Im Schatten des Terrors: Ian McEwans Roman „Saturday“

Besprochenvon Anne Krüger

Der Londoner Neurochirurg Henry Perowne beobachtet am frühen Morgen vom Schlafzimmerfenster aus einen Flugzeugabsturz. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York muss jede westliche Großstadt damit rechnen, Ziel eines Terrorakts zu werden. Bislang hatte Perowne die weltpolitische Lage sauber von seinem privaten Leben trennen können. Nun ist er verunsichert. War es überhaupt ein Terroranschlag?

Mit diesem Ereignis beginnt der Samstag, den Ian McEwan in seinem Roman Saturday erzählt. Ein Tag des wohlsituierten Bürgers Perowne, der für ihn und seine Familie einen tiefen Einschnitt bringen wird. Als analytisch denkender Chirurg, der täglich nach straff organisiertem OP-Plan ein Dutzend Schädeldecken öffnet um Gehirne zu operieren, ist Perowne ein Materialist und überzeugt davon, „daß das Bewußtsein von bloßer Materie, vom Hirn, geschaffen wird.“ Trotz unbekannter Faktoren sei das Leben auf diese Weise berechenbar.

Am Vormitag hat er auf der Fahrt zum Squash eine Auseinandersetzung mit Kleinkriminellen, denen er versehentlich den Rückspiegel demoliert. Es kommt zum handfesten Streit, bei dem der Arzt mit einem blauen Auge davonzukommen glaubt. Aber noch am selben Tag werden diese Leute in seiner Wohnung stehen.

Der Flugzeugabsturz an jenem Morgen führt ihm plötzlich vor Augen, welcherart völlig unberechenbare äußere Faktoren plötzlich auch sein Leben verändern können. Da lauern Gefahren von außen, welche die die innere Sicherheit bedrohen. So schleicht sich Angst ein, in die Sicherheit des Neurochirurgen. Allerdings wird ihm diese Angst erst völlig bewusst, als er selbst erleben muss, wie unerwartet auch sein Leben und das seiner Familie bedroht und einer unberechenbaren Gefahr ausgesetzt sein kann. Im eigenen Wohnzimmer stehen die Männer, die sein Leben und das seiner Familie bedrohen. Da lässt sich keine Berechnung mehr anstellen. Da versagt die naturwissenschaftliche Erkenntnis. Wie beim Experiment mit Schrödingers Katze präsentiert sich das Ergebnis erst nach Verlauf der Handlung. Das Resultat steht bereits fest, kann aber erst nach seiner Enthüllung gesehen werden. Dabei geht es um Leben und Tod. Im Experiment von Erwin Schrödinger stellt sich die Frage, ob die in einer verschlossenen Kiste befindliche Katze, von der Übertragung einer quantenmechanischen Wellenfunktion auf einen Hammer getötet wurde, oder ob sie noch lebt. Nach Schrödingers Theorie besteht vor dem Öffnen der Kiste eine hypothetische Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50. Aber die Wirklichkeit – tot oder lebendig – kann erst nach dem Öffnen der Kiste beobachtet werden. Genauso lässt sich aber für die gefährliche Situation der Perownes sagen, dass niemand den Ausgang der Situation vorher sagen kann. Währenddessen ist jede Konsequenz möglich. Hier kollabiert der Kalkül. Was aber ist dann die Wirklichkeit? Diese Frage hatte sich Perowne selbst gestellt, als er nach dem Flugzeugabsturz überlegte, was an Bord dieser Maschine wohl geschehen war. Da betraf es allerdings noch eine Wirklichkeit, deren Beobachtung ihm lediglich nicht zugänglich war. Es hatte ihn nicht selbst betroffen. Beim Grübeln darüber war ihm der Gedanke an Schrödingers Katze gekommen. (S. 29)

McEwan stellt mit seinem Roman die Fragen, die an das Katzenexperiment anknüpfen. Dabei verwebt er die philosophische Ebene mit den aktuellen weltpolitischen Problemen. Der Samstag ist aufgeladen mit der großen Demonstration gegen den bevorstehenden Irak-Krieg. Diesen Samstag hatte es wirklich gegeben im Februar 2003. Der Roman ist aber keineswegs ein philosophisches Traktat. Im Gegenteil: Betont banal erzählt McEwan von einer bürgerlichen Familie im London unserer Tage. Der Alltag entrollt sich entlang von Arbeit, Einkäufen, Essenvorbereitungen und Nachrichtenschauen. Samstags geht der Arzt zum Squash. Die Kinder werden erwachsen und lösen sich langsam von der Nähe der Eltern. Wie beiläufig erzählt McEwan diesen alltäglichen Samstag, auch die unerwarteten Begebenheiten führt er unaufgeregt ein. So überrascht die Konsequenz der Geschehnisse noch während des Lesens. Es entsteht ein Spannungsbogen, der über die Unruhe und Ungewissheit des Arztes transportiert wird. Wobei aber die Ursachen für diese Unruhe unklar bleiben, bis Perowne sich ihrer langsam bewusst wird. Denn die Erlebnisse dieses Tages erschüttern zunehmend seine selbstzufriedene Sicherheit.

McEwan zeigt mit seinem Roman die Distanz, die sich zwischen dem privaten Leben und der öffentlichen Weltlage gern einschleicht. Leider ist die Konstruktion der Handlung zu plastisch, um Spielräume zu lassen. Mangelnde Subtilität des Romans verhindert das Spiel der eigenen Phantasie. Auch die resümierenden Gedanken Perownes sprechen immer aus, was sie meinen. Damit erzeugt McEwan zwar die Alltäglichkeit seines Erzählten, sein Erzählen selbst allerdings verliert dabei etwas. Die sprachlichen Stärken McEwans liegen in der Beschreibung dynamischer Szenen, wie beispielsweise ein Gitarrenriff des Sohns oder die vitale Präsenz des Squash-Spiels.

Saturday gibt ein treffendes Bild vom Alltag westlicher Lebensweise zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Probleme der politischen Weltlage und ihr dennoch getrenntes Verhältnis zu privaten Lebensformen. Wie lebten Bürger zu Anfang des 21. Jahrhunderts? Die Frage wird einmal anhand des Buches rekonstruiert werden können. Was waren ihre alltäglichen Handlungen, ihre Sorgen, ihre Gespräche? Die beiläufige Erzählweise vermittelt gute Beobachtungen unseres Lebens. So wird der Roman zur „psychologischen Fotografie des Jahres 2003“.

Dass der Zeitpunkt des Erscheinens des Buches (2005) mit den Anschlägen in London zusammentreffen würde, hatte vorher allerdings niemand wissen können.

McEwan, Ian: Saturday (übers. v. Bernhard Robben; Originaltitel: Saturday, London 2005). Zürich: Diogenes Verlag 2005.

ISBN 3-257-86124-9

Erwin Schrödinger (1887 – 1961) – Physiker

„Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die Psi-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze (s. v. v.) zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind. Das Typische an solchen Fällen ist, daß eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetzt, die sich dann durch direkte Beobachtung entscheiden läßt. Das hindert uns, in so naiver Weise ein „verwaschenes Modell“ als Abbild der Wirklichkeit gelten zu lassen…“ Erwin Schrödinger: Gesammelte Abhandlungen. Hrsg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 1984

So McEwan selbst in einem Interview. „Wir brauchen keine Götter. Interview: Die Wärme des Materialismus: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Ian McEwan über seinen Roman ‚Saturday’“.SZ v. 07.10.2005. Nr. 231