Paulette – Eine raubeinige Krimikomödie nach einer wahren Geschichte

Besprochen von Pia Klein

  • Paulette. Frankreich 2012. 87 Min. Regie: Jérôme Enrico. Mit Bernadette Lafont, Carmen Maura, Dominique Lavanant.

Die alte Paulette lebt in einem der berüchtigten Pariser Banlieues. Früher betrieb sie mit ihrem Mann ein Café. Nun ist der Mann gestorben. Das Café ist von Asiaten aufgekauft worden. Die Rente reicht hinten und vorne nicht. Paulette weiß sich aber mit Erfindungsreichtum und Schätzen aus den Müllcontainern zu helfen. Bis sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen kann und ihre komplette Wohnungseinrichtung gepfändet wird. In ihrer Verzweiflung eifert die alte Dame schließlich den Halbstarken im Viertel nach und wird eine Hasch-Dealerin. Darin ist sie bald so erfolgreich, dass sie den professionellen Drogenhändlern zur missliebigen Konkurrentin wird.

Die Ausländer haben ihr alles weggenommen. Darüber klagt sie bei ihrem Beichtvater, der zwar schwarz ist, es aber Paulette zufolge verdient hätte weiß zu sein. Schwarz ist auch der Mann, den ihre Tochter geheiratet hat. Doch der ist praktischerweise Polizist. Was liegt da näher, den Schwiegersohn auf dem Revier zu besuchen und ihm die Geheimnisse der Drogenfahndung zu entlocken? Ein brutaler Kontrast zum schwarzen Humor des Films ergibt sich, als Paulette von konkurrierenden Dealern zusammengeschlagen wird. Dies ist wohl dem Umstand geschuldet, dass Regisseur Jérôme Enrico eine wahre Begebenheit erzählt. Das Ende kommt dennoch sehr aufgesetzt daher. Die neue Bilderbuchfamilie verkauft Haschkekse in Holland – ganz legal. Warum kauft die raffinierte Alte mit dem Geld aus der Dealerei nicht ihr Café von den Asiaten zurück?
Bernadette Lafont spielt die Charaktere der Paulette wunderbar griesgrämig überzeugend und ist die eigentliche Attraktion des Films. Ein würdiger Abschluss der Filmkarriere der im Juli 2013 im Alter von 74 Jahren verstorbenen Schauspielerin.

 

Oh Boy

Besprochen von Pauline Fois

  • Oh Boy. Deutschland 2012. Regie : Jan Ole Gerster. Mit : Tom Schilling, Frederike Kempter u.a. 88 min.

Niko hat sein Jura-Studium vor zwei Jahren abgebrochen, was sein Vater schließlich  entdeckt. Seine Freundin hat ihn verlassen. Er beschließt, nach Berlin zu ziehen. Der Kinozuschauer erlebt nun Nikos ersten Tag in der Hauptstadt. Sein Nachbar empfängt ihn mit einem selbstgemachten Kuchen und erzählt ihm weinend nach fünf Minuten von seinen Eheproblemen. In einem Café erkennt ihn eine Frau, die während der Schule in ihn verliebt war. Dann wird seine Karte vom Geldautomat verschluckt und er muss seinen Vater um Geld bitten. Es sind Alltagszenen, die scheinbar willkürlich aneinander gereiht werden. Sie werden aber immer tragischer.

Obwohl der Film in der Gegenwart spielt, ist er in Schwarzweiß gedreht. Diese nostalgische Stimmung wird verstärkt durch einen jazzigen Soundtrack. Der Film ist eine gelungene Mischung aus Tragödie und Komödie. Er schildert den Snobismus Berliner Lokalitäten, in dem es fast unmöglich ist, einen „normalen“ Kaffee zu bestellen. Am Ende lernt Niko in einem Café einen alten Mann kennen, der ihm sein Leid mit der neuen Zeit klagt. Die beiden verstehen sich gut, doch als der alte Mann das Café verlässt, trifft ihn der Schlag. Niko folgt ihm ins Krankenhaus. Aber da er kein Verwandter ist, erfährt er nicht einmal den Namen des gerade Verstorbenen.

Der Film ist gerade aufgrund seiner ruhigen Erzählweise interessant. Zeitweise vergisst man die Handlung über den schönen Bildern und der stimmungsvollen Musik. „Oh Boy“ ist ein Gegenentwurf zu den Erfordernissen unserer hektischen, erfolgsorientierten Zeit. Niko träumt von einem neuen Anfang in einer großen Stadt, in der niemand ihn kennt. Als Französin würde ich diesen  mit sechs „Lolas“ prämierten Film mehr empfehlen als „Lola rennt“. Selbst wenn Tykwers rasanter Kinoerfolg gut gemacht ist, hat er nicht die Tiefe von Gersters Film. Hat ein Erwachsener das Recht, ein Leben als Träumer zu führen? Sollte er nicht besser einen Job finden als vom Vermögen des Vaters zu leben? Während man mit „Lola rennt“ einfach eine gute Zeit hat, lädt „Oh Boy“ dazu ein, sich wie der Protagonist mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen.

Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam?

Besprochen von Hans W. Giessen

  • Christoph Antweiler: Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 425 S., EUR 74,90.

Dass ich das Thema des Buches wichtig finde, wird bereits daran sichtbar, dass ich für besprochen@avinus bereits Texte zu Robert D. Putnam und zum Buch von Youssef Courbage und Emmanuel Todd geschrieben habe, die ähnliche Fragestellungen betreffen. Der Band von Courbage und Todd mit dem französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist eine direkte Reaktion auf Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996. Auch Christoph Antweiler beschäftigt sich mit diesen Fragen, und bis zu einem gewissen Grad ist auch sein Buch ein Rejoinder Huntingtons.

Dabei geht es nicht darum, zu leugnen, dass es unterschiedliche Kulturen gibt, die sich mitunter mit Unverständnis gegenüberstehen, manchmal antagonistisch, und es sogar kulturell motivierte Terrorakte und Kriege gibt. Es geht darum, dass man Kulturen nicht auf ihre Gegensätze reduzieren kann. Denn es gibt auch zahlreiche anthropologische Konstanten beziehungsweise „Universalien“. Sie sind in der Realität immer wieder Brücken zwischen den Kulturen. Zudem wandeln sich Kulturen: Vom Wikinger zum heutigen Skandinavier war es ein weiter Weg, der offenbar innerhalb einer „Kultur“ zurückgelegt wurde. Es ist also falsch, Kulturen als unwandelbar und einander unverständlich darzustellen. Mehr noch: Es kann sogar gefährlich sein, denn das hieße ja, es wäre bestenfalls ein Nebeneinander möglich, schlimmstenfalls wären Krieg und Terror die einzigen Möglichkeiten des Kontakts, keineswegs aber wäre ein friedliches Miteinander auf der Erde denkbar.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum gerade Ethnologen nur auf die Differenzen der verschiedenen Kulturen abstellen. Dafür gibt es viele prominente Beispiele, von Franz Boas bis Clifford Geertz. Gewiss, sie verstehen sich als empirische Wissenschaftler, und hier fällt eher das Unterschiedliche auf – das man sogar messen kann, wie es Geert Hofstede gemacht hat. Seine Ergebnisse sind das statistische Resultat von rund 100.000 Fragebögen. Diese Ergebnisse ermöglichen in der Tat ein besseres Verständnis kulturabhängigen Verhaltens.

Allerdings spielt menschliches Verhalten sich auf mehreren Ebenen ab, wie nicht zuletzt Hofstede selbst bestätigt. Jedes Individuum ist einzigartig und verhält sich in spezifischen Situationen so wie kein anderer Mensch sich verhalten würde. Dann gibt es in der Tat die Ebene der Kultur. Vergleichbar wichtige (und messbare) Ebenen sind aber auch soziale Stellung oder der weltanschauliche Kontext. Ich kann mich oft besser mit einem türkischen Universitätsangehörigen unterhalten (mit dem ich, trotz unterschiedlicher Kultur und Sprache, doch einiges an Erfahrung gemeinsam habe) als Mitgliedern des eigenen Kulturkreises, die aus einem ganz anderen Milieu stammen.

Schließlich gibt es eine weitere Ebene – ebenfalls von Hofstede bestätigt –  die von vielen Ethnologen aber offenbar ignoriert wird: diejenige anthropologischer Konstanten, das, „was allen Menschen gemein ist“, die „Universalien“, wie Christoph Antweiler sie nennt. „Was ist den Menschen gemeinsam?“ lautet der Titel seines Buches.

Christoph Antweiler wurde 1956 im Rheinland geboren, studierte in Köln Ethnologie, Paläontologe und Geologe und promovierte in Ethnologie. Seine Feldforschung hat er auf der indonesischen Insel Sulawesi durchgeführt; die dabei entstandene Studie arbeitete er zu seiner Kölner Habilitation aus. Zunächst hatte er den Ethnologie-Lehrstuhl an der Universität Trier inne, heute ist er an der Universität Bonn tätig. Inzwischen hat er sich zu einer der prominentesten Stimmen in Deutschland entwickelt, die nach Gemeinsamkeiten menschlichen Verhaltens trotz Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturkreisen sucht.

Antweiler wehrt sich dagegen, dass „kulturelle Differenz gegenwärtig die globale Leitwährung des Denkens über Kultur“ ist und dass von einem „wieder erstarkten Denken von Kulturen als Kugeln, Monaden oder Containern“ geredet wird. Auch wenn diese Aussage ein wenig zu verallgemeinernd ist – in der Tendenz hat er bedauerlicherweise recht. Dennoch kippt Antweiler nicht ins andere Extrem. In der Einleitung macht der Autor deutlich, um was es ihm geht:

Autoren werden von Journalisten oft gebeten, ihr Buch in einem Satz zusammenzufassen. Angesichts dieses umfangreichen Buches gönne ich mir für diese Kurzformel drei Sätze: Es existiert eine enorme Vielzahl zwischen und innerhalb der Kulturen der Menschen, aber es gibt dennoch viele Phänomene, die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen. Diese Universalien sind teilweise in der Biologie des Menschen begründet, teils haben sie aber auch andere, soziale, kulturelle und systemische Ursachen. Wir brauchen Kenntnisse über Universalien für eine empirisch fundierte Humanwissenschaft und dieses Wissen ist auch praktisch relevant für realistische Lösungen menschlichen Zusammenlebens.

Antweiler will also die „Universalienforschung rehabilitieren“, indem er Universalität und Vielfalt zusammenbringt, „statt sie gegeneinander auszuspielen“, wobei sein Schwerpunkt bei den von den meisten Fachkollegen vernachlässigten Universalien liegt.

Der Einführung folgt ein historischer Überblick über das „Denken über Universalien“. Dabei überschreitet Antweiler wiederholt die Grenzen des Faches Ethnologie – sein Buch ist im besten Sinn interdisziplinär. Es behandelt entgegen der heutigen eindimensional ethnologischen Sicht „uralte Fragen zu Menschen und Kulturen“. Antweilers Spektrum reicht von der philosophischen Anthropologie (die nach dem „Wesen des Menschen“ fragt) bis hin zu Hofstedes ökonomischen Blick, dazwischen finden sich soziologische oder psychologische Ansätze. Auf dieser Grundlage gelingt es Christoph Antweiler, eine profunde Basis menschlicher Universalien zusammenstellen. Neben der sozialwissenschaftlichen und kulturellen Vorgehensweise richtet sich seine Aufmerksamkeit außerdem auf die „evolutionäre Erklärung“ (evolutionary explanation) als „dritte grundlegende Möglichkeit, Universalien zu erklären“. Ein Glossar, eine umfassende Bibliographie, ein Register mit Stichworten und Autorennamen sowie ein Anhang mit neun Universalienlisten runden das Werk ab.