Über ‚Von der Ökonomie der Leidenschaften zur Leidenschaft der Ökonomie. Adam Smith und die Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert‘ von Eleonore Kalisch

Besprochen von Simon Pühler

Die Theaterhistorikerin Eleonore Kalisch hat sich in ihrem neuesten Buch mit der Actor-Spectator-Kultur im 18. Jahrhundert und diesbezüglich vor allem mit dem schottischen Moralphilosophen (und Begründer der klassischen Volkswirtschaftslehre) Adam Smith (1723-1790) befasst. In der Geschichte der Moderne stelle Smith einen „maßgeblichen Modellfall“ dar, da er die Bedeutung der Zuschauerposition erkennt, herausstellt und gleichsam „in die Struktur sozialer Wechselwirkung“ miteinbezieht. Dies ist insofern neu, als das Soziale seitdem als „Spiel zu dritt“ beschrieben werden kann, d.h. Kommunikation braucht jeweils einen Dritten, welcher das Verhältnis zwischen sozialen Akteuren nicht nur beobachtet und gegebenenfalls (vertraglich) reguliert, sondern den Akteuren auch die Möglichkeit bietet, sich selbst zu erkennen und damit auf eigene Fehler bzw. blinde Flecken aufmerksam zu werden.

Das Unbewusste eines gespaltenen Selbst kündigt sich hier an, jedoch ist das rettende – dritte – Moment bei Smith nicht mehr durch Deus-ex-machina garantiert, sondern muss von den Akteuren selbst geleistet werden: Mitgefühl und Sympathie sind dann gefragt, ein imaginatives Hineinversetzen in die andere Person, ein „imaginary change of situation“. Die Positionen des Akteurs und des Zuschauers sind in diesem Spiel – wie auch im gesellschaftlichen Verkehr – jedoch keineswegs starr festgelegt, sondern unter den Teilnehmern wechselbar und sogar gleichzeitig besetzbar. Laut der Autorin folgt daraus, „dass es sich hier um einen einbezogenen Zuschauer handelt, einen Zuschauer im Handgemenge, der sich nicht auf die reine Kontemplation zurückziehen kann, dennoch muss er einen Schritt zurücktreten können, um ein Mindestmaß an Distanz zu gewinnen“. Allein diese Feststellung ist für das Theater und für die Philosophie im 18. Jahrhundert schon deswegen interessant, da sich einerseits zu dieser Zeit eine Trennung des Zuschauer- und Bühnenraums (im englischen Theater) vollzog, andererseits da sich jene Erkenntnistheorien, die das Absolute (der reinen Kontemplation) im Andern einer säkularisierten Lebenswelt zu verorten suchten, sei es nun Descartes´ reiner Geist oder später Hegels absolutes Wissen, bereits hier als schwierig – wenn nicht sogar als unmöglich – erweisen. Das Handgemenge wird unauflösbar sein, die Trennung zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung gelingt nie so ganz.

Kritik musste sich Smith hinsichtlich seiner Theorie des mitfühlenden Beobachters, die heutzutage (wenn auch in abgewandelter Form) in viele Disziplinen Eingang gefunden hat – wie z.B. in die Sozial- oder Kommunikationswissenschaften, vor allem von Henry Home gefallen lassen. Dieser wirft dem Moralphilosophen vor, dass es eben keinen unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen anderer gäbe (vor allem dann, wenn es sich um starke Emotionen wie Leid und Schmerz handele). Nach Home sei eine Partizipant-Spectator-Struktur nur dann gewährt, wenn eine soziale Situation in ihrer Zeichenhaftigkeit erkennbar und lesbar werde. Er liefert sozusagen eine Ergänzung zu Smith´ Theorie, indem er diese um die ausdruckssemiotischen Zeichen – wie sie sich in Mimik, Haltungen und Gesten mitteilen – erweitert. Trotz der universellen Lesbarkeit dieser willkürlichen und unwillkürlichen Zeichen, ein Code, der mit Foucaults klassischer Episteme der Repräsentation korreliert, muss eingeräumt werden, ob es nicht gerade dieser Code sei, welcher das Reale – das Augenblickliche, Kontingente und Individuelle – der Gefühle und Körperregungen von vornherein verfehlt. Jenes Spiel (interplay), das von den äußeren Erscheinungen auf eine Innerlichkeit schließen lasse, erweist sich als ein kompliziertes Beziehungsgeflecht (innerhalb und außerhalb des Theaters), das zudem die negative Eigenschaft besitzt, zu verschleiern und zu täuschen. Vor diesem Hintergrund wird nicht nur Smith´ Primat der Sympathie ambivalent und unsicher, sondern es deuten sich auch die „Probleme des fiktionalen Schreibens, der Moralphilosophie, der Ästhetik und Epistemologie“ an, die laut Kalisch ein „kulturelles Paradigma der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts“ bilden. Dieses Paradigma stellt die Autorin äußerst kenntnisreich und differenziert in den einzelnen Kapiteln ihres Buches vor.

Und schließlich wird auch die Figur des Dritten in dieser Konstellation problematisch, denn was in einem imaginären Situationswechsel als Sympathie für den anderen und dann bestenfalls als Integration von unterschiedlichen Sichtweisen erscheint, muss sich noch lange nicht konstruktiv auf den sozialen Verkehr auswirken, sondern kann ebenso gut dem Illusorischen der Einbildungskraft verhaftet bleiben. Erst Gesetze, Verträge und Absprachen (wie auch Zeugen, Notare und Richter) schaffen ein verbindliches Regulativ (fair play), das symbolisch wirksam wird und dauerhaft trägt. Es ist fraglich, ob dieses Regelwerk der entstehenden commercial society noch von jenem leidenschaftlichen Einfühlungsvermögen bzw. von jener Sympathie zeugt, wie sie die spektatorische Situation im Theater ermöglicht und benötigt. Hier kommt vielmehr der sogenannte Impartial Spectator zum Zuge; „und zwar ist es insbesondere jener Spectator, von dem wir am wenigstens Sympathie und Nachsicht erwarten dürfen, der uns die nachhaltigste Lektion über Selbststeuerung erteilt“, schreibt Smith in einem seiner Hauptwerke, der Theory of Moral Sentiments. Doch um an einer spektatorischen Situation überhaupt teilnehmen zu können, sind noch ganz andere Dinge notwendig – u.a. sozialer Status, Bildung oder Vermögen. Der Niedriggeborene wird – obwohl Smith dies zu widerlegen versucht – wohl kaum in den Genuss dieser speziellen Situation kommen.

Die Kultur der sympathy und sensibility erforscht Kalisch allerdings nicht nur in Bezug auf theatergeschichtliche oder dramaturgische Fragestellungen, auch wenn das Theater und – damit verbunden – das spektatorische Ereignis den Bezugsrahmen ihrer umfangreichen Analyse bedeuten. Was dieses über 400-seitige Werk besonders auszeichnet, sind die medien- und kulturwissenschaftlichen Kapitel und Anmerkungen. So rekonstruiert sie eine der medientechnischen Voraussetzungen der Episteme des 18. Jahrhunderts, nämlich das Mikroskop bzw. den mikroskopischen Blick, mit dem sie Körper- und Theaterräume erkundet und neu vermisst. Auch die aus heutiger Sicht bizarr anmutenden Forschungen des Mediziners Albrecht von Haller um 1750 lässt sie in neuem Licht erscheinen. Denn seine grausamen Reiz- und Läsionsexperimente am Tierkörper, der hier stellvertretend für den menschlichen stand und an dem das Organ der Seele erkundet werden sollte, spiegelten auf experimentelle Weise das Sinnbild einer ganzen Epoche wider: Reizbare und gereizte Nerven, wie sie Hallers Kollege George Cheyne in seinem Buch The English Malady bereits 1733 seiner ganzen Nation attestiert hatte. – Und die dann sogar in Form von nervous disorder in die Literatur eingingen (sei es z.B. in Richardsons Clarissa und in Lessings Miss Sara Sampson, die Kalisch ausführlich behandelt).

Nach einer umfassenden Darlegung des Sympathie-Begriffs und einer soziologischen Untersuchung der Londoner Clubszene jener Zeit, wendet sich die Theaterwissenschaftlerin wieder hochspannenden, medientheoretischen Überlegungen zu: Es geht um Maschinenbegriffe und um die Herleitung der „unsichtbaren Hand“, dem wohl prominentesten Begriff aus Adam Smith´ Schriften. Erstaunlich ist, dass Smith zwischen symbolischen und imaginären Systemen bzw. Maschinen unterscheidet und erkannt hat, dass die symbolische Maschine der geistigen vorausgeht. In diesem Sinne lässt sich – ähnlich wie es bereits in Julien Offray de La Mettries Mensch-Maschinen-Konzept von 1748 anklingt – der Geist als technisches Modell begreifen. Diese Sichtweise wird erst wieder in der Kybernetik oder der strukturalen Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts aktuell und ist ihrer Zeit also weit voraus. Die „unsichtbare Hand“ macht sich u.a. darin bemerkbar, dass sie bestimmte Erkenntnislücken oder Differenzen – wie sie sich gerade in der Betrachtung der Technik zeigen – beseitige. Dieses imaginär gesteuerte Vervollkommnungs- bzw. Rückkopplungsprinzip wirkt sich dann wiederum auf die Fortentwicklung der Maschine aus, sprich Maschinen werden (gleich einer teleologischen Bestimmung) immer besser an ihren bestimmtem Zweck angepasst und in diesem Sinne auch einfacher. Im modernen, kybernetischen Sinne wäre die „unsichtbare Hand“, die Smith jedoch in einem ökonomischen Zusammenhang beschreibt, nichts anderes als ein Steuerungselement, das den vom Soll-Wert abweichenden Ist-Wert misst und entsprechend korrigiert. Psychoanalytisch betrachtet ist dies auch im Bewusstsein der Fall, das stets zwischen Ideal-Ich und Ich-Ideal vergleicht, unbewusst rechnet und somit gewisse imaginäre Effekte hervorruft. Jede spekatorische Situation wird von dieser selbstregulierenden Funktion im Unbewussten geprägt.

Es wäre spannend zu wissen, inwiefern Smith´ Denkfigur der unsichtbaren Hand schon eine Vorwegnahme des dynamischen Unbewussten sei, das erst ein Jahrhundert später von Sigmund Freud (auf dem Niveau von Dampfmaschinen) und nachfolgend von Jacques Lacan (auf dem Niveau von Digitalcomputern) beschrieben wird. Dies bleibt leider offen – und würde den Rahmen der Untersuchung vielleicht auch sprengen. Dennoch stellt die Autorin am Schluss ihres Buches Bezüge zur Gegenwart her, indem sie auf sozialpsychologische und systemtheoretische Aspekte der „unsichtbaren Hand und d(er) vielen sichtbaren Hände“ eingeht. Es ist verblüffend, wie Smith´ Denkfiguren und moralische Prinzipien heutzutage z.B. in der Bewertung des globalisierten Wirtschaftsgeschehens wieder relevant werden, wenn er z.B. schreibt: „Jeder Kapitaleigner sei bei gleichen oder auch bei nur fast gleichen Profiten (…) von selbst geneigt, sein Kapital in der Weise anzulegen, die dem einheimischen Fleiße die meiste Unterstützung zu gewähren und der größten Anzahl von Menschen in seinem Lande Einkommen und Beschäftigung zu verschaffen verspricht.“ Ein Hinweis, den sich jene global players, die die selbstregulierenden Kräfte des lokalen Marktes schon weitgehend eingeschränkt oder sogar außer Kraft gesetzt haben, einmal beherzigen sollten!

Eleonore Kalisch hat mit ihrer vorliegenden Arbeit einen herausragenden Beitrag zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts geliefert, der weit über das Theater und die Culture of Sensibility in England hinausgeht und an aktuelle Fragestellungen, wie sie die Kommunikationstheorie oder (Wirtschafts-)Ethik umfassen, anschließen. Kalischs im Berliner Avinus-Verlag erschienenes Buch ist nicht nur mit zahlreichen Abbildungen ansprechend gestaltet, sondern für eine wissenschaftliche Publikation auch sehr verständlich geschrieben. Ein Manko – oder vielleicht doch ein Pluspunkt? – ist die Länge des Buches und die Fülle an (Detail-)Informationen, die den nicht so fachkundigen Leser manchmal etwas überfordern können und den roten Faden an einigen Stellen vermissen lassen. Die eine oder andere Zusammenfassung zwischen den Kapiteln dieses – wie Kalisch selbst im Klappentext ankündigt – „panoramatischen Epochenbildes“ wäre vielleicht von Vorteil gewesen. Doch mit Adam Smith könnte man dem relativierend entgegen halten: „Nur in einer groß angelegten Konstruktion wird vermieden, im Dickicht der Details die Übersicht zu verlieren.“

 

Über „Tote Saison“ von O.P. Zier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • ZIER, O.P.: Tote Saison. Residenz Verlag, St. Pölten; Salzburg 2007. ISBN 978-3-7017-1485-8 Pick It! .

Womit sieht sich der Leser dieses Kriminalromans von Anfang an konfrontiert? Mit dem ganz normalen Wahnsinn und der fanatischen Scheinheiligkeit einer durch und durch verkehrten Welt. Mit einer bizarren Farce über den Parteienfilz im Salzburger Land. Mit der geballten Niedertracht von zu jeder Schandtat bereiten Parteioberen und ihren liebedienernden Chargen, die für ihre Kariere alles zu tun bereit sind. Mit dem menschlichen Müll und Ausschuß, den die brutalisierte bürgerliche Gesellschaft in Hülle und Fülle nicht nur produziert, sondern in selbstdarstellerischer Absicht ihren abgründigen Zwecken dienstbar zu machen weiß. Mit Verschwörungen, ihren Machern und ihren schmarotzenden Theoretikern und wohlmeinenden interpretierenden Auslegern.

Womit also? O.P. Zier sagt es ohne Umschweife und gerade heraus: „Mit erkennbarer Verbitterung führte der Altlandeshauptmann, den in seiner Jugend die Ideen der christlichen Soziallehre begeistert hatten, aus, dass das größte Interesse der Partei momentan darin liege, eine Wirtschaftspolitik zu etablieren, bei der ein Unternehmen keine Mitarbeiter mehr kenne, sondern einzig und allein unerfreuliche Faktoren auf der Kostenebene, die seitens des Managements unter keinen Umständen mehr als menschliche Wesen gesehen werden dürften, weil sich solche Sentimentalitäten nur negativ auf die Bilanzen auswirkten. Um die daraus entstandene schiefe Optik auszugleichen, planten der Wirtschaftsflügel und befreundete Unternehmen groß angelegte Humanitäts-Events, konzipiert von professionellen PR-Beratern“. Es gehe nämlich letztlich darum, „das karitative Image der Partei … in den Menschen (zu) verfestigen, wenn man ihnen schon keinerlei soziale Sicherheiten mehr zugestehen könne.“ (383)

Das kommt einem seltsam vertraut vor, auch dann, wenn man mit den Ideen des sogenannten Neoliberalismus nicht gleich etwas anzufangen weiß … Denn wer kennt sie nicht oder hat jedenfalls von ihnen gehört, den „Chefleuten, die misstrauisch jedes Quäntchen Energie, das nach Dienstschluss noch in ihren Mitarbeiterinnen steckte, in die Nähe eines Diebstahls rückten. Kraft für sein eigenes Leben schien so ein halbes Kind in den Augen seiner Dienstgeber abends mitzunehmen wie unrechtmäßig vom Arbeitsplatz Entwendetes.“ (198) Und auch das gehört zum Altagsgeschäft jedes Politprofis, ganz unabhängig davon, welcher Partei er sich gerade zurechnet, seine Ausübung von Macht als eine „neue riesige Herausforderung auf sich“ zu nehmen, „um auch auf diesem Platz in großer Demut und mit ganzer Kraft und Hingabe“ beispielsweise Deutschland „zu dienen“. (385) „‚Und wie wurde Franz zum hoch dotierten Leiter dieser Einrichtung? Ahnungslose aufpassen!‘“ (233)

Das alles klingt sehr nach einem moralisch-angestrengten und anstrengenden, womöglich selbstgerechten Strafgericht. Ist es aber nicht, wie schon die frohgemut und launig angekündigte Aufklärung verdeutlicht. Denn in diesem Roman macht der Ton die Musik. Und dieser Ton hat es, die oben angeführten Beispiele belegten dies bereits, in sich und faustdick hinter den Ohren. Er ist betont kühl und sachlich, dabei jedoch getragen von schwebender und leichter Ironie. Dann wieder, vor allem im ersten Viertel, vernimmt man, dezent abgemildert, Anklänge an Thomas Bernhards besessenes und vernichtendes Daherschwadronieren vor dem Hintergrund eines wiederum und auch hier politisch motivierten Absurditätenkabinetts und eines in abscheulichster Verlogen- und Abgefeimtheit praktizierten und gehässig inszenierten Psychoterrors.

Genau hierin liegt das Geheimnis des Gelingens dieses ‚Schlüsselromans‘. Zwar permanent anzuklagen ohne zu klagen. Kühlen Kopfes und nüchtern eine, man mag es kaum glauben, lebensvolle Allegorie – wo Allegorien es normalerweise doch an sich haben, kühl, frostig und lebensfern zu sein – auf die Machenschaften der politisch Mächtigen und ihrer berechnenden Erfüllungsgehilfen aufs Papier gebracht zu haben. Das hat was, ist lehrreich und unterhält trotzdem prächtig.

Aber dieser spektakuläre Mordfall in der „toten Saison“, also im nieselig-tristen Alpenvorwinter, mit dem skandalöserweise wirtschaftlich so gar nichts los ist, hat vom Autor noch eine Dimension verpaßt bekommen, die einen sofort an Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ denken läßt, genauer an die in seinem ersten Teil im Zentrum stehende „Parallelaktion“. Unter diesem Decknamen, dies sei in Hinblick auf diejenigen resümiert, die diesen unglaublichen Roman eines anderen Österreichers (noch) nicht gelesen haben, verbergen sich die Vorbereitungen hochgestellter Persönlichkeiten, die das für 1918 zu erwartende 70-jährige Regierungsjubiläum des „Friedenskaisers“ Franz Josef gegenüber dem gleichzeitigen bloß 30-jährigen Kaiser Wilhelms II. zu glanzvollem Ausdruck und einem nie dagewesenen Event ausgestalten wollen. Eine Idee muß her, eine Jahrhundert- oder, besser noch, eine Jahrtausendidee, die alle bisher dagewesenen Ideen als läppisch und lachhaft erscheinen läßt und ausnahmslos in den Schatten stellt. Sie wird, so viel sei verraten, nicht wirklich gefunden. Das ganze verläuft sich irgendwie oder wird von der Realität eingeholt, nämlich der wüsten Begeisterung für die als groß empfundenen Begleitumstände des Weltkriegs Numero Eins. Denn ohne daß die Beteiligten und heillos Involvierten es zunächst selbst so recht bemerken, werden all ihre grotesk anmutenden, wichtigtuerisch-aufgeblasenen Bemühungen um das Finden der „erlösenden Idee“ in den enthusiastisch begrüßten Ausbruch des ‚Ringens der Völker‘ münden. Und das geplante „Weltösterreichjahr“ 1918 wird sich ironischerweise als das des Zusammenbruchs beider Monarchien erweisen. Was für ein Jokus. Es ist zum Totlachen, wenn es nicht so aberwitzig traurig wäre.

Genau diese Atmosphäre tieftraurigen Gelächters herzustellen ist auch O.P. Zier gelungen. Depravierten Charakteren, die einzig und allein die Größe des eigenen Landes und – mitlaufend – ihre eigene in ihren Köpfen haben, ist vieles zuzutrauen. Unter anderem auch dies, das Gebirgsmassiv der Hohen Tauern auszuschaben oder auszuhöhlen, um den wirtschaftlichen Unwägbarkeiten der toten Saison machtvoll begegnen zu können. „‚Liebe FT-Mitglieder, vergesst das niemals: Alle Vorgaben, die aus dem MKZ des FT kommen, sind ab sofort für die Menschheit bindend!‘“ (311) Der Leser reibt sich die Augen und fragt: ‚Wie dies?‘ ‚Wovon, um Himmels willen, ist hier die Rede?‘ ‚Wer spricht? Ein Politiker der Alpenrepublik oder etwa einer von jenseits des Atlantik? …‘

Ganz einfach: Das „Macht- und Kompetenzzentrum – oder eben kurz: MKZ“ des FT – was sich hinter diesem Kürzel verbirgt wird hier nicht verraten, weil das Fahnden nach dessen Bedeutung den in diesen Irrsinn verstrickten Erzähler und unschuldig des Mordes schuldig Gewordenen selbst fast irrsinnig werden läßt („Alles konnte Zufall sein – aber auch das Gegenteil davon! Und wer jedes Ereignis in seinem Alltagsleben zwanghaft dahingehend hinterfragte, wurde mit Sicherheit – verrückt“ (188)) – hat eine Jahrtausendidee ausgeheckt, die Österreich zur Weltmachtführungsnation promovieren soll: Die „Rettung der alpinen Tourismus-Ökonomie“ per Vierjahreszeitenvereinheitlichung … Da geht es „um die Ausschaltung jahreszeitlich bedingter Konjunkturschwankungen zugunsten permanenter ökonomischer Spitzenresultate. Und so nebenbei werde die architektonische Idee der Entkernung in völlig neuartiger Weise in tiefste Tiefen vorangetrieben. Darüber hinaus werde in diesem geheimen Think-Tank (die Rede ist von dem MKZ des FT) der Stadtpartei St. Johann, einem exemplarischen Macht- und Kompetenzzentrum, an Überlebensstrategien für die christlich-soziale Partei von sensationeller Neuartigkeit gearbeitet.“ (390) Wahnsinn!! Und der Wahnsinn wird zur politischen Kraft, so daß Köpfe rollen müssen, selbst unter denen, die gar nichts anderes im Schilde führen und dasselbe selbst so oder so ähnlich auch immer schon gewollt haben.

Aber auch die halten sich auf altbewährte Art schadlos, indem sie ihren politischen und moralischen Niedergang als Dienst am großen Ganzen verkaufen. Mord und daraus reusultierender politischer Selbstmord als medienwirksame Selbstbeweihräucherung. Das kennt man und daran hat man sich, leider!, längst gewöhnt. Und auch O.P. Zier wird es mit dieser wunderbaren Gesellschaftssatire nicht gelingen, daß den Lesern vor dem Normalen dieses Wahnsinns, in dem beispielsweise einer einen Fallschirmsprung in den Freitod als letzte politische Selbstinszenierung seiner ach so wertvollen Politikerpersönlichkeit, die sich für die Partei und damit selbstredend auch für sein Land aufopfert, aufbereitet, speiübel wird.

Wer den Mord an Barbara Lochner denn nun eigentlich begangen hat?, fragen die kriminalistisch Interessierten unter den Lesern. Die Antwort auf diese Frage zögert der Romancier auf äußerst kunstvolle Weise bis kurz vor das nicht wirklich überraschende Ende hinaus. Denn, wie gesagt: Politikern ist, wenn es ihnen um ihre, Pardon: unsere Sache und damit immer auch ein wenig um sich selbst geht, einiges zuzutrauen.

 

Erstmals erschienen in: Marburger Forum, Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart, Jg. 8 (2007), Heft 6

Über „Lexikon der antisemitischen Klischees“ von Peter Waldbauer

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • WALDBAUER, Peter: Lexikon der antisemitischen Klischees. Antijüdische Vorurteile und ihre historische Entstehung. Mankau, Murnau a. Staffelsee 2007. ISBN 978-3-938396-07-0 Pick It!.

Peter Waldbauer greift mit seinem Buch Lexikon der antisemitischen Klischees ein interessantes und überaus relevantes Thema auf. Leider wird Waldbauer dem Thema nicht gerecht, da er es keineswegs beherrscht. Dies zeigt sich schon in der Einleitung. Denn es mutet komisch an, einem Buch über antisemitische Klischees ein jüdischen Sprichwort – Man hasst die Juden nicht, weil sie es verdienen, sondern weil sie verdienen – voran zu stellen, da es ein Klischee darstellt.

Schon in seiner Gestaltung ist es fragwürdig, warum das Lexikon der antisemitischen Klischees überhaupt ein Lexikon darstellen soll. Die einzelnen – so genannten – Klischees lassen sich nicht lexikalisch nachschlagen, vielmehr sind sie wie in einem Buch nach Themen gegliedert. Darüber hinaus wäre eine alphabetische Sortierung unnütz, da nicht das Klischee benannt, sondern es in eine Frageform eingebettet wird. Die meisten der Klischees beginnen also mit einem W – was, wer, wann. So drängt sich die Vermutung auf, dass es sich aus zwei Gründen um ein Lexikon handelt: Zum einen, weil Lexika eine objektivierende Kraft inne wohnt, die simple Behauptungen zu objektiven Sachverhalten nobilitiert. Zum zweiten können dieselben Argumente in vielen kurzen Lexikonartikeln wiederholt werden, während ein Buch in der Regel nach einem roten Faden verlangt, der sich nicht wiederholt, sondern weiter spinnt.

Inhaltlich ergibt sich die Argumentation, dass Juden gehasst werden, weil sie ihren Mitmenschen in vielen Dingen überlegen sind. Durch die ständige Auslegung von Tora und Talmud ist der Intellekt gestärkt (Seite 51) und durch jahrhundertelange Gefahr und Verfolgung waren die Juden stets gezwungen flexibel zu bleiben (Seite 50). Durch den hinkenden Vergleich zwischen dem ‚plumpen, sesshaft in der Mehrheit lebenden Bauern‘ und dem ‚flexiblen, mit hoher geistiger Mobilität ausgestatteten Judentum‘ kreiert Waldbauer ein Klischee des Juden, das wie eine positive Form von Rassismus anmutet. Dabei darf es natürlich nicht Ziel sein, negative durch positive Klischees zu ersetzen. Leider aber lässt dieser von Waldbauer gemixte Cocktail aus kulturgeschichtlich hergeleiteten Überlegen­heits­bekundungen das wenig glaubhafte Bild eines ‚Über-Juden‘ entstehen. ‚Positiver Rassismus‘, also eine Art der Überlegenheitsbekundung – das soll hier ausdrücklich festgehalten sein – ist genauso verwerflich wie ’normaler Rassismus‘, der von der Abwertung anderer lebt. Denn allzu positive Klischees machen dem ‚Unterlegenen‘ Angst und verhindern den Dialog miteinander.

Die Relevanz des Themas steht außer Frage, doch wurde das Thema, über antisemitische Klischees zu schreiben, weit verfehlt. Auffällig ist: durch die beständige Wiederholung derselben Argumente entsteht das Gefühl, Waldbauer geht es weniger um eine objektive Wahrheit und mehr um seine subjektive Überzeugung. So liest sich das Buch wie ein Pamphlet mit dem Ziel zu belegen, dass die Juden nicht nur zu unrecht verfolgt wurden, sondern kulturhistorisch aus den Verfolgungen und ihrer Minderheit eine Überlegenheit resultiert.

Über eine Einführung in die jüdische Geschichte wird man sicherlich nicht nur besser, sondern auch objektiver und unterhaltsamer informiert. Von Waldbauers Buch Lexikon der antisemitischen Klischees ist dringend abzuraten, denn Waldbauer argumentiert ungenau und verzerrend. Vor allem wiederholt er sich ständig, die Tonart bleibt das ganze Buch hindurch ermüdend gleich.

 

Über „Abendland“ von Michael Köhlmeier

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • KÖHLMEIER, Michael: Abendland. Hanser, München 2007. ISBN 978-3-446-20913-8 Pick It!.

Zu Beginn überlegt man: woher kenne ich das Motiv? Wo ist es mir bereits begegnet? Man liest weiter und grübelt beim Lesen: Wo ist mir etwas ähnliches schon einmal untergekommen? Da, plötzlich, die Erleuchtung! Die traurig-heitere, anrührend-schöne Literaturverfilmung des gleichnamigen Romans von Winston Groom „Forrest Gump“ mit Tom Hanks in der Titelrolle ist eine teilweise skurrile, burleske Reise durch die wahnwitzige amerikanische Geschichte des letzten Jahrhunderts. Köhlmeiers „Abendland“ ist das (nicht nur) europäische Pendant dazu. Im Unterschied zum amerikanischen ‚Original‘ allerdings agieren in diesem Roman neben so vielen anderen drei Hauptpersonen und die eine, ein Schriftsteller, ist darüber hinaus der von seinem väterlichen Freund, Paten und Mäzen in berechnender Absicht engagierte Erzähler.

Ich lese weiter und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Irgendwie wirkt das alles aufgesetzt, überladen und extrem gewollt. Berühmte Namen und ihre Träger aus Politik, Wissenschaft, Sport, Kunst, der Musikszene, Göring samt Nürnberger Prozeß, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und ihr Selbstmord in Stammheim etc. tauchen auf und verschwinden wieder (die letzte Fortsetzungs-Episode mit den Opfern Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns-Martin Schleyer berührt besonders peinlich). Es ist ein unablässiges Kommen und Gehen, die Zelebritäten drücken sich gegenseitig die Klinke in die Hand, und ich halte irgendwann inne und konstatiere einigermaßen ungehalten: Köhlmeier will einen Jahrhundertroman in des Wortes doppelter Bedeutung schreiben, und damit wird er scheitern.
Denn Historisches und Fiktives in Einklang bringen zu wollen muß zwangsläufig in bemühten Konstruktionen und weit hergeholten Kombinationen enden. Machbar ist allenfalls eine stark persönlich gefärbte Geschichte mit ausschließlich historischem Personal. Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ und T.C. Boyles „Wassermusik“ fallen mir ein. Das funktioniert deswegen so prächtig, weil es den beiden Autoren gelungen ist, den Originalen wirkliches Leben, eine anrührende Seele, die unglaublich intensiv berührt, einzuhauchen. Aber dieser Fall hier liegt anders. Erfundene Personen interagieren mit realen, wie eben im „Forrest Gump“. Erdichtete Individualgeschichte mit Zeitgeschichte durchsetzt et vice versa. Und dieses Ingrediens soll das Ganze bedeutend, eventuell zeitlos machen. Sehr riskant und immer auf dem Sprung in die Peinlichkeit.
Aber da ist noch etwas anderes in diesem Roman, was dazu führt, daß man sich in seinen verschlungenen Pfaden wirklich gerne, nämlich unwillkürlich verliert. Köhlmeier ist im Kleinen, persönlich Unscheinbaren brillant und außerordentlich feinfühlig; im zeitgeschichtlich Unbedeutenden ist dieser Autor einfach grandios! Beispiele gefällig? Bitteschön: „Bestenfalls, dachte Carl, kann er nicht logisch denken, schlimmstenfalls ist er paranoid.“ (25) Oder dies hier: „Darmstadt, Darmstadt. – Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in (!) die Wand. … In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr war der einzige, der hier offensichtlich genug von Jazz verstand, um zu wissen, daß mein Vater in dieser Sparte – einst – ein großer Mann gewesen war. Alle waren erleichtert, niemand wünschte sich eine Blamage.“ ( 597 f.) Oder wie ist es hiermit?: „Das haben Metaphern nämlich so an sich: daß sie größenwahnsinnig sind. Sie sind die geistige Lieblingsspeise der Jugend. Als junger Mathematiker (es dreht sich übrigens vieles um die Mathematik in diesem Roman, und auch deswegen drängt sich der Kehlmann-Bezug auf, F.-P.H.) hat man den Ehrgeiz, sich ausschließlich mit jenem Bereich seiner Wissenschaft zu befassen, der auch philosophische Relevanz besitzt. Schau sie dir an, wie sie alle Gödels Theorem verehren. Die meisten, weil sie nichts davon verstehen. Sie plappern falsch nach: Ein System könne aus sich selbst heraus nicht bewiesen werden. Etwas kann sich selbst nicht verstehen. Das gilt ihnen als Rechtfertigung ihrer eigenen Dummheit und Ignoranz, aus der heraus sie dem gesunden Menschenverstand jegliche Erkenntnisfähigkeit absprechen. Die Metapher ist das Opium des Hochnäsigen. Metaphern sind Idiotenleim. Sie haben die Tendenz, sich zum Sinnbild für alles aufzuschwingen. Tatsächlich für alles!“ (649) Und, schließlich, das hier: „Er (Georg Lukasser, der musikalisch hochbegabte Vater des Erzählers Sebastian Lukasser, F.-P.H.) hatte meine Meinung immer ernst genommen. Schon als ich zehn war, hatte er mit mir gesprochen wie mit einem klügeren Bruder. Wenn überhaupt, hätte er sich nur von mir etwas sagen lassen. ‚Glaubst du inzwischen wirklich, daß es eine tolle Idee ist?‘ fragte er. ‚Es ist eine tolle Idee‘, antwortete ich, und weil ich ja wußte, daß er, wann immer er selbst Zweifel an einer Sache hatte, sie damit vertrieb, indem er Wortwiederholungsschleifen knüpfte, sagte ich: ‚Es ist eine tolle Idee, ja, es ist eine tolle Idee, es ist wirklich eine tolle Idee, ja, ich denke, es ist eine tolle Idee, doch, es ist eine tolle Idee‘.“ (404)
Und irgendwann ist es dann doch soweit. Man hält inne und begreift, daß diesem Romancier tatsächlich etwas Großes gelungen ist. Er hat einen Bildungs- bzw. Erziehungsroman geschrieben, der sich über das Lebensschicksal seiner in hohem Maße bedrohten und angefochtenen, unheldischen Helden einen dann doch wieder überzeugenden Weg durch die Geschichte eines unglaublich gewaltträchtigen Jahrhunderts bahnt. Denn im Hintergrund von all diesen Ab- und Irrwegen stehen die zwei Fragen danach, wie es, zum einen, ist, (persönliche aber auch politische) Macht zu haben und sie entsprechend einzusetzen, und was es, zum anderen, heißt, (nicht) mit der alles bezwingenden Macht des Genies begabt oder geschlagen zu sein.
Weil Köhlmeier das Zeitgeschichtliche durch den persönlichen Bezug verlebendigt, und das Persönliche durch den permanenten Zeitbezug bedeutend macht, gewinnt dieser Roman von beiden Seiten das Gewicht, das ihn zu einem Ereignis macht. Wenn der Stümper immer nach dem besonderen Wort sucht, dann findet der Könner stets das treffende. Denn „nicht die Begebenheit, gleichgültig, ob schwerwiegend oder nebensächlich …, entscheide über Tiefe und Weite des Raumes in der Vergangenheit, der erzählend mit Sinn erfüllt wird, sondern die Frage, wie viele andere Begebenheiten, also: wieviel Welt diese eine Begebenheit unter ihr Diktat zwinge“. (183) Ein enorm hoher Anteil ist hier ‚bezwungen‘ worden, ein ähnlich hoher wie in T.C. Boyles „Wassermusik“, dessen unverwechselbaren Stil Köhlmeier übrigens meisterlich nachzuahmen und gekonnt einzusetzen versteht (so, beispielsweise, auf den Seiten 732 und 746 in der in Südwestafrika spielenden Episode des vollkommen unmotiviert und kalten Blutes schlachtenden Serienmörders Hanns Alverdes), genauso wie denjenigen Dostojewskis in der vermeintlich tödlich endenden Episode mit dem Denunzianten Pontrjagin (285 ff.), und, vor allem, in dem unerreichten Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann.
Mein Entschluß steht fest: Ich werde den Rat des großen Sohnes der Hansestadt Lübeck befolgen und auch diesen Roman ein zweites Mal lesen, weil sich vermutlich erst dann der sachliche und strukturell-kompositorische Beziehungsreichtum wirklich entdecken und entsprechend würdigen läßt.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 6

Über „Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen“ von Max Lorenzen

Besprochenvon Frank-Peter Hansen

  • LORENZEN, Max: Krankheit, Kälte, Unsterblichkeit. Drei nachmoderne Erzählungen. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007. ISBN 978-3-8260-3607-1.

Seltener Fall, daß ein Erzähler souverän unterschiedliche Stilformen beherrscht. Thomas Mann war ein Meister darin. Dann noch, selbstredend, Goethe. Lessing verstand sich darauf. Kein Wunder bei diesem unglaublich feinfühligen, leiseste gedankliche Differenzierungen sprachlich exakt nachzeichnenden Spätaufklärer. Und selbstverständlich der heute leider viel zu selten gelesene Göttinger Mathematiker, Astronom und Begründer des deutschen Aphorismus, Georg Christoph Lichtenberg. Sein „Göttinger Taschen Calender“ enthält Perlen deutscher Prosa. Beispiel gefällig? „Durch strikte Aufmerksamkeit auf seine Gedanken und Gefühle, durch individualisierendes Ausdrücken derselben, durch sorgfältig gewählte Worte lernen wir uns selbst kennen, unsere Gedanken werden fest und zusammenhängend. Unser Sprechen in Gesellschaft erhält eine gewisse Eigenheit wie die Gesichter, welches bei dem Kenner sehr empfiehlt, und dessen Mangel eine böse Wirkung tut. Nicht alle Reichen sind es durch Glück geworden, sondern viele durch Sparsamkeit.“ Vorzüglich gesagt. Genau so verhält es sich. Reichtum aus Sparsamkeit, darin zeigt und beweist sich große Kunst.
Ziehen wir noch einmal den Liebling der Musen, Goethe zu Rate. War er bloß Liebling? Wohl kaum. Denn wie heißt es bei ihm?

„So ist‘s mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“

Max Lorenzen ist kein ungebundner Geist. Er ist reich aus Sparsamkeit, und das Gesetz hat ihm Freiheit gegeben. Welches Gesetz? Dasjenige, über das bereits Goethe und Schiller in angestrengtestes Nachdenken verfielen. Welcher Ton paßt zu welchem Gehalt, welcher Stimmung korrespondiert welches Stilmittel? Wo ist der Knotenpunkt, in dem die Fäden zusammenlaufen? Ich behaupte, bei diesem Erzähler ist es die Sympathie und die Fähigkeit Mitleid zu empfinden. Vielleicht ist der mitleidigste Mensch nicht der beste Mensch. Wer weiß? Aber er bringt die entscheidende Voraussetzung mit, Literatur zu schreiben, die unter die Haut geht, weil sie trifft. Und wohlgemerkt: Mitleid heißt nicht automatisch Lamento. In diesem Fall schon gar nicht. Sympathie versteht es vielmehr, in die unterschiedlichsten Situationen und Seelenlagen sich mit Delikatesse hineinzuversetzen und … den entsprechenden Ton zu treffen. Darum und um nichts anderes geht es hier.
Lorenzen verfügt über ein immenses Zartgefühl für diskrepante Stimmungslagen und Charaktere und, ich wiederhole mich, der Stil ist jedesmal danach.
Nehmen wir die erste Erzählung. Sie ist traurig schön in ihrer Gefaßtheit, mit der dem Doppelausbruch einer Gehirnerkrankung – ist es wirklich in beiden Fällen dieselbe Krankheit, oder ist etwa Sympathetisches aus schlechtem Gewissen im Spiel? – seitens der Ich-Erzählerin begegnet wird. Unwillkürlich dachte ich beim Lesen an die berühmte Charakteristik der Laokoongruppe durch Johann Joachim Winckelmann. Das Geheimnis ihrer außerordentlichen ästhetischen Wirkung ist: Sie strahlt Ruhe aus, obwohl, oder gerade weil der Sturm der Verzweiflung tobt. Stille Größe, das ist ihr Nährboden und der dieser Erzählung. Und auch wenn die letztere hier und da ein wenig überanstrengt und bemüht in ihrer gedankenreichen Tiefe wirkt: Was soll’s, reflektierter, möglicherweise auch überspannter Tiefsinn, Ausdruck von Ratlosigkeit einer gerade erst Neunzehnjährigen, ist vor dem Hintergrund einer Krankheit zum Tode allemal angebrachter als wohlfeile Verhaltensmaßregeln, die nicht bereit oder fähig sind, sich dem Bitteren, weil Hilf- und Ausweglosen zu stellen.
Wie anders wirkt der bigotte Sadismus in der treffend „Kälte“ titulierten zweiten Geschichte, in die der Erzähler, ein interessanter und überraschender Einfall, einen unvermittelten Perspektivenwechsel eingebaut hat. Wer diese Geschichte liest, wird an der entsprechenden Stelle merken, wie es gemeint ist. Die lakonisch-berichthafte Sprache dieses Bekenntnisses erzeugt eine unglaublich beklemmende Atmosphäre. Schulterklopfend und selbstgefällig meldet sich das berechnend-skrupellose und machtgestützte, ins Aberwitzige aufgeblähte kalte Kontrollbedürfnis des geistigen Hirten auf eine erschreckend nahe und authentische Weise zu Wort. Der „Tobias Mindernickel“ Thomas Manns und „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil sind ähnlich bestürzend und bedrängend in ihrer punktgenauen Knappheit.
Das trifft, der Kontrast schärft den Blick, so nicht auf Robert Menasses Roman um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in „Selige Zeiten, brüchige Welt“ zu. Rücksichtsloses Dominierenwollen um jeden Preis und bis zum letalen Ende auch hier. Aber der Autor bringt sich und den Leser um die beabsichtigte Wirkung, weil, je länger je mehr, das ganze zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle abdriftet. Vielleicht jedoch ist genau dies der Zweck der Übung?! Will Menasse seine Virtuosität und seinen Einfallsreichtum unter Beweis stellen, wenn er beispielsweise seinen Protagonisten mit dem Klassiker „Die Theorie des Romans“ von Georg Lukács reüssieren läßt? Mit der inversen „Phänomenologie des Geistes“ Hegels, einer „Phänomenologie der Entgeisterung“ als einer „Geschichte vom verschwindenden Wissen“ indessen hat dieser Epigone und Machtmensch kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen gegen den Strich gebürsteten und von Grund auf gedankenlosen Hegel der abstraktesten Bewußtseinsstufe im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Derlei Einfälle sind extrem weit hergeholt und sollen offensichtlich stutzig machen und aufhorchen lassen, obwohl sie doch bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Menasse will frappieren, Lorenzen frappiert.
Der ruhige, gehaltene, sachte Ton der „Unsterblichkeit“ überschriebenen letzten Erzählung stimmt den Leser, nach dem Wahnsinn der zurückliegenden Hölle, unverhofft auf die unberührte Stille der italienischen Voralpenwelt ein. Eine Idylle, die nie ins Kitschige abdriftet. Die Ruhe des Tons, der das Aufgesetzte und Überschwängliche meidet, verhindert dies. Und wie ganz anders wirkt das Intime der sexuellen Vereinigung hier im Vergleich zur Brutalität einer sich an sich selbst aufgeilenden und berauschenden pornographischen Folter dort.
Also ein letztes Mal: An dem souverän und sparsam durchgeführten Wechsel der Töne hängt hier, wie auch sonst in der Literatur, alles. Die Weisheit des Künstlers im Ausdrucke besteht eben darin, viel mit wenigem und nicht, wie der Stümper, Dilettant und Pfuscher, wenig mit viel anzudeuten. So ähnlich steht es in Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“ geschrieben.
Etwas unglücklich allerdings ist der Einfall, das ganze unter die Überschrift „Nachmoderne Ästhetik“ zu stellen. Wer dies tut, läuft Gefahr, daß seine Literatur als Programmliteratur (miß-)verstanden wird. Denn alle anderen Bedenken, die sich hieran anschließen, einmal beiseite gelassen. Der Erzähler sollte davon Abstand nehmen, sein eigener Exeget und Theoretiker zu sein. Niemand wußte das besser als Goethe. Kunst, die sich selbst interpretiert, weil sie es offenbar nötig hat, ist keine Kunst mehr. Diese drei Erzählungen jedenfalls haben diesen Notbehelf ganz entschieden nicht nötig.
Im übrigen, wer wissen will, was genau sich in diesen Erzählungen zuträgt, möge sie, das versteht sich eigentlich von selbst und nach dem Gesagten ohnehin, lesen. Es kann nicht die Aufgabe des Rezensenten sein, auch wenn manch einer es anders sieht und hält, wie ein Pennäler nachzuerzählen. Mit Surrogaten ist dem nicht gedient, der wirklich(e) Kunst genießen will. Wer aus Bequemlichkeit Abkürzungen sucht, ist bestenfalls ein Bildungsphilister.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg 8 (2007), Heft 4

Hansen, Frank-Peter: Die Erfahrungsseelenkunde Martin Suters, 31.07.2008

Martin Suter, das As? Die Rezensenten sind voll des Lobes, enthusiasmiert und euphorisch. Wo man hinhört: Aufgeregte Superlative im Rauschen des Blätterwalds. Doch kann das sein? Trifft diese hypertrophe Begeisterung den Schweizer Autor in seinem Kern, oder legt sie falsche, der Sensationsgier geschuldete Fährten?

Was ist er, der Kern dieser ganz besonderen Art von Kriminalliteratur? Der wie auch immer verursachte Wandel der Psyche der dramatis personae, ihr Abrutschen ins nicht Geheure und Kriminelle, nicht mehr Steuerbare, der Verlust ihrer selbst in der Amnesie oder in der Altersdemenz, die sich als der entscheidende Durchgangspunkt für das eigentliche Wiederfinden der in grauer Vorzeit verlorenen Identität herausstellt. Im Zentrum von Suters Romanen steht das fragile, stets gefährdete und labile Gleichgewicht des menschlichen Seelenlebens. Und das heißt: Dieser Romancier spielt ungemein feinfühlig, erfahren und kundig auf der Klaviatur aller nur möglichen Empfindungen, Emotionen und Bewußtseinsstufen.
Suter ist, mit einem Wort, ein Psychologe ersten Ranges! Und das ist er vor allem auch deshalb, weil er es meisterhaft versteht, mit leisen, fein abgestimmten, nuancierten Tönen, unaufgeregt und überhaupt nicht zudringlich den Finger gelassen, treffsicher und mit höchster Präzision in die Wunden zu legen. Anders gesagt, es ist, als ob dieser Autor all das, was er erzählt, selbst erlebt hätte, so sehr gelingt es ihm scheinbar mühelos, in die intimsten Bereiche seiner unheldischen Helden hinabzusteigen. Man spürt, er liebt sie alle. Aber weil er, schwieriges Unterfangen, Distanz wahrt, ist er ihnen erst recht so unglaublich nahe. Und diese gefühlte Nähe überträgt sich auf den gebannten Leser, bei dem sich all die Nöte, Ängste, Hoffnungen, das Getriebensein, das hilflose Suchen, von permanentem Scheitern bedrohte, womögliche Finden, kurz, diese dunklen Abgründe und lichten Höhen des hochgradig gefährdeten Humanus wie von selbst, ungesucht zusammenfinden.Dazu passt es, dass Suters Romane frei sind von verbalen Kraftakten. Dieser Autor hat es nicht nötig, dick aufzutragen. Seine Texte sind von unaufdringlicher Prägnanz und der Ton ist feiner, leichter und schwebender Humor. Diese Leichtigkeit hat, darüber hinaus, auch einiges mit der Art der Komposition zu tun. Kleine, wohlabgemessene Einheiten, die nicht immer chronologisch aneinander anschließen, sondern, in zeitlichem und räumlichem Hin und Her, zu einem perfekt angelegten Verwirr- und Spannungsspiel voller kleiner und großer Überraschungen kunstvoll ineinandergeschoben sind.
Verspielter Ernst auch in den vielen, man merkt es, fundiert und seriös recherchierten Passagen, sei es, um nur ein paar Beispiele zu nennen, dass sie die Vielfalt der Myzelien in der Waldeinsamkeit des Vorgebirges betreffen, sei es das Geschäftsgebaren von überaus geschäftstüchtigen global players und ihrem juristischen Beistand, deren „temporäre Infrastruktur“ bei außerplanmäßigen Landpartien durch ein Faxgerät und einen Papierwolf komplettiert wird, sei es den Umgang von stümperhaft Pfeife rauchenden Verlegern mit ihren unbedarften Autoren oder den zu allen Hoffnungen Anlaß gebenden Stand der Alzheimerforschung.
Apropos Alzheimer: Wie sich Suter in die zurückgenommene Psyche des ungeheuer anrührenden Alzheimerpatienten Konrad Lang alias Thomas Koch einfühlt ist überwältigend! Was mag in einem geistig reduzierten, verloren wirkenden älteren Menschen vorgehen? Hier bekommt der ratlos Fragende eine Antwort, die dem Fatalen mit ganz dezenter, traurig-schöner Heiterkeit das frühkindliche Geheimnis ablauscht. „„Es schneit Fazonetli“, sang Simone. Beide tanzten im Geflimmer, bis sie nicht mehr konnten vor Lachen und Weinen und Glück.“
Und wie fein beobachtet ist es, über ein Gesicht, an dem in regelmäßigen Abständen kleine kosmetische Korrekturen vorgenommen worden sind, zu sagen, daß sein Träger dadurch „etwas frühzeitig Guterhaltenes“ verliehen bekommen habe. Oder daß es auch das gibt, nämlich „empört ignoriert“ zu werden. Oder daß einer von Rührung bei der Vorstellung befallen wird, „zu so einer großen Geste fähig zu sein“. Ganz zu schweigen davon, daß „alle Schwermütigen ständig auf der Suche nach einer Kulisse für ihre Melancholie“ sind. Sehr richtig! Oder wie ist es hiermit: „Notschlüssel für die Feuertür in einer geschlossenen Abteilung! Montiert doch gleich Sprungbretter!“ Last but not least die leise, lakonische Ironie in dem hier: „„Vielleicht ist sie verrückt geworden.“ „Hoffentlich kann sie das beweisen“, sagte Dr. Kundert.“
Schwer, das wußte keiner besser als Schiller, eine tragische Analysis hinzubekommen. Was das ist? Ein guter, weil spannender Kriminalroman, der seine Spannung daraus bezieht, daß man gebannt dem Geschehen folgt, obwohl man doch von Anfang an alles weiß. Denn beängstigend ist nicht so sehr das, was zu geschehen möglicherweise im Begriffe ist, sondern was, als bereits Geschehenes, in seinen unabwendbaren Folgen das unausweichlich und unerbittlich über einen Kommende ist. „Ödipus rex“ ist die tragische Variante, das Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ die komische, die Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ die heitere und „Small World“ die in Trauer lächelnde. Wieso Sophokles, wieso Kleist, wieso Thomas Mann? Nun, auch sie waren psychologisch hochversierte Kriminalautoren. Jeder auf seine Weise. Was folgt daraus? Der aufmerksame Leser weiß es schon längst. Suter ist mehr als ein As. Er ist wie die drei anderen, ich wiederhole mich, ein ganz großer Psychologe!

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart Jg. 8 (2007), Heft 2.

Über „Pitch it! Die Kunst, Filmprojekte erfolgreich zu verkaufen“ von Sibylle Kurz

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • KURZ, Sibylle: Pitch it! : die Kunst, Filmprojekte erfolgreich zu verkaufen. UVK, Konstanz 2008. ISBN 978-3-86764-113-5.

Dieter Kosslick schreibt im Vorwort zu Pitch it! von Sibylle Kurz, dass ein Pitch unbedingt drei Elemente beinhalten muss, um erfolgreich zu sein: „Begeisterung, Professionalität und die vollkommene Besessenheit vom eigenen Stoff“ (Seite 10). Genau dies macht Kurz in dem Buch Pitch it! deutlich, nämlich wie man mit Professionalität, Begeisterung und Besessenheit zu einem erfolgreichen Pitch gelangt.

Das bedeutendste Zeichen von Professionalität ist, den eigenen (Film-)Stoff und auch den Unique Selling Point (USP) sehr genau zu kennen. Mit dem USP ist die Unverwechselbarkeit des eigenen Stoffes durch eine originelle Umsetzung gemeint. Er ist die Antwort auf die Frage: What’s the difference that makes the difference?

Neben dem USP führt Kurz fünf Punkte an, die für einen Pitch entscheidend sind. Sie ähneln den journalistischen W-Fragen. Worum geht es (1)? Für welches Publikum (2) gibt es was zu sehen (3)? Warum machen Sie diesen Stoff (4) und wer muss wieviel investieren (5)? Als Teil des professionellen Handwerkszeugs müssen diese Fragen sofort und eindeutig beantwortet werden können und ist grundlegende Voraussetzung um die eigene Begeisterung und Besessenheit voll ausspielen zu können.

„Eine Kunst beim Pitchen ist, die Aufmerksamkeit des Zuhörers so schnell und so lange wie möglich zu fesseln“ (Seite 35) Dazu werden Stoffe im Präsens gepitcht, „am besten mit einer persönlichen, authentischen und enthusiastischen Art“ (Seite 35). Wer dies gut macht, kann sein Gegenüber in eine andere Welt ‚ver-führen‘, denn genau darum geht es beim Pitchen. Wer nicht selber von seinem Stoff begeistert ist, wird kaum sein Gegenüber dafür begeistern. „Kongruenz und Authentizität des Handelns sind die wichtigsten Faktoren für die Glaubwürdigkeit einer Präsentation.“ (Seite 181) Der innere Kritiker darf nicht unterdrückt werden (er hat sowieso immer ein böses Wort auf den Lippen), sondern muss von der gemeinsamen Sache überzeugt, auf die eigene Seite gezogen, ins Boot geholt werden. Sitzt der innere Kritiker erst Mal dort, wird mit Begeisterung und Besessenheit der eigene Stoff zu einem ‚visuellen Moodboard‘ verdichtet. Den Begriff des ‚visuellen Moodboard‘ leitet Kurz analog vom gezeichneten Storyboard ab. Er besagt, dass die Geschichte in emotional anrührenden Bildern erzählt wird. Mit dem visuellen Moodboard, dass sich aus Professionalität, Begeisterung und Besessenheit zusammensetzt, muss letztendlich der Entscheider überzeugt werden.

Entscheider sind jene paar Menschen im Filmbusiness, die über finanzielle Mittel verfügen und somit die Möglichkeit besitzen, aus einer Idee ein Projekt zu machen. Im Umgang mit Entscheidern, aber auch mit anderen Akteuren des Filmbusiness (was durchaus eine gesellschaftlich universelle Komponente hat), ist es oftmals wichtiger, Sozialkontakte herzustellen, als einen guten Stoff professionell vorzustellen. Warum, so muss man sich ehrlich fragen, wird heute die Kompetenz des ’social networking‘, also die Kompetenz anderen in der eigenen Umgebung ein gutes Gefühl zu vermitteln, höher angesehen als die inhaltliche Auseinandersetzung? Die wahrscheinlich richtige und dennoch unbefriedigende Antwort lautet: „Ein Produkt wird immer mit demjenigen identifiziert, der es anbietet – das Grundprinzip jeder Werbung. Wir alle kennen viele Alltagssituationen, in denen die Qualität eines Produkts an den Verkäufer und seine Glaubwürdigkeit gekoppelt wird.“ (Seite 179) Einen Entscheider im Pitch von der eigenen Idee zu überzeugen ist nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. „Wenn Sie selbst von ihrer Geschichte leidenschaftlich überzeugt sind, wird Ihnen das gelingen.“ (Seite 69)

Nachdem Kurz eindrucksvoll die Grundlagen des Pitchens ausgebreitet hat, verbessert sie in der zweiten Hälfte des Buches mit einem Präsentationstechniken-Potpourri ein wenig die Welt der Kommunikation. Obwohl auch diese Passagen anregend zu lesen sind, stellen sie eher das schmückende Beiwerk zu den wichtigen Tipps für einen erfolgreichen Pitch im ersten Teil des Buchs dar.

Insgesamt stellen sich zwei Elemente als besonders wichtig für einen erfolgreichen Pitch heraus. Zuerst die Qualität der Geschichte und direkt danach die zwischenmenschliche Komponente oder auch anders herum. Das hängt von den individuellen Stärken des Pitchenden und den Vorlieben des Entscheiders ab. Man könnte auch sagen: Professionalität und Emotionalität – aber das ist zu weit herunter gebrochen. Somit produziert der professionelle Filmemacher in seinem Pitch die eingangs erwähnte ‚Differenz‘ gleich zweifach: Einmal im Hinblick auf seinen Stoff und dann nochmal, in der Art wie er seinen Stoff im Pitch präsentiert.

Die hilfreiche Herausarbeitung der hier angerissenen Tipps rund um den erfolgreichen Pitch ist das große Verdienst von Sibylle Kurz und darum muss, wer noch mehr darüber erfahren will, man das Buch lesen. „Es gibt einen prägnanten Satz, den sie verinnerlichen sollten: Der Zweck eines ersten Treffens mit einem Entscheider besteht darin, ein zweites Treffen zu initiieren.“ (Seite 47) Wenn man dieses Bonmot ein wenig abwandelt und sagt, dass ein erstes Buch zum Lesen eines zweiten Buchs (derselben Autorin, desselben Verlags) anregen soll, dann ist der Zweck mit Pitch it! voll und ganz erfüllt.

Die Skeptiker: DaDa in Berlin (Rozcomb Records)

Besprochen von Ronald Klein

  • Die Skeptiker: DaDa in Berlin, 2007.

Vor einem Jahrzehnt hätte sich die explizite Vorstellung der 1986 in Ost-Berlin gegründeten Band erübrigt. Die Skeptiker galten als eine der wichtigsten und originellsten deutschen Punk-Combos. Nach einigen Kassetten-Veröffentlichungen erfolgte zum Mauerfall das Debüt-Album „Harte Zeiten“, das poetisch und gleichsam unsentimental die Endzeitstimmung der DDR einfing. Die Texte ließen sich aber auch auf das wiedervereinigte Deutschland übertragen: Stillstand, Ausgrenzung, Homophobie, Zwang zur Konformität funktionieren systemübergreifend. Die ausgefeilte Lyrik und die außergewöhnliche Stimme des Sängers Eugen Balanskat sprengten das Punk-Korsett. Die Presse glaubte die deutschen „Dead Kennedys“ entdeckt zu haben. Doch derartige Vergleiche kennzeichneten nur den verzweifelten Versuch, etwas Eigenständiges zu kategorisieren. Mit den darauffolgenden Scheiben „Sauerei“ (1991) und „Schwarze Boten“ (1993) erweiterten sich die Facetten wiederum. Zorniger Widerstand, artikuliert in „Straßenkampf“ oder „Deutschland halt’s Maul“ (auf die die Band leider oftmals reduziert wurde) trafen auf literarisch inspirierte Liebeslieder („Pierre und Luce“ – nach Romain Rolland) und dunkle, resignierte Lyrik (z.B. „Der Rufer in der Wüste schweigt“ oder „Komm tanzen“). 1995 erfolgte mit „Stahlvogelkrieger“ das ungewöhnlichste Album in der Bandgeschichte. Der moderne Sound, eine Mischung aus harten Metalriffs und elektronischen Elementen wurde erst ein paar Jahre später populär und kommerziell erfolgreich. Das Werk überforderte anno dazumal zahlreiche Fans. Auch Punk erscheint bisweilen sehr konservativ. Nach „Wehr dich!“ (1998) lösten sich die Skeptiker auf und ließen ihre Anhänger lange bezüglich einer möglichen Rückkehr bangen. Ende des letzten Jahres erfolgte das Comeback. Die Club-Tour und die Festivals bewiesen die Wichtigkeit der Berliner auch nach einem Jahrzehnt Abstinenz: Balanskats treffsichere Texte wurden lange vermisst und auf den Gigs Zeile für Zeile vom Publikum mitgesungen. Da die alten Alben schon lange nicht mehr erhältlich sind, markiert „DaDa in Berlin“ die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart: 13 neu eingespielte Klassiker und zwei gänzliche Neu-Kompositionen. Erstaunlich wie aktuell selbst die Texte wirken, die 20 Jahre auf dem Buckel haben (z.B. „Strahlende Zukunft“). Musikalisch klingt die Band kraftvoll und agil wie eh und je. Mit Nostalgie hat die Re-Union nichts zu tun. Album und Konzerte präsentieren die fünf Musiker in Spiellaune, deren Energie sich sofort auf das Publikum überträgt. Die neuen Songs „Kein Weg“ und „Verraten und verkauft“ fügen sich organisch neben die Klassiker und das Programmatische des Bandnamens: „Freiheit nicht nur in Gedanken / Sie wurde wahr gemacht / Diktatur in Agonie / Wir hatten Illusionen / Träume sind verraucht / […] Weder Osten oder Westen / Waren erstrebenswert / Korrumpierung wieder da / Neue Ufer sind die Besten / […]“. So klingt der letzte Track „Verraten und verkauft“ wie die Zusammenfassung der Bandgeschichte zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung. Die darauffolgende Ernüchterung führte aber noch (nicht) zur Resignation. Das springt beim Hören sofort über und macht Lust auf mehr!

www.rozbomb.de (Rozcomb Records)

www.dieskeptiker.com

 

Über „Kameraautoren. Technik und Ästhetik“ von Thomas Brandlmeier

Besprochen von Ronald Klein

  • BRANDLMEIER, Thomas: Kameraautoren : Technik und Ästhetik. Schüren, Marburg 2008. ISBN 978-3-89472-486-3.

Michael Ballhaus plaudert im Gespräch mit Tom Tykwer über die Arbeit mit Fassbinder aus dem Nähkästchen: „Er ist selten gut vorbereitet gewesen, hatte aber immer seine Vision. Ungern hat er sich Motive angesehen. Er stand dann muffelnd in einer Ecke am Set und fragte mich: Was hast du dir überlegt“. Ballhaus gilt als einer der renommiertesten Künstler seines Faches. Nur wenige Kameramänner avancieren selbst zu Stars. Dabei illustriert Ballhaus’ Erinnerung, dass hinter der Linse stehen mehr bedeutet, als nur die Kamera zu schwenken und die Ausführungen des Regisseurs zu befolgen.

Thomas Brandlmeier, promovierter Chemiker, sowie habilitierter Medienwissenschaftler und Betriebswirt, untersucht die Arbeit an der Schnittstelle zwischen technischen Möglichkeiten und der Ästhetik der Regisseure in einem historischen Abriss und stellt das Wirken von 45 Kameraleuten vor. Ein Glossar erklärt dabei sämtliche Fachtermini, so dass der Einstieg auch für weniger Technikaffine problemlos möglich ist.

Das Kapitel „Deutscher Kamerastil bis 1933“ würdigt die frühen Innovationen, die heute bei Filmschaffenden und Kinogängern Selbstverständlichkeiten bedeuten. Guido Seeber beispielweise, erfand den Kameraschwenk, der seit 1900 zum Standardrepertoire der Filmkunst gehört. Nach und nacherweiterte sich das Repertoire der filmischen Ausdrucksmöglichkeiten. Tonfilm und das Produzieren in Farbe stellten weitere Innovationen dar, die die Arbeit am Set nachhaltig beeinflussten.

Auf den allgemeinen Teil folgt die Vorstellung der „Kameraautoren“ – ein Terminus, den Brandlmeier bereits 1977 prägte. Dabei liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Künstler hinter der Linse einen eigenständigen und wiedererkennbaren Stil besitzen. Ihre Ästhetik stellt Brandlmeier ausführlich vor. Dabei fällt nicht nur auf, dass „Kamerautoren“ selbst sehr introvertierte Menschen sind (u.a. zählen Alekan, Almendros, Ballhaus und Seeber zu den wenigen, die ihr Schaffen in Büchern reflektieren), sondern auch überwiegend männlich. Die „Kameraautorin“ besitzt noch einen Exotenstatus.

Die Beiträge zu u.a. Conrad L. Hall, Sven Nykvist oder Vilmond Zsigmond erläutern technische und wirtschaftliche Hintergründe und setzen diese in ein Spannungsverhältnis zu den ästhetischen Ansätzen der „Kameraautoren“. Mit über 500 Seiten stellt das Buch eine exzellent recherchierte Einführung zum Thema „Kamera und Kunst“ dar. Die Kameraautoren haben es verdient, stärker in den Fokus der filmwissenschaftlichen Untersuchungen gestellt zu werden. Thomas Brandlmeier hat dafür einen sehr wertvollen Beitrag geleistet.

Über „Amundsen – Bezwinger beider Pole“ von Tor Bomann-Larsen

Besprochen von Ronald Klein

  • BOMANN-LARSEN, Tor: Amundsen. Bezwinger beider Pole: Die Biographie. Marebuchverlag, Hamburg 2007. ISBN 978-3-86648-068-1.

Der Norweger Roald Amundsen gilt als einer der größten und wagemutigsten Entdecker des 20. Jahrhunderts. 1911 erreichte er mit seiner Expedition als Erster die Antarktis. Doch seine wahre Leidenschaft galt dem Nordpol, den er 1926 mit dem Luftschiff „Norge“ überflog. Nur zwei Jahre später verschwand Amundsen mit seinem Flugzeug nahe der Bäreninsel beim Versuch, den Italiener Umberto Nobile zu retten. Bis heute wurden nicht einmal Wrackteile der Maschine gefunden. Allein die Expeditionen und das tragische, aber einem ambitionierten Entdecker angemessene Ende, bieten Stoff für ein spannendes Buch. Amundsen, der nicht nur von den eisigen Polen fasziniert war, sondern auch die Details seines Privatlebens im Kältecontainer verschloss, schrieb seine Erlebnisse selbst (um), z.B. in „Die Jagd nach dem Nordpol“. Der norwegische Historiker und Publizist Tor Bomann-Larsen montiert pointierte Auszüge daraus mit historischen Quellen. Durch Zufall stieß er auf Original-Dokumente Amundsens, die jahrzehntelang in einer Kiste auf einem Osloer Dachboden schlummerten. Nach akribischer Auswertung der Original-Quellen und der Zeugnisse von Zeitzeugen entstand eine 700 Seiten starke, fesselnde Biographie. Bomann-Larsen bewahrt die nötige Distanz (die vielen Biographen leider abgeht), verzichtet aber umgekehrt darauf, Amundsen komplett zu demontieren. Das Bild des großen Polarforschers verschiebt sich nach der Lektüre ohnehin. Der permanent in Geldschwierigkeiten steckende Amundsen fungierte als wahrer Marketing-Stratege, der seine Mission derart gut verkaufte, dass private Gönner, aber auch staatliche Unterstützung, seine Unsummen verschlingenden Unternehmungen deckten. Doch Amundsens Schicksal, der von sich selbst behauptete: „Hier bin ich also – das Pendant des Fliegenden Holländers, verdammt zur lebensgefährlichen Fahrt im Eismeer“, waren nicht nur die Pole, sondern ebenso die Frauen und die Politik…Packend, humorvoll, aber nie reißerisch geschrieben, verfasste Bomann-Larsen eine gelungene Biographie, die auch Leser in den Bann zieht, die sich nicht automatisch durch Eismeere und Entdeckungsfahrten angesprochen fühlen.