es gefördert oder gegebenenfalls auch nur bewahrt werden? Die Brisanz der Putnam’schen Argumentationskette liegt darin, dass der Autor dieses Gefühl und die darauf aufbauenden gut funktionierenden Gemeinwesen bedroht sieht, aus strukturellen Gründen.
Putnams eigene Studien begannen in den frühen siebziger Jahren mit Feldforschungen in unterschiedlichen Regionen Italiens. Dort wurde zum damaligen Zeitpunkt eine Verwaltungsreform durchgeführt, deren Ziel eine größere Freiheit der einzelnen Regionen von der bis dahin alleinentscheidenden, übermächtigen Zentralregierung in Rom war. Die zwanzig Regionen des Landes, von Sizilien im Süden bis zum Trentino im Norden, erhielten neue Gesetzgebungskompetenzen – und wurden jetzt natürlich auch verantwortlich für die eigene Entwicklung. Robert D. Putnam fuhr direkt 1970 mit einigen Kollegen nach Italien und untersuchte, wie die neuen Verwaltungen ihre Aufgaben erledigten, wo und warum es zum Aufschwung kam, und weshalb es in manchen Regionen dennoch nicht so recht klappte. Es fiel auf, dass die stagnierenden Regionen allesamt im Süden lagen, während der Norden von der Reform im Grossen und Ganzen recht deutlich profitierte.
Dies mag aus verschiedenen Gründen überraschen. Zunächst war das Lebensniveau im Süden viel niedriger als im Norden. Nun kann eine zumindest relative Wohlstandssteigerung von einem niedrigen Sockel aus leichter bewerkstelligt werden als von hohem Niveau. Dazu kommt, dass die Verwaltungsbeamten des Nordens im Schnitt weniger gut ausgebildet waren als die des Südens. Wieso kam es dann zu dieser verblüffenden Entwicklung?
Durch eine Vielzahl von statistischen Untersuchungen konnte Putnam zeigen, dass sich die Unterschiede bis ins Mittelalter zurückführen lassen, als die Normannen in Süditalien einfielen und eine autoritäre Herrschaft errichteten. Vor allem seien sie bestrebt gewesen, die dort existierenden Dorfgemeinschaften aufzubrechen und weitgehend zu zerstören, damit sich kein Widerstand gegen die fremden Herren entwickeln konnte.
Es ist bemerkenswert, dass die Normannen – auch Wikinger, ein germanisches Volk, das ursprünglich ebenfalls gemeinschaftlich organisiert war und Konflikte im sogenannten Thing oder Allthing gemeinschaftlich löste, dort auch gemeinschaftlich Entscheidungen fällte – die gemeinschaftlichen Strukturen im eroberten Süditalien so radikal auflösten. Allerdings war dies offenbar bereits die Folge anderer und früherer Entwicklungen. Schon im neunten Jahrhundert eroberten Normannengruppen Teile des heutigen Nordwestfrankreich, die noch immer so bezeichnete Normandie. Hier experimentierten sie mit neuen Gesellschaftsstrukturen, die sich im Eroberungskampf als überlegen erwiesen: Die zunächst gleichberechtigten Teilnehmer einer Wikfahrt scharten sich unter der zentralen Herrschaftsgewalt des Normannenherzogs. Verstärkend kam hinzu, dass die Eroberer aus dem Norden ihre Bindungen an die Herkunftsregion verloren. Diese Kombination – ein Eroberungs- und Kriegszustand ohne traditionelle Bindungen – intensivierte den Prozess der Machtzentralisierung. Bei den Normannen gab es nur einen schwachen ,Adel’, wenn er überhaupt so bezeichnet werden kann; und es gab überhaupt kein Lehnswesen. Es gab also keine nennenswerten Strukturen, die sich zwischen die zentrale Macht und den Einzelnen stellen konnten. So konnte der Herzog eine zentrale Verwaltung aufbauen. Dieser Regierungsstil wurde im Übrigen später auch zum Vorbild der Königsherrschaft in Frankreich.
Als die Normannen dann in der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts aus der Normandie zu weiteren Eroberungszügen nach Süditalien aufbrachen, hatte sich dieses Herrschaftsmodell bereits durchgesetzt. Umso nachdrücklicher wurde es im neueroberten Territorium eingeführt. Offenbar eignete es sich gut zur Machtsicherung in einem fremden Gebiet. Robert D. Putnam betont, es sei das Bestreben der Normannen gewesen, die Bewohner der süditalienischen Territorien vom Wohlwollen der Herrschaft abhängig zu machen. Gegenseitiges Verantwortungsgefühl und der Stolz auf die eigene Gemeinschaft seien deshalb systematisch unterdrückt worden.
Im Norden dagegen blühten – aus gerade umgekehrten Gründen: weil die Zentralgewalt, das Heilige Römische Reich, so schwach geworden war – autonome Republiken auf, geprägt von engen Gemeinschaften, die ein hohes gegenseitiges Verantwortungsgefühl entwickelt hatten: Zünfte und Gilden und andere Gruppierungen, die, so Putnam, ein Gefühl des Vertrauens aufeinander erwachsen ließen, das es im Süden nie gegeben habe.
Putnam betont wiederholt die ,erstaunliche Konstanz‘ des italienischen Nord-Süd-Gegensatzes bis in die Gegenwart hinein. Die Strukturen hätten den Niedergang der bis dahin unabhängigen Republiken des Nordens im siebzehnten Jahrhundert ebenso überstanden wie das Risorgimento des neunzehnten Jahrhunderts. Und so konnte Putnam auch feststellen, dass die wirtschaftlich schwächsten Regionen noch immer exakt dem ehemaligen Herrschaftsgebiet der Normannenkönige im elften und zwölften Jahrhundert entsprachen. Gleichzeitig seien dies noch immer die Regionen mit dem am wenigsten ausgeprägten dörflichen Gemeinschaftsleben. Beispielsweise gebe es hier die wenigsten örtlichen Gesangsvereine oder Fußballclubs.
Aufgrund dieser Beobachtungen gelangte Robert D. Putnam zur Überzeugung, dass die Qualität der Verwaltung kaum vom Bildungsgrad der Verwaltungsbeamten abhänge, sondern vor allem vom jeweils vorherrschenden Gemeinschaftsgefühl. Da dieses im Norden ausgeprägter gewesen sei, wurde dort die Verwaltungsreform zur Erfolgsgeschichte, im Gegensatz zum Süden, wo es aufgrund der jahrhundertlangen Ausbeutung noch immer zuviel Misstrauen gebe. So schrieb der Amerikaner als Ergebnis seiner Italien-Studie etwas pointiert, dass eine gute Verwaltung ein Nebenprodukt von örtlichen Gesangsvereinen und Fußballclubs sei: Wo diese Gemeinschaften bedeutsam seien, entwickle sich ein allgemeines Gemeinschaftsempfinden, von dem dann die gesamte Region profitiere.
Wenn diese These Putnams zutreffend sein sollte, dann wird auch verständlich, warum er nach der Rückkehr in sein Heimatland so alarmiert war. Dort musste er nämlich feststellen, dass die zahllosen traditionellen Gemeinschaften – ein Erbe aus der Zeit, als das weite Land erobert wurde und jeder auf den anderen angewiesen war – in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dramatisch schwächer geworden waren. Robert D. Putnam präsentiert eindeutige Zahlen: Das Vertrauen in Regierungen, sei es auf der nationalen, sei es auf der lokalen Ebene, werde immer geringer, und immer weniger Bürger engagierten sich für ihr Gemeinwesen. Die Anzahl der Kirchgänger habe ebenso abgenommen wie die der Gewerkschaftsmitglieder. Die Mitgliedschaft bei den Pfadfindern, einer traditionell wichtigen Gemeinschaft in Amerika, werde immer schwächer, auch beim Roten Kreuz oder bei den Frauenverbänden. Insgesamt sei das Engagement in solch freiwilligen Gemeinschaften etwa in den fünfzehn Jahren von 1974 bis 1989 im statistischen Schnitt um ein Sechstel gesunken. Selbst das Kegeln in Verbänden und Vereinen werde immer weniger populär, obgleich es sich doch um eine der charakteristischsten amerikanischen Freizeitaktivitäten handele: Zwischen 1980 und 1993 habe es einen Rückgang um sage und schreibe 40 Prozent gegeben!
Bedeutet der Kegelclub für Nordamerika das, was der Fußballverein für Italien ist? Sicherlich, auf der ,kulturellen Ebene‘ gibt es enorme Unterschiede; kaum zwei Ballspiele dürften einander unähnlicher sein. Aber Robert Putnam vergleicht ja nicht die Spiele, sondern nimmt sie in ihrer Funktion für die Gesellschaft war, als Ausdruck durchaus vergleichbarer Strukturen. Und daher reagiert er besorgt. – Im Gegensatz zum Fußball kann Bowling im übrigen ja auch alleine gespielt werden, und in der Tat hat die Anzahl der Kegler, die nun ganz alleine ihren Sport ausübten, ohne irgendeinen Verein, dem sie angehörten, im selben Zeitraum um zehn Prozent zugenommen – für Putnam ein weiteres Indiz seiner These (und aus dieser Beobachtung leitet er auch den Titel seines Buches ab: “Bowling Alone“). So formuliert er noch recht allgemein, dass offenbar auch in Amerika das Bedürfnis wachse, das Privatleben selbstbestimmt und frei von Zwängen welcher Gemeinschaft auch immer zu gestalten.
Was mögen die Gründe für diese Entwicklung sein? Robert Putnam bestätigt, dass es ausgesprochen viele Ursachen geben könne. Er nennt etwa die zunehmende Mobilität, die traditionelle Bindungen schwäche. Wichtig sei zudem die Tatsache, dass nun auch Frauen immer stärker ins Berufsleben strömen, weil dies ebenso Zeit und Energie koste. Schließlich sei die Bevölkerungsentwicklung mit der Zunahme der Alten ein Problem. Aber am Bedeutsamsten sei die technische Entwicklung und insbesondere das Fernsehen. Darauf deute bereits ganz simpel die enorme Zeit, die dafür aufgewandt werde – mehr als vierzig Prozent der Freizeit eines amerikanischen Durchschnittsbürgers. Das Fernsehen befriedige viele Bedürfnisse der Bürger, aber, so Putnam, eben auf Kosten der Gemeinschaft. Deren Unterhaltungswert sei halt auch geringer, merkt er an. Einen entscheidenden Hinweis sieht er in verschiedenen statistischen Daten – vor allem in der Tatsache, dass Menschen, die täglich viele Stunden fernsehen, deutlich seltener Vereinsmitglieder seien als Wenigseher, sich deutlich seltener für andere engagierten und überhaupt deutlich seltener ihr Heim verließen. Auch diese Zahlen sind im Lauf der Jahrzehnte gewachsen und ausgeprägter geworden, bereits schwach seit den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und seit den siebziger Jahren immer deutlicher. Inzwischen haben Sendervermehrungen, Breitbandverkabelung und vor allem der Computer das Problem noch verstärkt.

2. Eine kurze Anmerkung zu Putnams Ansatz

Nun sind die Vereinigten Staaten das ,Mutterland’ des Fernsehkonsums, bereits seit den fünfziger Jahren. Die aktive Bevölkerung ist also bereits mit dem Fernsehapparat aufgewachsen – mehr noch: ihre Elterngeneration war die erste Fernsehgeneration; man könne also auch nicht sagen, dass sich eventuell noch die Erziehung auswirke, die die Eltern den Kindern angedeihen ließen. Inzwischen präge das Fernsehen bereits die Kindeskinder der ersten Zuschauer.
Dennoch hat in dieser Zeit der Wohlstand in den USA noch (wenngleich sehr asymmetrisch, aber Asymmetrien gab es hier schon lange) zugenommen, und ist nicht etwa geringer geworden. Insofern sind die Befürchtungen Robert D. Putnams offenbar zumindest übertrieben, und in der Tat lädt diese Beobachtung dazu ein, nach den Schwachstellen der Putnam’schen Theorie zu suchen. Das Problem ist offenbar, dass er zwar für Italien eine augenfällige Parallele zwischen gesellschaftlichem Engagement und der Effizienz der Verwaltung belegen kann, aber keinen Wirkungszusammenhang. Für Amerika kann Putnam Parallelen zwischen Fernsehkonsum und Abnahme des gesellschaftlichen Engagements empirisch-statistisch belegten, aber nicht, dass die Verwaltung darunter leide, und auch keine anderen Konsequenzen. Die italienischen Wirkungszusammenhänge gelten demnach nicht notwendigerweise auch für andere Kulturkreise, und für die Entwicklungen von Gemeinwesen gibt es auch andere, ebenso plausible Erklärungsversuche. So hat beispielsweise Max Weber mit seinem Konzept einer ,protestantischen Ethik’ ein mindestens ebenso überzeugendes Erklärungsmodell für den Wohlstand in Europa und Amerika aufgestellt.
Max Weber hatte in Nordamerika und Europa, insbesondere im Verlauf eines Vergleichs innerhalb Deutschlands, aber auch bezüglich der Unterschiede zwischen England und den lateinisch-katholischen Ländern beobachtet, dass es einen Zusammenhang zwischen der Religionszugehörigkeit und dem Wirtschaftsverhalten sowie dem allgemeinen Wohlstand gibt. Weber konnte dank aufwändiger Kulturanalysen die Ursache plausibel erklären; der Grund für den unterschiedlichen Wohlstand liege demnach nicht in unterschiedliche Strukturen, sondern in unterschiedlichen Lebenseinstellungen – also in kulturellen Faktoren. Insbesondere der die protestantische Strömung des Calvinismus verurteile das Ausruhen. Dort gelte sogar der Besitz als unethisch, wenn er nicht genutzt werde, um damit zu arbeiten, um also neue Werte zu schaffen. Dies wiederum begünstige die von einem solchen Leitgedanken getragenen Gesellschaften. Die Arbeitstugenden und die immer höhere Kapitalbildung hätten weitere technische Entwicklungen und letztlich immer mehr Wohlstand ermöglicht – unabhängig von Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühlen; sie bedürfen ihrer nicht.
Das Konzept der ,protestantischen Ethik’ widerspricht den italienischen Befunden Robert D. Putnams nicht, auch nicht den Aussagen hinsichtlich des Gemeinschaftslebens in Amerika, denn es ist auf einer anderen Ebene angesiedelt – aber es relativiert beispielsweise die von Putnam in düsteren Farben gemalten Bedrohungen unseres gesellschaftlichen Wohlstands. Im Übrigen ist auch diesem Modell sicherlich kein alleiniger Erklärungsanspruch zuzubilligen, wie nicht zuletzt das Beispiel der traditionell katholischen Länder Bayern oder Luxembourg zeigt, die (dennoch?) zu den wohlhabendsten Ländern Deutschlands beziehungsweise der EU aufgestiegen sind. So bleibt als Quintessenz, dass es wohl keine monokausale Erklärung gibt; und dass noch nicht einmal alle in einem kulturellen Kontext plausiblen Erklärungen Allgemeinverbindlichkeitsanspruch geltend machen können.

R. D. Putnam, with R. Leonardi and R. Y. Nanetti, Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton, New Jersey 1992
M. Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 20, 1904, Band 21, 1905