„Le Havre“ – Flache Geschichte, schöne Bilder

Besprochen von Juliane Besch

  • Le Havre, Regie und Drehbuch: Aki Kaurismäki, Produktion: Finnland, Frankreich, Deutschland 2011, Laufzeit: 93 Minuten.

In der französischen Hafenstadt Le Havre lebt ein älteres Ehepaar, Marcel und Arletty, mit dem Hund Laika in einem kleinen Haus. Marcel verdient Geld, indem er Schuhe putzt, seine Frau kümmert sich um den Haushalt. Als ein Schiffscontainer mit illegalen Einwanderern entdeckt wird, kann Idrissa, ein schwarzer Junge, fliehen und trifft im Hafen zufällig auf Marcel. Während sich dieser um ihn kümmert – ihn bei sich wohnen lässt und seinen Großvater in England ausfindig macht – liegt Arletty mit einer schweren Krankheit im Krankenhaus. Um Idrissas Fahrt nach England zu finanzieren, veranstalten Marcels Nachbarn ein Konzert. Der Junge entgeht mit ihrer Hilfe den Denunziationen eines anderen Nachbarn. Der Kommissar – eigentlich mit der Ergreifung beauftragt – deckt Idrissa in seinem Versteck auf einem Fischkutter, der ihn nach England bringen soll, als ihn Polizisten suchen. Derweil gesundet Arletty im Krankenhaus wie durch ein Wunder. Mit Marcel kehrt sie in ihr kleines Haus zurück.

Was eine spannende Geschichte über Flüchtlingspolitik und menschliche Solidarität sein könnte, entpuppt sich als eine Art ruhiges Erwachsenenmärchen in altmodischer Requisite.  Wer eine absolut plausible und vielleicht sogar politisch anspruchsvolle Geschichte sucht, wird enttäuscht werden. Dass Arletty erst schwer krank ist und dann plötzlich gesundet, ist genauso unrealistisch wie die selbstverständliche Hilfe der Nachbarn, Idrissa zu verstecken. Dass es Marcel problemlos gelingt, über andere Flüchtlinge Idrissas Großvater in England zu finden, erscheint mit dem Wissen über reale europäische Flüchtlingspolitik naiv. Es sind diese wundersamen Wendungen, die die Geschichte zu einem Märchen werden lassen: wichtiger als Plausibilität ist die symbolische Kraft der Ereignisse. Arlettys spontane Gesundung am Ende des Films mag unrealistisch sein – sie steht als Symbol für die Überwindung aller Probleme.

Die Charaktere selbst wirken wie Karikaturen. Der Kommissar ist das Klischee eines französischen Polizisten der 70er Jahre, auch sein Peugeot ist stilecht. Zudem werden die Motive und Emotionen der Figuren wenn überhaupt dann metaphorisch gezeigt. So ist der Kommissar von einer Ananas genauso überfordert wie von Idrissa. Warum Marcel den Flüchtlingsjungen überhaupt aufnimmt und warum der Polizist den Jungen dann fliehen lässt, bleiben unklar. Wer tiefere Einsichten in menschliches Handeln sucht, sucht sie in diesem Film vergeblich.

Aber es gelingt Kaurismäki, mit minimalen Mitteln Spannung aufzubauen. Sehr eindrucksvoll sind beispielsweise die Gesichter der Flüchtlinge, als die Tür des Containers geöffnet wird.

Was die Geschichte sympathisch macht, ist der Verzicht auf perfekte Schönheit und Erfolg á la Hollywood. Die Figuren sind alle älter und stehen eher am Rande der Gesellschaft: weder die Kneipenwirtin noch der Gemüsehändler, die Bäckerin oder Marcel haben es wirklich weit gebracht.

Interessant ist der Film, wenn schon nicht durch seine Story, durch Kaurismäkis Stilmittel. Durch sehr statische Bilder wirkt der Film fotografisch und bisweilen wie ein Theaterstück. Selbst in Momenten größter Bewegung, zum Beispiel wenn Idrissa vor der Polizei flieht, bleibt die Einstellung relativ ruhig. Außerdem spielt Kaurismäki intensiv mit Farben, so erscheinen fast alle Räume in Blaugrau, kontrastiert mit dem Gelb eines Kleides und einigen Tupfern Rot.

Insgesamt ist die Geschichte selbst keine Meisterleistung, denn sie erzählt nichts, was man nicht so oder besser wüsste. Wer aber ein eher künstlerisches Interesse am Film hat und sich trotzdem nicht mit einer allzu seichten Geschichte quälen will, ist mit „Le Havre“ gut bedient.

 

Keine Standing Ovations

Besprochen von Linda Stanke

  • FISCHER, Heinz-Dietrich: Picture Coverage of the World. Pulitzer Prize Winning Photos. Lit Verlag 2011. ISBN: 978-3643108449.

Welche Erwartungen weckt ein Buch mit dem Titel Picture Coverage of the World. Pulitzer Prize Winning Photos? Die meisten werden wohl einen Bildband vermuten, der mit ergänzenden Hintergrundinformationen zu den Bildern, den Fotografen und vielleicht noch zur Geschichte des „Pulitzer Prize for Press Photography“ ergänzt wird. Je nach wissenschaftlichem oder künstlerischem Anspruch bestimmen Text oder Bilder die äußere Erscheinung des Werkes. Blättert man durch Heinz-Dietrich Fischers 2011 im Lit Verlag erschienenes Buch, ist man sich der Bestimmung nicht sicher. Da der Textanteil überwiegt, kann nicht von einem Bildband gesprochen werden. Man einige sich also auf die wissenschaftliche Lesart.

Fischer beginnt erwartungsgemäß mit einer Einleitung, in der er seine Absicht zu diesem Buch erklärt („The book at hand attempts to document the evolution of this award“) und sein Vorgehen präsentiert, die Gewinnerfotos aus 70 Jahren „Pulitzer Prize for Press Photography“ kulturell und inhaltlich gewissenhaft einzuordnen.

In der Folge werden auf 233 Seiten alle Gewinnerfotos auf jeweils einer Doppelseite vorgestellt. Das Schema ändert sich nicht: Nach der Nennung der Kategorie („Feature Photography Award“ oder „Spot News/Breaking News Photography Award“), des Jahres, des Fotografen und der Tageszeitung, in der das Foto erschienen ist, geht der Autor in vier Absätzen kurz auf die Juryentscheidung ein, benennt weitere Nominierungen, portraitiert den Fotografen und erläutert knapp das Foto. Die Redundanz ist sicherlich dem Chronikcharakter geschuldet und stört an sich nicht, wenn der Leser einen Bildband erwartet hätte. So jedoch fehlt dem Text die Tiefe: historische oder kulturelle Hintergründe zur Entstehung der Bilder werden zwar gegeben, nicht aber in einen wissenschaftlichen Kontext eingeordnet; die Juryentscheidungen werden nicht analysiert oder kritisch hinterfragt. Der gesamt Text kratzt an der Oberfläche, mehr nicht.

Liest man das Buch hingegen als Bildband, fällt als erstes die schlechte Bildqualität auf. Zwar weist Fischer in seiner Einleitung auf Qualitätsunterschiede hin und begründet dies mit fehlendem Archivmaterial. Dieses Argument wird jedoch hinfällig bei Fotografien neueren Datums, die mit allergrößter Wahrscheinlichkeit digital vorliegen und deren Macher mit Sicherheit kontaktiert werden können, um eine bessere Auflösung des Bildes zu liefern.

Die Frage ist nun: Wenn der Verlag schon viel Geld für Bildrechte ausgibt, warum er das Material dann so lieblos abdruckt? Körnige Schwarzweiß-Fotografien können durchaus Charme besitzen, doch hier hat man sich keine Mühe gemacht, die Bildauflösung zu prüfen oder Kontraste nachzubessern. Das Gewinnerfoto „Severely wounded U.S. soldiers in Baghdad“ (John Moore et al.) aus dem Jahr 2005 beispielsweise ist pixelig. Stan Grossfelds „Shiite moslem orphans playing in Lebanon“ von 1984 ist so schlecht reproduziert, dass man auf den ersten Blick keine kleinen Mädchen mit Hoolahoop-Reifen erkennt, sondern behelmte Marsmenschen wie in Tim Burtons „Mars attacks“ vermutet. In unserem digitalen Zeitalter kann man wirklich mehr erwarten.

Der Kommunikationswissenschaftler Heinz-Dietrich Fischer hat schon zahlreiche Bücher zum Pulitzer Prize veröffentlicht. Dieses hier trägt jedoch nicht zu seiner Reputation bei. Die inhaltlichen Mängel könnte man sogar verschmerzen, wenn der Verlag sich für die richtige Präsentation dieser (informativen, aber nicht wissenschaftlichen) Arbeit entschieden hätte. Diese langweilige und billige Darstellung ist enttäuschend und rechtfertigt den hohen Ladenpreis von 89,90 EUR keineswegs.

 

„Der Duft von Lavendel“

Besprochenvon Camille Buscot

  • Der Duft von Lavendel, Regie und Buch: Charles Dance. Produktion: Großbritannien 2004, Laufzeit: ca. 100 Minuten.

Ein älterer Mann verliebt sich in eine junge Frau. Nichts Untypisches. Doch was, wenn sich eine in die Jahre gekommene Frau in eine jungen Mann verliebt?

Die zwei alten Schwestern, Ursula und Janet (gespielt von Judi Dench und Maggie Smith) leben in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in einem idyllischen Haus direkt an der Küste von Cornwall. Nach einem Sturm wird ein junger Pole namens Andrzej an den Strand gespült. Die beiden Damen nehmen sich seiner an und pflegen ihn. Trotz der anfänglichen Verständigungsprobleme entwickelt sich eine tiefe familiäre Beziehung zwischen Andrzej und den Schwestern. Der junge Mann bringt Leben in den Alltag der alten Damen, Ursula verliebt sich sogar in Andrzej.
Nach und nach erinnert sich Andrzej an seine Liebe zur Musik und zum Geigenspiel. Als die junge attraktive Malerin Olga von dem Talent Andrzejs hört und ihn fördern möchte, wird Ursula eifersüchtig.

Diese Geschichte, die auf einer Kurzgeschichte von William John Locke beruht, könnte an sich sehr interessant sein, denn die Liebe einer älteren Frau zu einem jungen Mann wird sonst nur selten in Filmen angesprochen.
Doch bleibt in dieser Darstellung das Dramaturgische hinter dem Visuellen zurück. Wie so oft bei britischen Filmen ist der Film geprägt von schönen Landschaftsaufnahmen in weichen Farben und schöner (jedoch nicht besonders origineller) Musik, die der prominente Geiger Joshua Bell eigens für diesen Film komponiert hat. Die Handlung bleibt inhaltlich ziemlich flach und zieht sich in die Länge. Dies liegt leider auch an Daniel Brühl, der hier den begabten Gestrandeten lustlos an der Grenze zum Klischee spielt.
Zum Glück können die anderen Schauspieler das wiedergutmachen. Allen voran die beiden berühmten britischen Schauspielerinnen Judi Dench und Maggie Smith, die durch ihre sensible und facettenreiche Spielweise die Beziehung der beiden Schwestern und den Umgang mit der Eifersucht Ursulas sehr gut darstellen und damit den Film aufwerten. Die energische Haushälterin (sehr gut gespielt von Miriam Margolyes, bekannt aus Harry Potter) sorgt für eine Prise des berühmten britischen schwarzen Humors.

Der Duft von Lavendel ist die erste Regie- und Drehbucharbeit von Charles Dance, der bis dahin nur als Schauspieler tätig war (unter anderem Nebenrollen in „James Bond“-Filmen, „Phantom der Oper“ und „Swimming Pool“). Doch leider schafft er es trotz sehr guter Schauspielern nicht, die Geschichte mit ausreichend Tiefe zu erzählen.

Es ist wunderbar, Maggie Smith und Judi Dench zusammen in einem Film zu sehen, doch wird ihnen „Der Duft von Lavendel“ leider nicht gerecht.

 

Gae Bolg „Requiem“

Besprochen von Ronald Klein

Bereits mit dem Vorgänger-Album „Aucassin et Nicolette”, einer Literatur-Vertonung aus dem 13.Jahrhundert, bewies der ehemalige Sol Invictus-Trompeter Eric Roger, dass seine Interpretation mittelalterlicher Musik nichts mit dem Gothic-Crossover-Rummelplatz-Kitsch der üblichen Verdächtigen zu tun hat. Die Totenlieder der aktuellen Veröffentlichung sind den verstorbenen Freunden und Verwandten Rogers gewidmet. Vom einstigen Bombast früherer Gae-Bolg-Werke ist wenig geblieben. Selbst die Trompete muss auf den dritten Titel („Lacrymosa“) warten, um endlich zum Einsatz zu kommen. Ansonsten finden Bläser und Schlaginstrumente nur noch sehr akzentuiert Verwendung. Statt dessen dominiert die Orgel und verleiht den sakral arrangierten Liedern die für das Album typische Färbung. Dazu gesellen sich Chöre, die bisweilen im Kanon agieren. Die andächtige Atmosphäre wird gen Ende durch einen Song gebrochen, der ausgerechnet „Totentanz“ heißt. – Es klingt als wäre die Trauer überwunden und die Lebenden zelebrieren ein ausgelassenen Fest in Einklang mit der Erinnerung an die Toten. Ohne Frage, Gae Bolg gelang erneut ein Album, das mit bisherigen Hörgewohnheiten bricht, aber in seiner Melancholie und Kirchenmusik-Instrumentierung Kompositionen erschafft, die eine dunkle und zeitlose Schönheit besitzen.

 

 

Über „Geschichtsbilder und Zeitzeugen“ von Judith Keilbach

Besprochen von Victor Nono

  • KEILBACH, Judith: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialimus im bundesdeutschen Fernsehen. Lit Verlag, Münster 2008. ISBN: 978-3825811419.

Kaum eine Woche vergeht, in der sich – insbesondere in Deutschland – das Fernsehen nicht mit dem Thema Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen würde. Es scheint, als habe dieser Flow des historischen Fernsehens heute einen Grad an Unübersichtlichkeit erreicht, der fast vergessen lässt, dass auch die mediale Aufarbeitung mit der NS-Zeit selbst eine historische Entwicklung durchlaufen hat.

Diese ist jedoch – so die von der Fernsehwissenschaftlerin Judith Keilbach verfolgte und hier gleich vorweggenommene These – keineswegs allein nur den Ergebnissen historischer Forschung oder politisch interessierter Entschuldungslogik geschuldet, sondern der Eigendynamik des Fernsehens selbst.

In ihrem Buch konzentriert sie sich auf den bisher im Vergleich zu fiktionalen Darstellungen ungleich weniger beachteten dokumentarischen Ansatz des Fernsehens, auf die Geschichtsdarstellung, die immer auch Geschichtsvermittlung war. Nicht um „Schindlers Liste“ geht es also, nicht um ein „Lachen über Hitler“ in seinen verschiedenen Varianten, sondern um die nüchternen Bestandsaufnahmen von filmischen Dokumentaristen, die vorhandenes Bildmaterial auswerten, Originalschauplätze aufsuchen und immer wieder Zeitzeugen befragen, so wie es kinematographische Vorbilder von „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais oder „Shoah“ von Claude Lanzmann einem breiteren Publikum nahebrachten.

Das Buch von Judith Keilbach ist nun die erste umfassende, ausführliche Auseinandersetzung mit dokumentarisch geprägten Fernsehproduktionen, die sich mit Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen. Dabei stellt die Autorin die Figur des Zeitzeugen in den Mittelpunkt, der im Medium Fernsehen eine zentrale Rolle spielt und gleichwohl eine Reihe von medialen Transformationen durchlaufen hat.

Anders als Jacques Derrida im Allgemeinen das Wechselspiel von Zeugnis, Indiz und Beweis in Folge der unaufhörlichen Formen der Remediatisierung beschrieb, wird die Figur des Zeugen bei ihr historisch konkret am Material greifbar. Eines der stärksten Kapitel der Arbeit ist die präzise Analyse der Transformation von Zeitzeugenschaft. So stellt sie eine „Transformation von juristischen Zeugen mit Beglaubigungsfunktion in Zeitzeugen oder ‚Erinnerungsmenschen’“ fest, „deren Status dem von ‚Fakten‘ bzw. ‚Quellenmaterial‘ gleichkommt. Als solche sind sie auch jenseits der juridischen Praktiken von Interesse – beispielsweise für die Geschichtswissenschaft oder das Fernsehen. Hier werden die Erinnerungen produktiv gemacht, um Geschichte zu rekonstruieren oder diese als historische Erfahrung von einzelnen Zeitzeugen zu konkretisieren.“ (S. 147)

Keilbach analysiert dabei die verschiedenen Verfahren, mit denen Zeugenaussagen implizit kommentiert werden, etwa durch die Wahl des Bildausschnitts, der Länge von Einstellungen, deren Quantität, durch Verweise auf andere Zeugen, Voice-Over-Techniken, Schrifteinblendungen usw. Dabei enthüllt sich ein fernsehtypisches Medieninstrumentarium, das sich keineswegs allein in der historischen Bewertung von Quellen erschließt.

Diese medienanalytische Vorgehensweise kann gerade mit Blick auf der NS-Zeit nicht allein nur Historikern überlassen werden, da es bei der medialen Vermittlung nicht allein nur um historische Wahrheit, sondern auch um die Glaubwürdigkeit von Vermittlung geht, die sich mehr denn je an medialen Kriterien ausrichtet.

Denn vom Fernsehen genutzte Zeitzeugen zur Beglaubigung audiovisueller Darstellungen unterliegen selbst Transformationsprozessen; so stellt Keilbach fest: die „Schilderungen [der Zeitzeugen] von vergangenen Ereignissen und ihre körperliche Präsenz fungieren in den Fernsehsendungen inzwischen längst als formale Verfahren zur Authentifzierung der Geschichtsdarstellung und Affizierung der Zuschauer.“ (S. 147)  Tatsächlich „verschiebt sich [ihre Funktion] von der Beglaubigung der Fakten zur Affizierung der Zuschauer und der Bildungsanspruch der Sendungen (historische Aufklärung) wird durch das Ziel der emotionalen Beteiligung überlagert.“ (S 142) Und Keilbach kommt dabei zu dem Ergebnis: „Aktuelle Geschichtsdokumentationen legen sich daher oft nicht auf eine eindeutige Haltung ihren Zeitzeugen gegenüber fest. Vielmehr übernehmen sie je nach argumentativer Notwendigkeit die Statements mal affirmativ oder distanzieren sich von ihnen.“ (S. 212)

Keilbach rekurriert mit dieser Feststellung auf neuere medientheoretische Ansätze wie etwa von Francesco Casetti und Roger Odin, die mit ihrer Unterscheidung in ein Paläo- und Neo-Fernsehen gerade die mediale Eigendynamik zu charakterisieren versuchen und d.h. auch den Funktionswandel des Mediums Fernsehen. Diesen zu analysieren scheint unerlässlich, um den Umgang des Fernsehens mit Zeitzeugen überhaupt beurteilen zu können, wie die Autorin herausstellt.

Leider ist es als Leser nicht immer ganz leicht, in dem von ihr analysierten Material den Überblick zu behalten. Ein ausführlicher, kommentierter filmographischer Anhang, der die behandelten und z.T. gerade auch eher unbekannten Fernsehproduktionen übersichtlich vorstellt, hätte dieses Buch daher sinnvoll ergänzen (und der Verlag das hohe Argumentationsniveau der Autorin unterstützen) können.

Nichtsdestotrotz leistet das vorliegende Buch einen wertvollen Beitrag zur erinnerungskulturellen Debatte der letzten Jahre: Judith Keilbachs Arbeit bietet erstmals ein wichtiges analytisches Instrumentarium zur Analyse historischer Ereignisse im Fernsehen, bei denen Zeitzeugen zu Wort kommen und sich die Frage der Glaubwürdigkeit stellt.

Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik.

Besprochen von Hans W. Giessen

  • BUCKLAND, Michael: Vom Mikrofilm zur Wissensmaschine. Emanuel Goldberg zwischen Medientechnik und Politik. Aus dem Englischen von Gernot Rieder. Avinus, Berlin 2010. ISBN: 978-3869380155.

(Erstmals erschienen in: Information – Wissenschaft & Praxis 62 Jahrgang Nr. 2/3, März/April 2011, 134 – 135.)

Dass sich die Technik, die gesellschaftliche Entwicklung, das Weltwissen immer schneller ändern, ist ein Gemeinplatz. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die Informationswissenschaft vor allem auf die Gegenwart blickt. Dabei ist auch ihre Geschichte überraschend und teilweise ausgesprochen spannend. Ein Beispiel ist die Lebensgeschichte des Emanuel Goldberg (geboren am 31 August 1881 in Moskau, gestorben am 13 September 1970 in Tel Aviv), die in weiten Teilen eine deutsche Lebensgeschichte ist – bis Goldberg in den dreißiger Jahren nach Israel fliehen musste.

Nun war Goldberg kein Informationswissenschaftler im engeren Sinn – sprich: er hat weder Bibliothekswissenschaften noch ein anderes Fach studiert, das als Vorläufer der heutigen Informationswissenschaft gelten kann. Vielmehr war er ausgebildeter Chemiker, zudem Erfinder, Hochschullehrer, Unternehmer, Fotograf und Filmregisseur. Dass seine Biografie dennoch hier gewürdigt wird, hängt damit zusammen, dass auf ihn auch eine Erfindung zurückgeht, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, die aber in der Tat bahnbrechend war: die ,Statistische Maschine’. Sie hat die unterschiedlichsten Wissensbereiche, Techniken und Medien zusammengeführt. Die wichtigsten Medien waren der Mikrofilm, mit dessen Hilfe Dokumente gespeichert wurden, zudem Lochkarten, um Suchanfragen formulieren zu können. Technisch nutzte Goldberg einen ,Kinematographen’; die Dateneingabe erfolgte über ,Telephonie’. Letztlich handelte es sich um ein optisch-elektronisches System, das in einem Bildschirm-Arbeitstisch integriert war, den Goldberg wohl 1931 bereits konstruiert hatte; im zweiten Weltkrieg ist er offenbar durch Bombardierung vernichtet worden. An diesem Arbeitsplatz war es damals schon möglich, Dokumente aufgrund spezifischer Kriterien zu suchen, auszuwählen und abzubilden.

Das klingt nach der fiktiven Memex in Vannevar Bushs berühmten und vielzitierten Essay “As we may think“ aus dem Jahr 1945? In der Tat; und offenbar wusste Bush auch von Goldberg – der mithin der eigentliche ,Erfinder’ dessen ist, wofür Bush in vielen Fußnoten gedankt wird: des Konzepts der Suchmaschine, bis zu einem gewissen Grad auch des Hypertexts. In Wahrheit hatte Bush keinen entsprechenden Apparat in petto, sondern griff nur Ideen dessen auf, was Goldberg 15 Jahre früher realisiert hatte. Aber 1945 war Goldberg in Israel, hatte seine einflussreiche Stellung in Deutschland verloren – wo sich an ihn, den Juden, auch niemand mehr erinnern wollte. Aber auch in Amerika hat ihn nicht zuletzt Bush offenbar bewusst verschwiegen, um den eigenen Stern umso stärker leuchten zu lassen. Erst jetzt hat die neue Biografie von Michael Buckland deutlich gemacht, wer Goldberg tatsächlich war: unter anderem eben auch ein früher Informationsexperte, einer der Begründer der Informationswissenschaft.

Michael Buckland ist emeritierter Professor der School of Information an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Einerseits will er die Geschichte der Informationswissenschaft an durchaus entscheidender Stelle korrigieren. Buckland ist dazu der richtige Mann, mit überlegenem fachlichen Überblick. So wäre allein die Art und Weise, wie er diesen komplexen informationswissenschaftsgeschichtlichen Stoff fachlich wie sprachlich fasst (und etwa technische Erfindungen und Vorgänge anschaulich beschreibt), ein Musterbeispiel souveräner Informationsaufbereitung. Einzige Kritik: Angesichts der Fülle an Namen, technischen Daten und Geräten wäre ein Register wünschenswert gewesen. Immerhin gibt es einen ausführlichen Appendix, in dem Goldbergs Laborerzeugnissen aufgelistet und wohl erstmals eine Gesamtveröffentlichungsliste Goldbergs publiziert wird.

Andererseits ist Buckland von seinem Helden ganz offensichtlich fasziniert, und er taucht tief in diese spannende Verknüpfung von Lebens- und Zeitgeschichte ein. Goldberg stammt aus einer jüdischen Familie, die in Moskau lebte; sein Vater hat es, eine große Ausnahme für einen Juden im zaristischen Russland, zum Offizier, Hofrat und in den Adelsstand gebracht. Bemerkenswert ist, dass der Sohn, obwohl hochintelligent, dennoch nicht an der ,Kaiserlichen Technischen Lehranstalt’ studieren konnte, da die Studienplätze für Juden limitiert waren. Freilich, der junge Mann, der auch Deutsch sprach (angeblich hat ihm seine deutschstämmige Mutter ihre Sprache so beigebracht, dass er akzentfrei redete und als Muttersprachler durchgehen konnte), nutzte dieses Problem virtuos, indem er seine Ausbildung selbst in die Hand nahm. Neben Studien an der Universität Moskau besuchte er Veranstaltungen an den Universitäten in Königsberg, Leipzig und Göttingen, zwischendurch war er auch in London. Er suchte sich die besten Lehrer, in Göttingen etwa Walter Nernst, der 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten sollte, und in Leipzig Wilhelm Ostwald, Chemie-Nobelpreisträger von 1909. Das klingt, wie man sich ein Studium vorgestellt haben mag, als der ,Bologna-Prozess’ konzipiert wurde… Bei Wilhelm Ostwald konnte Goldberg 1906 auch promovieren. Die Arbeit trug den Titel „Beiträge zur Kinetik photochemischer Reaktionen“.

Vor diesem Hintergrund ist es fast kein Wunder mehr, dass er bereits ein Jahr später, nach kurzer Assistenzzeit an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, zum Professor an der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe in Leipzig ernannt wurde, wo er sich zunächst mit den technischen Voraussetzungen der Reproduktionsfotografie befasste. Aber nicht nur – er war immer offen, forschte weiter, dabei stets anwendungsorientiert. Schon damals befand er sich, als einer der wenigen seiner Zeit, an der ,Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine’, denn immer ging es ihm auch darum, was der Mensch aufgrund seiner physischen und psychischen Konstellation nutzen wollte und konnte. Und obwohl er sich stets als Chemiker und Techniker verstand, war er beispielsweise schon im Studium im Kontakt mit Wilhelm Wundt, der damals gerade die Psychologie als empirische Wissenschaft begründete. Seine Lehrveranstaltungen umfassten auch künstlerische Fragestellungen und Themen.

Goldberg war so innovationsfreudig, erfinderisch und anwendungsorientiert, dass er Angebote aus der Industrie erhielt, insbesondere aus England und den USA, dort von Kodak. Aber er wollte in Deutschland, in seiner ,Heimatstadt Leipzig’ bleiben. Dort wurde 1914 sein Sohn Herbert geboren. Aber auch hier kam bald ein sehr interessantes Angebot, das er dann auch annahm. So wechselte Goldberg 1917 auf den Direktorenposten der „Internationalen Camera Actiengesellschaft“. Er war maßgeblich beteiligt, als die ICA 1926 durch Fusionen in die Zeiss Ikon umgewandelt und zum weltweit führenden Unternehmen im Bereich von Fotoapparaten und Filmkameras ausgebaut wurde. Eine beeindruckende, glückliche Karriere; glücklich wohl auch im Privatleben – 1922 wurde als zweites Kind die Tochter Renate geboren.

Auch bei Zeiss Ikon blieb er überraschend innovativ, kreativ, ja spielerisch. Auf der einen Seite war er an Patenten aus den unterschiedlichsten Bereichen beteiligt, von der Luftfotografie bis zur Mikrofotografie. Vielleicht hätte aus Goldberg gar ein deutscher Edison werden können. Natürlich ist es müßig, zu spekulieren, was er noch hätte entwickeln können, wenn er nicht 1933 ausgebremst worden wäre. Zudem war Goldberg nicht nur Techniker und Erfinder, sondern auch, wie Edison, ein kaufmännisch, und, dahingehend den Vergleich sogar übertrumpfend, ein künstlerisch hochbegabter Mann. Er kümmerte sich um Marketingstrategien und drehte, um zu zeigen, wie gut die Kinamo-Filmkamera funktionierte, selbst kleine Minimovies: „Die Drehbücher hatte er selbst verfasst und auch für die Produktion verzichtete er auf Hilfe von außen. In den Filmen traten er selbst, seine Frau, seine Kinder und einige Freunde der Familie als Schauspieler auf“ (121). Aber die Filme waren offenbar alles andere als amateurhaft, wie Buckland betont: „So lässt sich in ihnen eine sehr fachkundige Komposition, ein gekonnter Schnitt und ein ziemlich raffinierter Einsatz von Gegenlicht und Schatten erkennen“ (125). Der noch junge Joris Ivens, später einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer des zwanzigsten Jahrhunderts, besuchte Goldberg, um von ihm zu lernen. In seinem berühmten frühen Film „Die Brücke“ aus dem Jahr 1928, der als einer der ersten Dokumentarfilme auch die Rolle des Filmemachers thematisierte, indem Ivens sich bei der Arbeit zeigt, ist er mit einer Goldbergschen Kinamo-Kamera zu sehen.

Der Bruch kam bereits 1933, als Emanuel Goldberg von SA-Schergen entführt und misshandelt wurde. Immerhin war er in der Position, sich retten zu können. Bis 1937 arbeitete er für eine Zeiss-Niederlassung in Frankreich, bevor er nach Palästina emigrierte. Auch wenn er weiter kreativ und unternehmerisch blieb – er gründete ein Laboratorium, aus dem später die Electro-Optical Industries hervorging, der Nukleus der optischen Industrie Israels –, war es schwer, an die frühen Erfolge anzuknüpfen. So verlief sein weiteres Leben glimpflich im Vergleich zu dem anderer Juden, und insofern war er nach wie vor ein Glückskind. Aber dennoch: Er wurde aus seinem Lebensumfeld gerissen, seine Karriere war zerstört. Was hätte er noch alles entwickeln können, wäre sie weiter so verlaufen, wie sich dies abgezeichnet hatte!

Dass Bucklands Goldberg-Biografie nun auch in deutscher Sprache erscheint, ist eine kleine Wiedergutmachung und Goldbergs Bedeutung absolut angemessen. Dass sie zudem ausgesprochen lesbar und spannend geschrieben ist, macht aus der Lektüre ein intellektuelles Vergnügen.

 

PRO und KONTRA: „Scheißkerle“ vom Roman Maria Koidl

Besprochen

  • KOIDL, Roman Maria: Scheißkerle. Warum es immer die Falschen sind. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. ISBN: 978-3-455-50154-4.

Der vorliegende Titel hat in der Redaktion dermaßen polarisierte Reaktionen ausgelöst, dass wir uns – einmalig in der Geschichte des „besprochen“-Magazins – entschlossen haben, die unterschiedlichen Positionen in einem „Pro“ und einem „Kontra“ wiederzugeben.

KONTRA
von Daniela Nagorka

Bereits nach dem ersten Blick auf Cover und Titel von Roman Maria Koidls „Scheißkerle“ weiß man, was man in etwa von diesem Buch zu erwarten hat, nämlich Betrachtungen zur Verdrossenheit von Frauen gegenüber Männern, ironisches Klagen und Anekdoten über Probleme zwischen den Geschlechtern. Schon nach den ersten drei Seiten hat man dann die Gewissheit: Kein Klischee wird ausgelassen, jedes einzelne wird gnadenlos ausgeschlachtet und nervig zugespitzt. Allein das Cover bedient schon drei davon. Die Farbauswahl soll wohl eine Anspielung auf die kitschigen Vorlieben der Frau sein, der Frosch symbolisiert den (manchmal vorübergehend) verwunschenen Prinzen, den sich jede Frau wohl wünscht, und der Titel steht für das (Vor-)Urteil, dass Frauen die meisten bis alle Männer wegen zahlreicher Enttäuschungen einfach scheiße finden. Rein äußerlich lockt das Buch vermutlich tatsächlich mehr weibliche Leserinnen an.

Liest man sich dann doch ein wenig in den Stoff hinein, wirkt der Autor (zumindest auf die der vermutlich angesprochenen Zielgruppe zugehörigen Rezensentin) allerdings nicht unbedingt als Frauenversteher. Eher im Gegenteil: Einige könnten sich ein wenig veräppelt vorkommen. Einem Mann nimmt man das alles irgendwie nicht so ab, weil man sich fragt, ob er selbst überhaupt versteht, worüber er da schreibt. Diesen ganzen Ratschlägen, Erklärungen und Warnungen fehlt es an Überzeugungskraft und auch Ehrlichkeit, die vermutlich eher vorhanden wären, wenn das Buch eine Frau geschrieben hätte, die es nicht nur oberflächlich beurteilen kann, sondern aus dem Inneren, aus selbst erfahrenen Emotionen heraus.

Dieses Buch dient lediglich der Massenunterhaltung einer bestimmten Zielgruppe, nämlich den weiblichen „thirty somethings“ ohne Partner oder mit einem Exemplar Mann an ihrer Seite, das man eigentlich nie haben wollte. Somit eignet es sich zur Eigentherapie, die notgedrungen allerdings erfolglos bleiben wird – es sei denn, man schwört den Männern komplett ab – , denn der Autor selbst lässt kein gutes Haar an seinesgleichen. Er kann auch nicht umhin, die Single-Frau ab 30 als Unbelehrbare mit Helfersyndrom abzustempeln, die immer wieder an die falschen Männer gerät, also beispielsweise an solche, die sich nicht binden wollen und deshalb vorgeben, noch geschädigt und verletzt aus der vorherigen Beziehung zu kommen, oder solche, die eine Basis für ihre Lügen und Betrügereien schaffen, indem sie zunächst Mitleid erwecken.

Jedenfalls wird eine Frau, die auf Partnersuche ist oder in einer ernüchternden Beziehung steckt und sich an einigen Stellen des Buches wiederfindet, selbst mit einer riesigen Portion Galgenhumor und Selbstironie wahrscheinlich nicht über das Geschriebene schmunzeln können, sondern sich eher im Selbstmitleid baden, weil sie sich durch die Parallelen zu ihren eigenen Erfahrungen in ihrem Unglück auch noch bestätigt sieht. Welchen Zweck verfolgt also dieses Buch? Sollen enttäuschte Frauen etwa ihre allerletzten Hoffnungen begraben, doch noch einen beziehungswilligen und -fähigen Partner zu finden, einen Mann, der ehrlich zu lieben imstande ist?

Vielleicht eignet sich das Werk eher für Männer, die einmal wissen möchten, wie Frauen über sie denken, um über ihr Verhalten nachzudenken und die Frauen einfach mal mit Anderssein zu überraschen, damit sie nicht mehr nur ein Frosch unter vielen sind – falls er das überhaupt will. Der Autor unterstellt dem Großteil der Männerschaft nämlich Vorsätzlichkeit, wenn es um das Betrügen, Demütigen oder Manipulieren von Frauen geht, um mehrere von ihnen parallel beglücken zu können. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass solch strategisches Vorgehen tatsächlich von ihnen gesteuert wird, weil doch vom Autor häufiger betont wird, dass Männer eher einfach gestrickt und leicht zu durchschauen sind. Übrigens werden Frauen, die auf das betrügerische, sadistische Verhalten solcher Typen hereinfallen, vom Autor verständnisvoll als Opfer bezeichnet – analog zur Rechtsterminologie in Fällen von „seelischer Grausamkeit“.

Sicher mag es all diese Fälle geben, dennoch kann wohl niemand behaupten, dass Affären und Liebesbeziehungen allein aus permanenten Machtspielchen, Unterdrückung, Manipulation und Betrügereien bestehen. Gerade in den mittleren Kapiteln verliert das Buch diesbezüglich nämlich jegliche Komik und Ironie. Stattdessen werden ernst gemeinte Erklärungen in der Kindheit und der Erziehung gesucht. So seien beziehungsmissratenen Männern als Kind einfach keine Grenzen gesetzt worden. Und Frauen hätten in ihren Beziehungen noch immer unter Aufmerksamkeitsdefiziten und Verlustängsten zu leiden, wenn sie vom Vater nicht genügend beachtet wurden. Aha, so simpel ist das also. Und die passende Lösung hält der „Experte“ in seinem „Ratschlag-Katalog“ im Anhang unter der Nummer 17 auch bereit: Da helfe nämlich nur noch der Gang zum Psychologen.

War es nun wirklich nötig, dieses Buch zu schreiben? Sobald man sich in einer der darin geschilderten Situationen befindet, bestimmt meist sowieso das Herz über den Kopf. Man wird sich kaum an die Tipps in diesem Ratgeber erinnern, geschweige denn nach ihnen handeln.
Der Autor hat es sich etwas leicht gemacht: Er hat lediglich sämtliche Klischees, Vorurteile, Enttäuschungen, die jeder kennt und denen man täglich begegnet, gesammelt. Die verbitterten Reaktionen der von ihm interviewten Frauen auf seine Belehrungen hat er in teils gewollt lustige, teils schönsprachige Sätze verpackt. Hin und wieder findet man einen intelligent formulierten Satz, was aber nichts am mäßigen Gesamteindruck dieses Buches ändert. Man gewinnt keinerlei Mehrwert bei der Lektüre dieses Buches, außer vielleicht, der Leser ist ein Mann, der Nachhilfe in dem bekommen möchte, was seine Geschlechtsgenossen nach Meinung des Autors naturgemäß am besten können …

 

PRO
von Leif Allendorf

Es wird wohl kaum einen Leser geben, dem beim Lesen dieses Buches nicht auf Anhieb drei Personen im Bekanntenkreis einfallen, die exakt dem von Roman Maria Koidl beschriebenen Muster entsprechen. Gute Freundinnen, die an einem Partner festhalten, über dessen Benehmen ein halbwegs vernünftiger Mensch nur den Kopf schütteln kann, Bekannte, die verzweifelt darauf warten, „dass er sich noch meldet…“. Doch der Autor beschränkt sich glücklicherweise nicht darauf, einen Missstand zu thematisieren und zu beschreiben. Stattdessen geht er minutiös den Verhaltensstrukturen auf den Grund, die es möglich machen, dass kluge attraktive Frauen Mitte dreißig wertvolle Zeit, manchmal sogar Jahre damit verschwenden, einem Mann nachzulaufen, der dies offenbar nicht verdient.

Liebesbeziehungen rühren an den empfindlichsten und verletzlichsten Teil unseres Selbst. Eine Enttäuschung ist hier notwendig eine Katastrophe, ein Scheitern die totale persönliche Niederlage. Eine Bindung aufzubauen dauert Jahre, sie zu zerstören kann eine Sache von Minuten sein. Außerdem hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Zusammenleben nur zum kleineren Teil aus romantischen Momenten besteht – und beiderseits großer Geduld bedarf. Ist es da nicht angemessen, an einer Partnerschaft festzuhalten, auch wenn sie einer längeren Krise unterworfen wird?
Im Prinzip ja. Die Sache wird nur problematisch, wenn hier mit falschen Karten gespielt wird, wenn beispielsweise wie in Koidls Fallstudie die Frau ihrem Partner (oder Verehrer, oder verheiratetem Liebhaber) einen Vertrauenskredit einräumt, den dieser nicht im Traum zurückzuzahlen gedenkt, sondern im Gegenteil vorhat, das Konto so weit wie möglich zu überziehen und sich mit dem Gewinn aus dem Staub zu machen. Diese persönlichen Dramen nachvollziehbar zu machen, in diesen individuellen Schicksalen ganz simple objektiv nachvollziehbare Verdachtsmomente, Indizien und Beweise aufzuzeigen, mit Koidls Worten „Spiele aufdecken und sie beenden“: das ist das große Verdienst von „Scheißkerle“, einem Ratgeber, für den besonders spricht, dass er sich sehr skeptisch zu Ratgeberbüchern äußert.

Über weite Strecken gibt der Autor wider, welche Geschichten er sich von Frauen aus seinem Bekanntenkreis anhören musste und wie die Betroffenen ganz offensichtlich schreckliche Beziehungen schönredeten und auf eindeutig hoffnungslose Fälle setzten. Es folgt die Schilderung vergeblicher Versuche, mit logischen Argumenten das Netz aus Selbstbetrug zu zerreißen. Abschließend versucht Roman Maria Koidl, Erklärungen dafür zu finden, dass kritische Frauen ihre Kritikfähigkeit verlieren, vernünftige Menschen sich in völlig illusorischen Hoffnungen ergehen und Personen, die sich im Leben sonst sehr gut durchzusetzen wissen, sich plötzlich hin- und herschubsen lassen. Da ist der jedem Menschen innewohnende Wunsch, geliebt zu werden und die Angst, einsam zu werden und zu bleiben. In extremen Fällen hat eine verkorkste Beziehung zum Vater die Tochter so sehr geschädigt, dass sie sich unbewusst in aussichtslose Partnerschaften einlässt, um sich in ihrer Verbitterung bestätigt zu sehen.

Natürlich hat Koidls Sammlung von Fallstudien auch Schwächen. So gehört die Vorstellung, dass Männer nur „das eine“ wollen, während es Frauen nur um „das Gefühl“ geht, in die Mottenkiste. Auch die wiederholte Beteuerung, Frauen seien eh die besseren Menschen, bewegt sich irgendwo zwischen Galanterie und Schleimerei. Entscheidend ist, dass Koidl ein nobles Ziel verfolgt: Die Tricks und Kniffe der „Scheißkerle“ kann er als Mann unbefangen öffentlich machen. Würde eine Frau dies tun, so hätte es einen faden Beigeschmack. Und damit erweist Koidl sich wirklich als Kavalier.

 

Rendezvous statt Kampf der Kulturen?

Besprochenvon Hans W. Giessen

  • COURBAGE, Youssef/ TODD, Emmanuel: Die unaufhaltsame Revolution: Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. Piper, München 2008. ISBN 978-3492051316 Pick It!

Der französische Originaltitel „Rendezvous der Kulturen“ („Le rendez-vous des civilisations“) ist natürlich eine Reaktion auf Samuel Huntingtons vielbeschworenen „Kampf der Kulturen“ („ Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“) von 1996, dessen vieldiskutierte These besagt, dass die Konfliktlinien auf der Welt entlang kultureller – eigentlich: religiös-ideologischer – Großräume verlaufen. Der 11. September 2001 wurde vielfach als dramatischer Beleg für Huntingtons Szenario empfunden.

Youssef Courbage und Emmanuel Todd leugnen den Einfluss Huntingtons auf die öffentliche Meinung im ,Westen‘ natürlich nicht, und ebensowenig, dass die islamischen Länder einen speziellen Kulturraum darstellen – ansonsten hätten sie ihren Titel anders wählen beziehungsweise ihr Thema anders einkreisen müssen. Natürlich streiten sie auch nicht den ideologisch begründeten Hass vieler junger Muslime auf den Westen ab. Allerdings gehen die Autoren davon aus, dass die Kultur nur eine unter mehreren Variablen ist, die menschliches Verhalten prägt – in ihren Augen ist sie nicht einmal die wichtigste Variable. Soziale und insbesondere demographische Variablen seien letztlich wichtiger. In ihrer Analyse sozialdemographischer Daten finden Courbage und Todd nun Hinweise, die Huntington (zumindest) die Brisanz nehmen: Auch der islamische Kulturkreis werde von den Kräften der modernen Welt erfasst; dies führe auch dort zu mehr Rationalität – die Globalisierung ist stärker als der Kampf der Kulturen.

Youssef Courbage ist gebürtiger Syrer und arbeitet heute als Forschungsdirektor am Institut National d’Études Démographiques in Paris. Emmanuel Todd, Urgroßcousin des Anthropologen Claude Lévy-Strauss, ist am selben Institut tätig. Ihre demographischen Daten sind eindrucksvoll. Zunächst stellen sie eine Wechselwirkung zwischen Bildung und Geburtenraten fest. Sie können zeigen, dass überall, wo Frauen Lesen und Schreiben lernen konnten, die Geburtenzahl rückläufig ist. Analphabetismus nimmt (auch) in der arabischen Welt deutlich ab; gleichzeitig sinken die Geburten pro Frau vom hohen einstelligen Bereich (sechs bis acht, in vielen Fällen über zehn Kinder) auf durchschnittlich rund zwei Kinder. Die Geburtenraten der islamischen Länder nähert sich also rapide denjenigen an, die wir seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus anderen Kulturkreisen kennen: natürlich aus Europa, aber beispielsweise auch aus Ostasien.

Das Buch ist wichtig, weil es strukturelle Variablen aufwertet, die in kulturwissenschaftlichen Diskussionen häufig übersehen werden – Huntington, um ein letztes Mal seinen Namen zu nennen, berücksichtigte eben nur kulturell-religiös-ideologische Parameter und kommt so nach meinem Dafürhalten zu einer Überbewertung scheinbar unüberwindlicher Gegensätze. (Im Übrigen: Courbage und Todd führen die Auseinandersetzung mit Huntington nicht explizit; vielleicht geht der Titel vom „rendez-vous des civilisations“ lediglich auf Marketingüberlegungen des Verlags zurück.).

Dass gerade demographische Variablen von großer Bedeutung sein können, zeigen komparatistische Beobachtungen zum „youth bulge“, wonach ein überproportionaler Anteil von jugendlichen Männern ohne ökonomische oder auch nur karrieremäßige Perspektive in auffälliger Häufigkeit mit Unruhen, Kriegen, Eroberungen, aber auch Bürgerkriegen und chiliastischen Bewegungen korreliert. Das war im Europa der frühen Neuzeit nicht anders als heute in der islamischen Welt. Wenn also die Demographie eine Abschwächung dieses „youth bulge“ andeutet, ist dies vermutlich ebenfalls nicht ohne Konsequenzen. Ich vermute, dass es doch zu simplifizierend ist, daraus eine kulturelle Konvergenzentwicklung abzuleiten – dass dieses Faktum aber ebenfalls kulturell wirksam ist, scheint ebenso einleuchtend. Darauf hingewiesen und es mit eindrucksvollem Zahlenmaterial illustriert zu haben ist das große Verdienst dieses Buches.

Allerdings scheinen mir Autoren in ihrem Bemühen, durch Aufwertung der früher allzu oft vernachlässigten sozialstrukturellen Variablen die globalen Entwicklungen besser zu verstehen, mitunter ins Gegenteil zu verfallen und kulturell-religiös-ideologische Parameter (oder auch nur den Wechselwirkungen zwischen Kultur und Struktur) zu wenig Bedeutung beizumessen. Ein Beispiel für diese einseitige Überbewertung ist die Annahme, die Alphabetisierung führe quasi zwangsläufig zu einer rationaleren Gesellschaft. Ein simples Gegenbespiel dazu wären die Irrationalismen, die in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts Deutschland beherrscht hatten, ein alphabetisiertes Land, das „Land der Dichter und Denker“. Solche Über- und Fehlbewertungen ändert jedoch nichts daran, dass die Mitberücksichtigung struktureller (soziodemographischer) Variablen eine Erweiterung unseres Verständnisses menschlichen Verhaltens ermöglicht.

 

„Es wird alles gut, mein Schatz!“ – Paolo Virzis Tragikkomödie „Das ganze Leben liegt vor dir“

Besprochen von Ulrike Frenzel

  • Das ganze Leben liegt vor dir, Regie: Paolo Virzì, Produktion: Italien 2008, Laufzeit: 117 Minuten.

Der italienische Regisseur Paolo Virzi erzählt die tragischkomische Geschichte der frischgebackenen Philosophieabsolventin Marta. Ihr perfekter Abschluss bringt ihr zwar viele lobende Worte ein, ist ihr bei der Arbeitssuche allerdings keine Hilfe. Und so führt Martas Überlebenskampf auf dem Stellenmarkt unerwartet in die schillernde Callcenterabteilung der Firma „Multiple“, für die sie nun halbtags ein fragwürdiges Multifunktionsküchengerät an Hausfrauen verkaufen soll. Marta, charmant und lebensfroh, stürzt sich voll Optimismus auf ihre neue Aufgabe und ist zur eigenen Überraschung so erfolgreich darin, Kundinnen über den Tisch zu ziehen, dass sie schnell zu Multiples bester Telefonistin wird.

Verwirrt über die eigene Skrupellosigkeit, befremdet von der sektengleichen Leistungsideologie des Callcenters, überfordert von ihrer neuen Rolle als arbeitendes Mitglied der Gesellschaft und mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie nicht ganz sicher, ob das nicht alles nur ein großer Scherz ist, durchlebt sie alle Facetten ihrer neuen Arbeit.

Aber sie gehört nie wirklich dazu. Sie versucht, die außerirdische Parallelwelt mit seinen indoktrinierten Verkäufern und eitlen Chefs philosophisch zu ergründen, nutzt ihren philosophischen Überbau letztendlich aber dazu, in diesem System noch effektiver zu funktionieren. Durch ihre Augen beobachtet der Film das Arbeitsleben, ironisiert es, ohne Lösungen anzubieten. Das erfolgsorientierte Callenter ist nicht brutaler als der Rest der Gesellschaft und auch wenn hier am Ende die Lichter ausgehen, ist Multiple in der Filmwelt nur ein kleiner Fisch. Dem Unheil ist nicht beizukommen. Das Gefühl stellt sich erst recht ein, wenn Marta stellvertretend für die ganze Zunft mit den gut gemeinten Hilfsangeboten des engagierten, aber naiven Gewerkschafters Conforti abrechnet. „In Wahrheit verhaltet ihr euch nur großkotzig. Eure Schäfchen sind im Trockenen, ihr kriegt ein festes Gehalt und eure Frauen warten zu Hause.“ Der Niedriglohnsektor ist in seiner Dynamik für althergebrachte Kontrollmechanismen nicht mehr greifbar. „Was erwartest du von ihnen? Für sie ist dieser Drecksjob die einzige Chance, die sie haben“, kommentiert Marta frustriert das Los ihrer leicht manipulierbaren Kolleginnen, die froh sind, überhaupt eine Arbeit gefunden zu haben. Ob das so stimmt, ob sie wirklich keine Wahl haben, bleibt dem Zuschauer überlassen.

Der Film ist bitter, ohne seinen Optimismus einzubüßen. Sonnige, strahlend helle Filmfarben transportierten eine vernichtende Gesellschaftskritik. Der Schluss ist versöhnlich, wirkt aber höchstens auf den ersten Blick als Happy End. Marta findet weder Schutz in einer sicheren Anstellung noch in einer neuen Liebe. All ihre bis zur Lebensunfähigkeit verblendeten Multiple-Kolleginnen werden lediglich in eine unsichere Freiheit entlassen, mit der sie nichts anzufangen wissen. Kein Hollywood, kein Märchen. In Wahrheit wird nichts abgeschlossen. Und ohne Geld geht es nun mal nicht. Trotz all der Ironie und Absurdität, mit der der Film aufwartet, lässt er einen mit dem unguten Gefühl zurück, dass vieles gar nicht wirklich überspitzt ist. Aber ganz bestimmt wird alles gut …