Über „Der Sonnenküsser“ von Jürgen Landt

Besprochen von Ronald Klein

  • LANDT, Jürgen: Der Sonnenküsser. Edition M, Weimar; Rostock 2007. Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern, Band 5. ISBN 978-3-933713-27-8.

„dann riss ihr der damm. und ich war da“, lautet das erste Kapitel. Die gewöhnungsbedürftige Form des radikalen Kleinschreibens führt den Leser in eine Welt, die nur auf den ersten Blick fremd scheint: Protagonist Peter Sorgenich kommt 1957 in der Nähe von Demmin inmitten der DDR-Provinz zur Welt. Die erste Nahtod-Erfahrung erlebt das Kind im Alter von einigen Tagen, als die Mutter es derart rücksichtslos zudeckt, dass es zu ersticken droht. Weitere bizarre Unfälle folgen. Die Welt ist feindlich und das Elternhaus bietet keinen Schutz. Im Gegenteil, die Mutter, unerträglich hysterisch, prügelt ihr jüngstes Kind bei geringsten Verfehlungen oder schickt Peter bei den geringsten Beschwerden durch die Lehrerin oder andere vermeintliche Autoritäten bereits nachmittags ins Bett. Ob Peter wirklich einen Verstoß begangen hatte, spielt dabei keine Rolle. Der Schein einer intakten Familie mit ordentlich erzogenen (konkret: gedrillten) Kindern wurde verletzt und diese Schmach wird nicht geduldet. Das permanent gedemütigte Kind erfährt in ersten Experimenten mit Alkohol, dass Schnaps den Schmerz dämpft. Schließlich entsteht daraus sogar Selbstbewusstsein und der Mut die Regeln der dominanten Mutter, der unfähigen Lehrerin oder der farblosen Pionierleiterin zu brechen. Das geht nicht lange gut. Die erreichte Emanzipation, das Erleben der ersten Liebe stellen nur Glück von kurzer Dauer dar. Kritisch beäugen die Erwachsenen den selbstbewussten Außenseiter. Man spürt, dass sie nur darauf warten, ihm endlich etwas nachweisen zu können, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Als es soweit ist, folgt eine endlose Odyssee durch die Knäste. Die Wiedereingliederungsversuche gelingen nicht. Peter bleibt stigmatisiert.

Es dauerte nach Mauerfall lange, bis das Alltagsleben der DDR literarisch verarbeitet wurde. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Brussigs „Wasserfarben“ oder Schulzes „Simple Stories“) konzentrierte sich die Erzählung auf die Verkettung humoriger Anekdoten. Die entgegengesetzte Richtung beschrieb das heldenhafte, humanistisch geprägte, Widerstehen zwischen Kirche und illegaler Druckwerkstatt.

Jürgen Landt erzählt gekonnt aus einer anderen Perspektive, die bisher kaum wahrgenommen wurde: Die Sicht eines sogenannten Außenseiters, der keinen politisch motivierten Oppositionellen darstellt, sondern auf dem Recht der Individualität pocht. Die Gesellschaft, in die er hineinwächst, verlangt Uniformität.

Nur en passant schildert Landt Kinderprostitution, häusliche Gewalt, Korruption. Diese Beiläufigkeit, das Brodeln unter der Oberfläche erzeugt beim Lesen eine Intensität, die nur wenigen Erzählern gelingt. „Die Dinge sind nicht wie sie scheinen“, formulierte Shakespeare. Oder moderner ausgedrückt: Demmin ist Twin Peaks. Die Fratze des Bösen lauert aber nicht hinter kleinbürgerlichen Masken, sondern ist ihnen immanent. Demmin und die DDR erhalten hier keine historische Funktion. Der äußerliche und zeitliche Rahmen des Romans verschwimmt, wird zu einer Allegorie, die sich problemlos übertragen lässt: Dort, wo der Selbstbestimmung kein Raum mehr gegeben wird, gerät die vermeintliche Ordnung zum Terror. Begriffe wie „Außenseiter“ oder „asozial“ stellen arbiträre Bezeichnungen dar, die bestenfalls etwas über die Perspektive der Gesellschaft, aber nicht die menschliche Qualität des Diffamierten aussagen.

Während im humanistisch inspirierten Entwicklungs- und Bildungsroman der Fokus auf dem Prozess des Protagonisten ruht, schleicht sich hier die Perspektive der Gesellschaft ins Auge. Eine Gesellschaft, die in sich zwar schon modert, aber in ihrem Verwesungsprozess auch noch unfähig zur Selbstreflexion bleibt. Stillstand. Stagnation. Perspektivlosigkeit. Landt gelingt damit ein tragisches Moment doppelter Ordnung: Scheitert Sorgenich an der Gesellschaft, so zerbricht diese an ihrer kristallin-verlogenen Struktur. Ohne Sentimentalität in der Sprache, gerade deswegen aufwühlend und bewegend. Ein außergewöhnliches Werk.