Ein Quantum Bond

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • Ein Quantum Trost (Quantum of Solace), Regie: Marc Forster, Produktion: UK, USA 2008, Laufzeit: 106 min.

Die ersten eineinhalb Minuten oder gefühlte tausend Einstellungen lang bietet sich eine rasante Autoverfolgungsjagd dar, bei der es nichts zu erkennen gibt, die allenfalls gekannt werden kann.
Denn wer wen verfolgt, ist durch den hektischen Schnitt nicht zu erfassen. Allein durch das eigene Genrewissen weiß man: Bond wird gejagt, aufwendige Action kommt vor dem Vorspann, und der Hauptdarsteller stirbt nicht schon nach fünf Minuten. Darauf folgt mit dem Vorspann die einzige Konstante, die die alten Bond-Filme mit dem aktuellen Kinofilm Ein Quantum Trost des Regisseurs Marc Forster verbindet.
Die Handlung des neuen Films knüpft unmittelbar an Casino Royal an. James Bond (Daniel Craig) liefert Mr. White an seine Chefin M (Judi Dench) aus. White erzählt von der bislang unbekannten Organisation Quantum, worauf eine wilde Hatz zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft beginnt. Zuerst verschlägt es Bond nach Haiti, wo er das Bond-Girl Camille (Olga Kurylenko) trifft, die ihn zu Bond-Bösewicht Dominic Greene (Mathieu Amalric) führt, der seinerseits Camille töten will, welche dann – gegen ihren Willen – von Bond gerettet wird. Österreich, Italien und Bolivien sind weitere Stationen, Vertrauen, Freundschaft und Umweltschutz sind die Themen. Außerdem geht es für Bond immer auch um Rache. „Vesper, sie hat alles für sie gegeben. Vergeben Sie ihr. Vergeben sie sich selbst“, röchelt der sterbende Helfer Mathis Bond zu. Schließlich kann Bond seinen Widersacher Greene in einem unwirklichen, aber wirklich gebauten Hotel in der Wüste Boliviens stellen. Es endet, wie es enden muss: Das Hotel fliegt in die Luft, Bond kann Camille gerade so ein zweites Mal retten und anschließend den fliehenden Greene fangen und in der Wüste zum Verdursten aussetzen.
Am Ende des Films warten ein paar Erzählstränge auf Fortsetzung, und die Frage bleibt, was ist das für ein Bond, der sich etwas vergeben muss und Feinde mit einer Flasche Motoröl dem Verdursten aussetzt? Daniel Craig setzt in seiner zweiten Verkörperung des Agenten mit der Lizenz zum Töten den Weg fort, der in Casino Royal eingeschlagen wurde. Er ist der Rambo des 21. Jahrhunderts. Ein Einzelkämpfer, ein Gejagter seines eigenen Schattens, kein Souverän. Diese Rolle erledigt Craig allerdings sehr cool, er brilliert sogar.
Ganz anders die weiteren Figuren. Sie bleiben blass. Vielleicht liegt es bei Dominic Greene daran, dass er nichts Böseres plant, als einem Land die eigenen Wasservorräte zu verkaufen. Firmen wie Nestlé und Coca Cola oder die französischen Mischkonzerne Suez und Veolia tun dies schon seit mehr als zehn Jahren. Er ist ein ungewöhnlicher Bösewicht, da Mathieu Amalric das ursprüngliche Wesen Bonds mehr verkörpert denn Craig, er ist charmant und schläft mit dem Bond-Girl.
Judy Dench spielt M kühl, ist aber immer präsent. Bond-Girls wurden traditionell mehr ihrer oberflächlichen Reize und nicht ihrer schauspielerischen Fertigkeiten wegen besetzt. Allerdings leidet Olga Kurylenko wie ihre Schauspielkollegen nicht an fehlendem Talent, sondern unter mangelndem Raum und Plastizität der Figur. Sie macht das Beste aus dieser unscheinbaren Camille, die zwar eigene Rachepläne verfolgt, aber immer auf Bond angewiesen ist. Alle Schauspieler erfüllen die Figuren mit Leben – aber immer nur so weit, wie es die Figuren ermöglichen. Dem Film fehlen, Bond ausgenommen, ansprechende Charaktere.
Dabei gab es sie immer. Es existiert eine lange Liste skurriler Bond-Nebendarsteller wie den Beißer oder Oddjob. Im neuen Bond – leider bleibt die Figur viel zu klein – ist es der zweite CIA-Mann mit seinem Schnauzer und seiner undurchschaubaren Art, der wirkt, als hätten Tarrantino oder die Coen-Brüder heimlich einen ihrer überdrehten Charaktere in Ein Quantum Trost eingeschmuggelt. So darf auch eben dieser Charakter folgendes sagen: „Richtig oder falsch spielt keine Rolle. Wir handeln aus der Not heraus.“ Die CIA steckt sowohl mit Greene als auch mit Bonds Arbeitgeber unter einer Decke, spielt mit allen ein Spiel.
Darum dreht sich der Film: Die festgefügten Wahrheiten sind ins Wanken geraten. Schwarz und Weiß haben ebenso wie Connery, Moore oder Brosnan ausgedient. Es lebe die postmoderne Uneindeutigkeit mit einer Prise Moral. Und das hat Ein Quantum Trost mit seinen Vorläufern gemein – ihn bewegt, was gerade die Welt bewegt. Wenn dies früher die Angst vor der Atombombe und der Kalte Krieg waren, sind es heute Umweltzerstörung und die knapper werdenden Rohstoffe.
Nicht ohne Grund also gräbt Greene den Bolivianern das Wasser ab. In Zukunft wird Wasser wahrscheinlich zu den wertvollsten Rohstoffen der Welt gehören, und es spricht für Dominic Greene und den Trust Quantum, dies erkannt zu haben. Die Darstellung überzogener Action kennt der geneigte Zuschauer aus den Stirb Langsam, Die Bourne- oder Star Wars Filmen. Er ist gewissermaßen daran gewöhnt, dass ihm in kaum übersichtlichen Bildern die Farben um die Ohren fliegen und am Ende das Gute siegt. Schon immer war die Action in Bond-Filmen Unsinn, wenn man realistische Maßstäbe anlegt. Negativ stechen allerdings einige Parallelmontagen hervor, wie zum Beispiel jene in der Oper. Wenn zwischen der Verfolgungsjagd und der dramatischen Opernschlussszene hin und her geschnitten wird, ist das zwar künstlerisch gemeint, wirkt aber nur künstlich. Insgesamt ist die Darstellung der Action in Ein Quantum Trost derart überdreht, dass der entstehende Bilderflickenteppich nur noch mit hektischen
Schnitten, wackligen Großaufnahmen und dramatischer Musik kaschiert und einzig noch mit Genrewissen verstanden werden kann.
Wichtig ist: Der neue Bond ist ein Prequel zur eigentlichen Serie. Das hat ja schon bei Star Wars nicht richtig funktioniert. Bei einem Prequel ist man mehr noch als bei einem Sequel den eingeführten Figuren der Reihe verpflichtet. Aber Figuren sind immer Figuren ihrer Zeit, und die Zeit Bonds ist zunächst einmal abgelaufen. Aktuell ist an dem neuen Bond höchstens seine innere Zerrissenheit. Die Lust am Spiel mit der Erzählung, wie man sie von Departed, der Bourne-Reihe oder auch dem Gangster-Klamauk um die Bande Danny Oceans finden kann, verliert sich zwischen dem Anspruch, den alten Bond zu aktualisieren, ihm gerecht zu werden, ihn zu erneuern und so weiter. Es dürfte schwer werden, aus dem aktuellen Bond den Bond zu formen, den der Zuschauer kennt, einen charmanten Agenten und Frauenhelden. Zumindest darauf darf man im nächsten Film gespannt sein.

 

 

Über „Die Beute“ von Phoebe Müller

Besprochen von Leif Allendorf

  • MÜLLER, Phoebe: Die Beute: Erotische Erzählungen. Konkursbuch-Verl. Gehrke, Tübingen 2007. ISBN: 978-3887693688.

Die Karlsruher Autorin Phoebe Müller hat einen beachtlichen Weg hinter sich. In den 80er Jahren veröffentlichte sie im Selbstverlag Erzählungen unter dem Titel „Die Eingeweide des Himmels“. Es waren Geschichten des Weltschmerzes, die das Gefühl schildern, wenn man literarisch interessiert ist in einer Stadt, die wie Karlsruhe nicht das geringste Interesse an Literatur hat. Ihr Romandebüt „Fernes Feuer“ landete irgendwo zwischen Nichtbeachtung und Geheimtipp. Inzwischen gibt es sogar in Karlsruhe so etwas wie eine literarische Szene – dank des unermüdlichen Einsatzes von Menschen wie dem Leiter des Oberrheinischen Dichtermuseums, Hansgeorg Schmidt-Bergmann, oder dem umtriebigen Schriftsteller Matthias Kehle. Aber Phoebe Müller hat die Karlsruher Provinzbühne verlassen. Seit einiger Zeit veröffentlicht sie erotische Erzählungen im konkursbuch-Verlag von Claudia Gehrke. Geschichten dieser Art sind zur Zeit schwer in Mode. Der Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf hat eigens ein Spin-off dafür gegründet: In der Reihe „Anais“ verlegen drei junge Verlegerinnen die Erotikromane junger Autorinnen. Das Strickmuster dieser Geschichten ist immer dasselbe. Im Gegensatz zu den Klassikern, auf die sich heutige Texte dieser Art berufen zu dürfen glauben, Anais Nin oder Pauline Reage, handelt es sich um Dutzendware, die sich konsumieren lässt wie Pralinen oder Sekt.
Nicht so die Erzählungen in Phoebe Müllers neuestem Band „Die Beute“. Zwar mutet der Handlungsablauf meist genau so an wie bei den erwähnten Routineprodukten: zwei Menschen begegnen sich, haben Sex und gehen wieder auseinander. Bei Phoebe Müller kommt aber noch eine weitere Ebene hinein, ein Gefühl des Unbehagens. Es scheint, als ob das Ungenügen, das die Protagonisten bei „konventionellen“ Sex empfinden, die Autorin daran hindert, die übliche Erotik-Wohlfühlprosa zu produzieren, jenen Prosecco zum Lesen, der gegenwärtig so erfolgreich ist. Deutliches Zeichen dieses Unbehagens sind die von Erzählung zu Erzählung sich steigernden Verletzungen, die sich die Liebespartner zufügen. Je stärker die Leere empfunden wird, desto krasser findet sich dies in den sado-masochistischen Praktiken wider. Dies verleiht dem Buch die „Beute“ eine existenzielle Tiefe, die den meisten Konkurrentinnen Phoebe Müllers fehlt.

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Filho, Osmar Goncalves dos Reis: Die Inszenierung des Vagen: Notizen zu einer Ästhetik der Videokunst, 28.11.08

Eine zeitgenössische Kunst

Inmitten der Ungewißheiten, die die heutige Gesellschaft uns bietet, gibt es etwas Solides, etwas, über das keine Zweifel bestehen: Nie wurde so viel auf dem Gebiet der Kultur produziert wie heute. Jeden Tag überschwemmt uns die Mediengesellschaft mit einer Flut von Bildern, Videos, Hologrammen, Texten. Wie bereits Peirce voraussah, wurde die Welt zu einem Überfluß an Zeichen. Anders als in früheren Zeiten, als noch eine spezifische semiotische Chiffrierung herrschte, leben wir heute in einer Zeit der Konvergenz der Medien, der dröhnenden Sprachverschiedenheit, der ästhetischen Stützpunkte und Angebote.

Die gegenwärtige kulturelle Praxis ist zweifellos ein unbeständiges, vielfältiges Phänomen. In ihrer Gärung präsentiert sie sich wie ein Fraktal, wie eine chaotische Landschaft, die sich jedem Versuch zur Verallgemeinerung zu entziehen scheint. Bei genauerem Hinsehen jedoch erscheinen einige Gemeinsamkeiten, Elemente, die uns erlauben, ein wenig Konsistenz im Chaos aufzuzeigen. In ihren verschiedensten Formen erscheinen die zeitgenössischen Zeichen mit Geräuschen vermengt, mit Formen, die ins „Elliptische“ und „Offene“ weisen. Ob in der plastischen Kunst oder in der Literatur, die heutige kulturelle Praxis wird von der Unbestimmtheit durchkreuzt.

In der plastischen Kunst z. B. beginnt diese Suche nach dem Vagen bei Cézanne und kommt zur Reife mit der Geburt des Kubismus. Das kubistische Porträt mit seinen vielfachen Perspektiven wollte uns die Erfahrung der visuellen Vielfalt bieten, den Pluralismus der Betrachtungsweisen – eine Art von Wahrnehmung, die anders ist als die vom Renaissancebild gebotene. Die Perspektive der Renaissance setzte in ihrer Starrheit und räumlichen Konsistenz einen einzigen, zentralen Gesichtspunkt, einen Punkt, von dem aus jede Wahrnehmung gezwungenermaßen strukturiert sein muß. Es gibt keine andere Weise, ein Bild der Renaissance zu „lesen“, es sei denn unter dieser visuellen Hierarchie, die ein für allemal von der Perspektive aufgezwungen wird.

So wie das modernistische Bild definitiv mit der linearen Sicht gebrochen hat und ein „offenes“ und unvorhersehbares Werk vorschlägt, so hat auch die Literatur unserer Zeit aufgehört, linear zu sein und hat eine labyrinthische Struktur angenommen. In Werken wie Ulysses, Die Gesänge oder Rayuela, Himmel und Hölle sind verschiedene Wege gleichzeitig möglich. Gleichzeitigkeit von Handlungen im Ablauf der Erzählung, die Möglichkeit, die Kapitel zu mischen und jeden Moment eine andere Geschichte herauszuholen, läßt den zeitgenössischen Leser die Erfahrung des Widerspruchs und der begrifflichen Vielfalt machen. Anstelle einer endgültigen Mitteilung, eines erstrangigen Sinnes, der während vieler Generationen vermittelt wurde, bietet uns die moderne Literatur ein Feld vieler Möglichkeiten, eine vielfältige und unabgeschlossene Struktur. Obwohl Werke wie z.B. die von Stendhal, Proust, Kafka, Joyce und so vieler anderer heute in ‚endgültiger Form‘ zirkulieren, wurden sie niemals von ihren Autoren als „abgeschlossen“ angesehen. Wie Borges sagte, zweifellos eine Ikone der modernen Literatur: „der Begriff des definitiven Texts entspricht nur der Religion oder der Müdigkeit“.[1]

Ein glitschiger, jedoch „offener“ und unvorhersehbarer „Text“ ist der, der als videographische Erzählung aufgebaut ist. In ihrer hybriden, unterbrochenen und variierenden Sprache wird die videographische Erzählung in bestimmten intellektuellen Kreisen als die prototypische Ausdrucksform der heutigen Kultur angesehen. Eigentlich haben wir im Video nicht einmal mehr eine Geschichte, von der zu reden wäre, sei sie nun labyrinthisch oder nicht. Was es uns in den meisten Fällen bietet, sind verstreute Stücke, deren Ganzheit unmöglich wiederherzustellen ist – die Welt als unstetiges Aufbrausen von Bildern. Jede Handlung wird in Fragmenten vorgetragen, es gibt keine Kontinuität, die zu suchen wäre. Das Ergebnis ist, in einem Wort, daß das Video uns die Inszenierung des Vagen vorträgt, die Unbestimmtheit als Darstellungskategorie.

Während die labyrinthische Struktur der modernen Literatur und die visuelle Vielfalt der kubistischen Bilder bereits eine gewisse „Zerrüttung“ des Sinnes vorbildeten, eine Suche nach Erweiterung und Polyphonie, bildet die unterbrochene Erzählung der Videokunst den Höhepunkt dieser Entwicklung. Auf dem Bildschirm entrinnt uns der Sinn und scheint sogar an das Absurde zu grenzen, an den totalen nonsense. Angesichts der videographischen Poetik wäre es vielleicht angemessen, von einer Ästhetik des Vagen zu sprechen, von einer Sprache, die mehr von Geräuschen als von Zeichen gebildet wird.[2] Wenigstens ist es dieser Eindruck, der uns bleibt, wenn wir uns nacheinander die großen Werke dieser kleinen Ausdrucksform ansehen, deren Geschichte bereits ein halbes Jahrhundert alt ist. Mich interessiert hier jedoch nicht die Bildung eines neuen Begriffs. Mein Ziel ist es vielmehr, diese Ästhetik, die zugleich reich und beunruhigend ist, zu verstehen; eine Kritik zu entwerfen, die ihre höchst quälenden Fragen, ihre kontroversen Aspekte berücksichtigt.

Geräusch, Verzerrung, Vielfalt

Im Allgemeinen, so Jean Paul Fargier, erscheint die Wirklichkeit nicht im Video; sie kommt uns nicht entgegen, wie beispielsweise gewohnheitsmäßig im Kinosaal.[3] Denn seine Schreibung ist an erster Stelle von der Verzerrung gekennzeichnet, von der Interferenz. Auf dem kleinen Bildschirm des Videos erscheinen die Bilder selten unversehrt, unberührt, in derjenigen Form, in der sie aufgenommen wurden. Bevor sie den Monitor beleben, ist es wahrscheinlich, daß sie eine Form der Manipulation erlitten haben, eine Art von Eingriff. Denn im Herzen des Mediums Video lebt ein destruktives Anliegen hinsichtlich des Bildes, eine bilderstürmerische, zerstörerische Haltung. Während das Kino sich geschichtlich durch eine bestimmte Dezenz gefestigt hat, durch einen fast heiligen Respekt vor dem Bild, zeigt das Video ein unehrerbietiges Verhalten, gefällt sich in spielerischer Freiheit, im Wagemut des Eingreifens und Radierens. Ja, die Schreibart des Videos greift etwas von der abbauenden Furie der Avantgarde auf, doch übertrifft sie diese Praxis, insofern sie aus der Verzerrung die Quintessenz ihrer Grammatik macht. Zum Beispiel Television Decollage von Wolf Vostell und Magnet TV von Nam Jane Paik, zwei grundlegende Werke der Videokunst, sind nichts weiter als Verzerrungen des Fernsehablaufs. Durch Frequenzerzeuger, elektronische Prozessoren, entstellen diese Werke die Fernsehinformation, indem sie den Fernseher zu einer Stütze für abstrakte, experimentelle Bilder machen, Bilder, die nur auf dem Ikonoskop erscheinen, um zu tanzen.

Ein schlichter Tanz freilich, der sich zudem in einem ganz anderen Freiraum als dem des Kinos abspielt. Seinem einheitlichen und homogenen Bild stellt das Video die für es charakteristische Mannigfaltigkeit und fragmentarische Beschaffenheit entgegen. Tatsächlich erscheint in den meisten Fällen das videographische Paneel dem Beobachter wie ein großes Mosaik, wie eine hybride Oberfläche, die die einförmige und systematische Ansicht der Photographie, gemäß der auf der Renaissance gründenden Darstellungsmodelle, durch eine vielfache und kaleidoskopische Ansicht ersetzt. Anstatt jeweils ein einziges Objekt zu betrachten, pflegt das Video die Bilder zu überschneiden, indem es mit Hilfe des Chroma Key eins über das andere legt oder sie durch die Öffnung von „Fenstern“ nebeneinanderstellt. Auf diese Weise häufen sich die verschiedenen Fragmente auf dem Bildschirm ins Unendliche, und man steht, wenn man es am wenigsten erwartet, vor einer riesigen elektronischen Collage, vor einem heterogenen und komplexen Gebilde. Was die Wahrnehmung betrifft, ist der bleibende Eindruck in diesem Kontext der des Übermaßes, der Zerstreuung, denn die Bilder kommen nicht mehr allmählich in ihrer Ganzheit zu uns, wie sie es in dem großen dunklen Saal taten. Sie schwärmen wie Bienen oder Hornissen im Flug. Es sind Splitter, Funken, die alle zugleich in einer ungebrochenen und beschleunigten Bewegung die kathodische Röhre besprengen.

Ein weiteres hervorstechendes Element der elektronischen Schrift ist ihre Fähigkeit und Einstellung, Zeichen verschiedener Art zu verflechten. Wegen ihrer Gefügigkeit – im Grunde ist das elektronische Bild nur modulierte elektrische Strömung – schafft sie es, auf eine freiere und erfinderischere Weise als die Medien mechanischer Art, unterschiedliche Zeichen wie Texte, Stimmen, Töne, Geräusche und Bilder zu mischen und zu verbinden. Freilich handelt es sich nicht nur um eine Fähigkeit. Normalerweise entscheidet sich die Videographik für die Verflechtung, die Hybridisation. Sie fühlt sich davon angezogen, sie flirtet mit den Techniken der Collage, des Mosaiks und mit den zahlreichen Möglichkeiten der Assoziation. Es handelt sich, kurz gesagt, um eine vielfältige Schreibform, um den Versuch, die größtmögliche Zahl von Informationen in einem einzigen gleichen Raum zu verbinden. Es sind Texte, die parallel zu den Bildern laufen, unterschiedliche Aussagen, die aufeinanderprallen und sich widersprechen, Landkarten, Figuren, Töne und Geräusche jeglicher Art, die zusammen mit den Bildern ein Geflecht seltener Komplexität erstellen. Das Ergebnis ist konfus und kann Zuschauer, die weniger mit den unerwarteten Weisen der elektronischen Imagination vertraut sind, verwirren.

Was die Zeit betrifft, baut das Video ebenfalls recht komplexe Beziehungen auf. Anstatt, wie das Kino, ihre Bewegung nachzuahmen, ihre Dauer zu zeichnen, zieht das Video es vor, sie abzubauen, zu zerrütten, in ihrem Innern Fallen aufzustellen. Es handelt sich um plötzliche Beschleunigungen, eingefrorene, synkopierte Bilder, Slow Motion Kameras. Alles, damit wir den 24 Bildern pro Sekunde entgehen können, dieser idealisierten und idealisierenden Geschwindigkeit, die uns die siebte Kunst vererbt hat. Ja, auf der elektronischen Leinwand verwandelt sich die Zeitlichkeit in etwas Anderes, Elastischeres, Biegsameres. Vielleicht, damit die herkömmliche Wahrnehmung sich ebenfalls verändert, sich in der Verfremdung revidiert. Möglicherweise ist dies die geheime Architektur des Videos, die intime Alchimie seiner Schreibweise, sein letztes Ziel. Seit den ersten Experimenten schwebt ihm ein Ort vor, der die reine Sensibilität beherbergt.

In Wahrheit haben das Video nie die großen Ereignisse, die großen Persönlichkeiten, der Eindruck oder der Glanz des Wirklichen interessiert. Es waren immer anonyme, banale Bilder, Figuren ohne Gewicht oder Tiefe, die es ins Spiel brachte. Auf der kleinen Leinwand scheint die Schönheit sich an der Oberfläche zu bergen, in der Plastizität, im Tanz der Farben. Während das Kinobild sich stets behauptet hat durch die Rolle, die in ihm die Tiefe des Feldes spielt, konstituiert sich das Video als Bild und als Ästhetik mittels der Stelle, die in ihm die Oberfläche einnimmt. Das Video ist vornehmlich dieses Lob der Oberfläche, die während der Jahrzehnte von audiovisueller Poetik unbekannt und unklar geblieben war. In der ikonoskopischen Röhre hat sie die Gelegenheit, flimmernd uns leuchtend wiederzukehren wie der Elektronenregen, von dem sie geformt wird.

In der Videographie ist demnach die Materialität selbst das Wichtige, das Bild nicht mehr als unsichtbarer Filmstreifen, als Glas oder Fenster zur Welt, sondern als Wirklichkeit in sich selbst, als eine selbständige Welt, die mit eigenem Stoff, eigenem Körper und eigener Textur ausgestattet ist. Wenn wir die großen Werke der Videokunst betrachten, von den teleklastischen Vorläufern bis zu den letzten zeitgenössischen Arbeiten, werden wir sehen, daß, im indikativischen Sinne des Wortes, sehr wenig zu „sehen“ oder zu „lesen“ ist. In den allermeisten Fällen trägt uns das Video rein visuelle Impulse vor; es sind Formen, Massen, Texturen in Bewegung. Wenn es allerdings auch Bilder gibt, die erkannt werden sollen, ist es vor allem das sogenannte nicht-hermeneutische Feld der Kommunikation, das die vorderste Stelle im Video einnimmt – ein Raum, in dem die Sinne oder Bedeutungen nicht sehr wichtig sind. Der große Gast in dieser Domäne ist der Körper, das Empfindliche, das Empfinden. Es gibt jedoch nichts glitschigeres und unergründlicheres als die Empfindungen. Sie sind lediglich da oder existieren, sagen nichts, behaupten nichts, produzieren nur Anwesenheit.

Eine nicht-erzählerische Kunst

 

Im Allgemeinen ist es das, was das Video erzeugt: eine nicht-erzählerische Kunst. Im Gegensatz zum Kino interessiert es sich nicht dafür, eine Geschichte zu inszenieren, einen Bericht vorzutragen, sei er linear, fragmentiert oder labyrinthisch. In den allermeisten Fällen sagt oder erzählt man nichts auf der kleinen Leinwand, man zeigt lediglich etwas. Etwas wird in seiner Stofflichkeit, Substanz und Oberfläche vorgetragen. Eine Art von ästhetischem Vorschlag steht mit einer Jahrhunderte langen Entwicklung der Verkümmerung der Erzählung, einem Niedergang der Erzählkunst im Zusammenhang. Dieser Prozeß wurde prägnant von Walter Benjamin in seinem wunderbaren Essay Der Erzähler ((In: Obras Escolhidas vol. I – Magia e técnica, arte e política. Übers. von Sérgio Paulo Rouanet. São Paulo: Brasiliense, 1996.)) beschrieben. Die Erzählkunst sei im Niedergehen begriffen, weil sie auf der gemeinsamen Tradition fußt, auf der gemeinsamen Erinnerung und dem gemeinsamen Wort, kurz, auf einer kollektiven Erfahrung.

In der Moderne verschwinden solche Bedingungen. Die Tradition setzt für ihr Existieren eine Lebens- und Sprachgemeinschaft voraus, die vor allem die schnelle Entwicklung des Kapitalismus, der Technik zerstört hat. Die Virulenz der Veränderungen im fortgeschrittenen Kapitalismus bringt es mit sich, daß die Lebensbedingungen sich von einer Generation zur anderen rapide wandeln. Auf diese Weise entsteht eine Lücke zwischen den Generationen. Was von den Eltern und Großeltern erlebt wurde und von der Erzählung aufgegriffen wird, hat bereits keine Bedeutung mehr für die Herausforderungen, vor die sich die Kinder und Enkel gestellt sehen. Nicht einmal die Chiffrierungen der Redeformen sind die gleichen, da die Sprachformen und semiotischen Systeme ununterbrochen wuchern. Im Spätkapitalismus überlebt nicht einmal die Landschaft. Aus eigener Erfahrung schöpfend sagt Benjamin, daß „eine Generation, die noch in einer von Pferden gezogenen Straßenbahn zur Schule gegangen war, … sich verlassen (sah), obdachlos, in einer Landschaft die in allem anders war, mit Ausnahme der Wolken“. ((BENJAMIN, Walter. Experiência e Pobreza [Erfahrung und Armut]. In: Obras Escolhidas (Bd.1). Magia e Técnica, Arte e Política. Übers. von Sérgio Paulo Rouanet. São Paulo: Brasiliense, 1985, p.115.))

Verbunden mit diesen Verwandlungen oder in ihrem Innern am Werk ist eine andere Zeitlichkeit. Die vorkapitalistischen Arbeitsweisen, besonders solche, die mit dem Handwerk verbunden waren, zeichneten sich durch eine langsame und abrundende Zeit aus. Es handelte sich um eine Zeit, die die Sedimentation der Erfahrungen in der Gemeinde erlaubte und das Auftauchen einer gemeinsamen Erinnerung und Sprache ermöglichte. Ob auf dem Land oder in der Stadt, die gedehnte Zeit begünstigte eine tiefe Aufnahme der Geschichten. Und weil sie sie so häufig hörten, entwickelten die Hörer die Gabe, sie zu erzählen.

Im modernen Kapitalismus erlaubt die schnelle und unterbrochene Zeit der Arbeit nicht mehr diese Sedimentation. Was ist jedoch die Tradition, wenn nicht dieses geteilte Gedächtnis? Unerschöpfliche Quelle der mündlichen Erzählungen ist das kollektive Gedächtnis, das die Existenz, Erneuerung und Weitergabe der Geschichten ermöglicht. Mit seinem Niedergang werden auch die Geschichten nicht mehr tradiert, die wichtigsten Sinngebungen gehen verloren, und der Prozeß der Erschöpfung und sozialen Fragmentierung schreitet siegreich fort.

Angesichts dieser neuen Erfahrungsweise entstehen neue Kommunikationsformen, die in der sozialen Dynamik immer mehr Anhalt haben. Der klassische Roman, der den ratlosen und unberatenen Helden auf seiner ständigen Suche nach dem Sinn des Lebens in Szene setzt, ist ein Beispiel hierfür. Es handelt sich um einen Sinn, der schon nicht mehr in der Dynamik des sozialen Lebens zu finden ist, da sie zu sehr von Jahrhunderte langen Prozessen der Fragmentierung und der Beschleunigung der Zeitlichkeit durchkreuzt wird. ((Darüber, s. Gyorgy Lúkacs. A teoria do romance: um ensaio histórico-filosófico sobre as formas da grande épica [Die Theorie des Romans…]. São Paulo: Duas Cidades: Ed. 34, 2000.)) Im Gegensatz zur Erzählung hat diese Art des Romans eine geschlossene Struktur. Er muß der Geschichte ein Ende, dieser Entwicklung einen Schlußpunkt setzen, damit der Leser, selbst ratlos, seinem eigenen Dasein Sinn geben kann. Neben dieser klassischen Form des Romans entsteht, als Gegen- und Ergänzungsvorschlag, die moderne Literatur. Von Unvollständigkeit, Diskontinuität und Fragmentierung gezeichnet versucht diese Literatur, die Erzählung noch stärker zu zerfasern, indem sie den Sinn bis an die Grenzen des Unverständlichen zerstreut und zerstört. Das klassische/typische Beispiel ist in diesem Kontext die surrealistische Poesie, doch kann man auch Kafka, Joyce, Proust u. a. nennen.

Von Frederic Jameson als ‚Surrealismus ohne Unbewußtes’ tituliert, ((Pós-Modernismo: A Lógica Cultural do Capitalismo Tardio [Post-Moderne: Die kulturelle Logik des Spätkapitalismus]. Übers. von Maria Elisa Cevasco. São Paulo: Ática, 1997.)) folgt die Videokunst auf klare und unverwechselbare Weise dieser Tendenz. Seit ihren ersten Experimenten hat sie darauf verzichtet, eine Geschichte zu erzählen, und in keiner ihrer Strömungen wollte sie sich als erzählende Kunst präsentieren. Im Gegensatz zum Kino war es dem Video immer wichtig, die Geschichten zu zerrütten, zu zerschmelzen, zu verflechten. Es handelte sich speziell darum, das Bild zu verzerren; es zu beschmutzen, abzubauen, zu erschüttern und aufzulösen, damit es in einem anderen Format wiedergeboren wird. Seit der anfänglichen Interferenzen von Nam June Paik war die Ästhetik des Videos immer eine Ästhetik des Geräuschs, der Vagheit und der Metamorphose. Während das Kino den Blick und die Sinne aufbietet, lädt das Video den Körper ein und läßt ihn fühlen. Es gibt keine Geschichten, keine Ratschläge. Es wird nichts gesagt; es gibt nur Dabeisein, etwas, das sich zeigt, und das uns zur Erfahrung ruft.

Negativität und volle Mitteilbarkeit

Die Videographie ist eine schwierige und radikale Kunst, eine Ästhetik, deren Größe nur ermessen werden kann, wenn man einer exklusiven Definition von Kunst als Schönheitsideal und Versöhnung den Rücken kehrt. Die Schreibweise des Videos zielt nicht auf eine Logik der Bequemlichkeit, sie will nicht den Menschen helfen oder sie trösten durch den Aufbau einer illusorischen Schönheit. Gegen eine Ästhetik der Harmonie und des Schönen wählt sie den Schock, die Herausforderung, die Anklage. Mit dieser Haltung reiht sich die Videokunst in eine Tradition der Ästhetik, die ihre präziseste Formulierung in den modernistischen Avantgarden der 20er Jahre findet. In jener Zeit erreichten eine Reihe sozialgeschichtlicher Umwälzungen ihr finales Stadium, das wenigstens ein Jahrhundert lang vorbereitet worden war. Der Urbanisierungsprozeß, die Industrialisierung, die sichtbar anwachsende technische Entwicklung nicht nur in der Expansion der Verkehrsmittel, sondern auch in der Etablierung der Presse, veränderten das Gesicht der Welt radikal und legten den Grundstein für die moderne Erfahrung.

In der philosophischen Tradition war wohl Walter Benjamin der Denker, der in seinen Arbeiten am meisten zum Verständnis dieser Umwälzungen beigetragen hat. Im Essay über Baudelaire und im unvollendeten Passagenwerk unternimmt er, was wir eine „Archäologie der Moderne“ nennen können: eine unerbittliche Suche nach ihren Ursprüngen, ihren Vorgehensweisen und Mechanismen, ihren Folgeerscheinungen. Für diesen jüdischen Intellektuellen und Meister der essayistischen Kurzprosaform ist die Moderne ein Prozeß wachsender Fragmentierung und Säkularisierung, zwei Bewegungen, die, seiner Ansicht nach, zu einem unvermeidlichen Niedergang der kollektiven Erfahrung führen. Nach Benjamin kennzeichnet die Moderne vor allem der Verlust kollektiver Anhaltspunkte, für sie ist das Fehlen gemeinsamer Erinnerungen und Worte charakteristisch. Es droht der vollständige Traditionsverlust. Benjamin war im übrigen nicht der einzige Philosoph, der diesen Vorgang bemerkt hat. Eigentlich ist seine skeptische Sicht hier Nietzsches und Lukács’ Äußerungen über die Moderne verpflichtet. Beide Denker sprechen vom Niedergang gemeinsamer Werte, von der Krise der Kultur, von der Zerrüttung des Sinnes.

Abgesehen nämlich von den jeweiligen Unterschieden ihrer sonstigen Gedanken versuchen alle drei, die Veränderungen zu verstehen, die im Rahmen der Erfahrung und der Kultur geschehen, wenn an die Stelle homogener, organischer und geschlossener Gesellschaften heterogene, fragmentierte und multikulturelle treten, in denen zerstreute und gegensätzliche Traditionen nebeneinander bestehen, und in denen die Dissonanzen überall empfunden werden. Es gibt keine allgemeine Praxis mehr, keine Werte, keine vollständigen Bedeutungen, die früher im Laufe der Generationen aufbewahrt und weitergegeben wurden. Wir leben, wie Nietzsche sagt, ‚im Zeitalter des Vergleichung’. „Ein solches Zeitalter“, konstatiert er in Menschliches, allzu Menschliches, „bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war… Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden!“ ((NIETZSCHE, Friedrich. Humano, Demasiado Humano [Menschliches, allzu Menschliches]. São Paulo: Companhia das Letras, 2000.))

Der moderne Mensch leidet, weil er keinen letztgültigen Anhaltspunkt mehr hat, auf den er sich verlassen kann. Es gibt so viele Perspektiven, Lebensweisen, so viele Werte und Bedeutungen, und alles ist einer Veränderung unterworfen, die in einer so frenetischen und erdrückenden Geschwindigkeit geschieht, daß ihm nichts anderes bleibt als ein intensives Leiden der Ratlosigkeit, des Mangels, des Zusammenbruchs. Wir erleben, nach dem schönen Titel von Bauman, eine Flüssige Moderne, die permanente Empfindung, daß unsere alten und prekären Gewißheiten sich unter unseren Füßen verflüssigen. Diese Zerrüttung des Sinnes oder diese „Krankheit der Tradition“, wie sie Benjamin nannte, steht in direktem Zusammenhang mit den Umwälzungen, die auf dem Gebiet der ästhetischen Produktion am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschehen sind, Umwälzungen, die ihre vorbildliche Ausformung in den modernistischen Avantgarden der 20er Jahre erreichen.

Angesichts des Niedergangs der kollektiven Erfahrung, angesichts der Signifikationskrise, die von der Moderne erzeugt wird, wird sich eine Strömung der modernistischen Ästhetik, und zwar gerade die, die sich in den Avantgarden äußert, dafür entscheiden, diese „Krankheit der Tradition“, diese zügellose Zerstreuung der Sinne weiterzuführen. Anstatt tröstliche Illusionen auszudenken, entscheidet sie sich, den Bruch zu beschleunigen, das Schweigen zu vertiefen, die Widersprüche ihrer Zeit offen zur Schau zu tragen. Obwohl die Videokunst wichtige Verschiebungen in Richtung dieser Vorschläge ausführt, folgt sie klar und unmißverständlich der negativen Ästhetik der Avantgarden. Im Allgemeinen bietet die Videographie auch keinen Raum zur Versöhnung. Auf der kleinen Leinwand gibt es meistens keine Bedeutungen, keine Geschichten oder Erzählungen zu rekonstruieren. Was sich uns in den meisten Fällen darbietet ist pulsierender Rhythmus und Energie; Abstraktion, Allegorie, Geräusch, Collage, kurz, ein aleatorischer Wechsel von Signifikationen.

Wie Alain Borges bemerkte, „festigt sich das Video als eine Stütze, die zutiefst mit der Ausdrucksweise seiner Zeit verbunden ist“. ((BORGES, Alain. „Contre L´image numérique: Toutes lês images sont-elles dês images pieuses?“ In: Où va la vidéo? Jean-Paul Fargier (org.) Paris: Cahiers du Cinema Livres, 1986.)) Wenn es etwas gibt, das uns solches auf klare, manchmal ostentative Weise zeigt, ist es unsere gegenwärtige Orientierungslosigkeit, unser Mangel an Bedeutungen. Die Größe und Stärke der videographischen Ästhetik können nur aus dieser Perspektive verstanden werden. Denn ihr kritisches Potential, ihre Überschreitung des Nihilismus sind in dieser Geste enthalten, die gleichzeitig realistisch und anklagend ist. Es handelt sich also nicht um absoluten Formalismus, um ästhetisierende Grundlosigkeit. Obwohl die Schreibart des Videos unweigerlich Einflüsse dieser ästhetischen Tendenzen zeigt, was wirklich in der Videokunst auf dem Spiel steht ist der Versuch, keine ästhetischen Ideale aufleuchten zu lassen, die keinen Anhalt in der soziokulturellen Dynamik unserer Zeit haben. Mit anderen Worten, es ist für die Videokunst nicht mehr möglich, eine Ästhetik der Ganzheit und Transparenz zu verteidigen, ein glänzendes und absolutes Bild, eben weil wir unter der Herrschaft der Zerstreuung, des Fragmentarischen und Flüchtigen leben. Darin liegt ihre Stärke, ihr Daseinsgrund! Es geht darum, den Schmerz der Unvertretbarkeit auszuhalten, den Schmerz des Mangels an vollständigen Bedeutungen, anstatt übereilt neue und falsche positive Inhalte vorzuschlagen.

Diese Ästhetik der Undurchsichtigkeit und des Geräuschs, die der Videokunst innewohnt, verursacht noch eine weitere, selten gesehene Verschiebung im Bereich der audiovisuellen Praktiken. Wegen ihrer abstrakten und allegorischen Eigenschaft, ihrer stärker graphischen und rhythmischen als fotografischen visuellen Eigenart, hintertreibt die Schreibweise des Videos am Ende die Ordnung der Sinne und legt den Akzent des Kommunikationsprozesses auf die Empfindungen. Die zahlreichen Interferenzen und Verzerrungen, die frenetische Hast der Montagen und die Leere der vernetzten Installationen bewirken, daß die Vernunft und die Suche nach einem Sinn eingeladen werden, sich zu verabschieden, so daß sie einen Raum freigeben für andere Interaktionsformen, die auf nicht-rationellen Prozessen fußen. Durch diesen Appell an den Körper und die Erfahrungen der Empfindungen betreibt das Video eine direkte Kritik an der absoluten Herrschaft des Verstandes, des rationalistischen Denkens in unserer Kultur. Es zeigt, daß die Erfahrung nicht ausschließlich oder notwendig eine sinnvolle oder per se auf einen Sinn bezogene ist, daß die Gegenstände, die Substanzen, die Körper vielmehr selbst ein unweigerliches Gewicht im Kommunikationsprozeß besitzen – das Gewicht der Anwesenheit – ,und daß sie trotz unserer auf Sinn erpichten Bemühungen den Charakter des Unbekannten, des Geheimnisvollen haben. Mit dem Akzent auf den Empfindungen, auf der Leere und dem Schweigen drückt das Video schließlich auch noch eine gewisse Erschöpfung der geschwätzigen Vernunft aus; sie versagt vor der Sintflut von Informationen und Bildern, die die Mediengesellschaft täglich vor unsere Füße schüttet. Wie Sean Cubitt behauptet, ist es gerade einer der Träume der Videographie, die Idee der Repräsentation gegen andere, freiere, offenere und transzendentere Kommunikationsformen auszutauschen. ((CUBITT, Sean. Timeshift on Vídeo Culture. London: Routledge, 1991.)) Nach ihm geht es darum, daß wir uns von der „Tyrannei der Repräsentation“ befreien zugunsten von Erfahrungen, die auf anderen Prinzipien aufgebaut sind als beispielsweise der Anwesenheit.

In gewisser Weise wurde dieser Traum bereits erreicht. In der kurzen Geschichte der Videokunst war vielleicht eins ihrer größten Verdienste die Relativierung des erzählerischen Sprachmodells. Obgleich bis heute dominierend im Bereich der audiovisuellen Praktiken erhält es wenig oder praktisch keinen Raum in der Videokunst. Wegen ihrer experimentellen Methode inspiriert die Schreibform des Videos schließlich neue und originelle Sprachmodelle, Modelle, die freier, offener und essayistischer sind – im Allgemeinen audiovisuelle Vorführungen von Konzepten und Empfindungen. Paik war der erste Künstler, der im Video ein bildsames und flüssiges Medium gesehen hat, eine Form, die fähig ist, die formellen diskursiven Strukturen zu verlassen und mit den Materialien auf einer transzendenteren Ebene zu arbeiten. Wie Ruy Gardnier bemerkt hat, hat Paik anhand des Videos das Bild in eine flüssige Strömung verwandelt, die mit irgendeiner Sache kommunizieren kann. ((GARDNIER, Ruy. Cahiers du Cinéma 610, p. 68, März 2006.)) Vollständige Kommunikationsfähigkeit, frei von den Gesetzen der Perspektive, von den Regeln der Komposition, von den traditionellen syntaktischen Bindungen, das ist die Utopie der Videokunst.

Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Zitiert von MACHADO, Arlindo. Máquina e Imaginário. São Paulo: EDUSP, 2001, p.190.
  2. Dieser Insight wurde zum ersten Mal von Jean-Paul Fargier geäußert, in dem wunderbaren Essay „Poeira Nos Olhos“ [Staub in den Augen]. In: Imagem-Máquina: a Era das Tecnologias do Virtual. André Parente (org.) São Paulo: Editora 34 Ltda, 2001.
  3. Ders., p. 231.

Digitalisiertes Sexwissen

Besprochen von Simon Pühler

  • PFITZENMAIER, Pascal/ HILLE, Gunter, REUTERS, Hella (Hg.): Bibliothek der Sexualwissenschaft: 36 Klassiker der Sexualwissenschaft als Faksimile auf DVD. Hille, Hamburg 2008. ISBN 978-3-86511-524-9.

Der Kulturwissenschaftler Pascal Pfitzenmaier hat zusammen mit Gunter Hille und Hella Reuters Klassiker der Sexualwissenschaft auf einer DVD herausgegeben. 36 teils vergriffene Werke sind nun im Projekt Gutenberg-DE in digitaler Neuauflage als faksimilierter e-Reprint erschienen. Dass hier tatsächlich gleich eine ganze „Bibliothek“ vorliegt, zeigt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis dieses ersten Teils der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“: Über 14.000 gescannte Buchseiten – darunter zahlreiche Illustrationen, Schwarz-Weiß-Fotografien und farbige Tafelanhänge – verbergen sich hinter den hier versammelten Titeln, die vor allem die Anfänge der Sexualwissenschaft im späten 19. Jahrhundert bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Bestseller wie Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886, hier in der Ausgabe von 1912) oder Schlüsselwerke der Berliner Sexpioniere Iwan Bloch, Albert Eulenburg und Magnus Hirschfeld können nun – dank einfacher Handhabung und Navigation – am Computer wiederentdeckt werden.

Es ist spannend zu beobachten, wie in den Werken Krafft-Ebings, Blochs, Eulenburgs und Hirschfelds einerseits Aufklärungs- bzw. Emanzipationsstrategien verfolgt werden, die einen wesentlichen Grund für die Entstehung und Entwicklung der Sexualwissenschaft darstellten, und andererseits, wie die Mediziner – oder besser gesagt Medizin-Schriftsteller – jenes noch weitgehend unbekannte Feld des modernen Eros erkundeten und einer breiten Öffentlichkeit vorstellten. Dass die wissenschaftliche Betrachtung des Sexes von Anfang an auf ein klar umrissenes Objekt verzichten musste, macht den ungeheuren Reiz, aber auch das unlösbar Problematische dieser Disziplin aus.

Neben der Sexualmedizin kommen hier jene Fächer zur Geltung, die heute dem Kanon der Kulturwissenschaften zugeschlagen werden (Ethnologie, Religions- und Literaturwissenschaften etc.). In ihrer verblüffenden wie auch schillernden Mixtur formatieren bzw. antizipieren sie bereits die (post-)moderne Generforschung. In Das Sexualleben unserer Zeit (1906) fordert Iwan Bloch, dass die Sexualforschung interdisziplinär arbeiten solle, „nicht bloß vom Standpunkte des Arztes, sondern auch von dem des Kulturhistorikers“ aus, um dem Einfluss der Sexualität auf alle Lebensbereiche gerecht zu werden.

Trotz derartiger Weitsicht empfiehlt sich generell eine kritische Lektüre der Abhandlungen, welche die Rollenbilder und die Geistesströmungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg miteinbeziehen. Einige Texte oder Textpassagen sind nur mit Vorsicht zu genießen. So verwechseln die Autoren – bis auf eine Ausnahme (Ellen Key) sind alle männlich – gerne Natur mit Kultur: beispielsweise Richard von Krafft-Ebing in der Psychopathia sexualis (1886/1912). Oder sie erklären persönliche, mitunter antisemitische oder misogyne Standpunkte zu unumstößlichen Sex-Wahrheiten: zum Beispiel Otto Weininger in Geschlecht und Charakter (1903), Paul Julius Möbius in Der physiologische Schwachsinn des Weibes (1906) und Ferdinand Freiherr von Reitzenstein in Das Weib bei den Naturvölkern (1923/1931)). Oder aber sie entwerfen im günstigsten Falle einfach ein alternatives Geschlecht, das anders wahrnimmt und begehrt, so Magnus Hirschfeld im zweiten Band der Sexualpathologie, Sexuelle Zwischenstufen: Das männliche Weib und der weibliche Mann (1918).

Obwohl die Autoren jene Zwischentöne und Unschärferelationen, in denen sich Sex stets unbewusst artikuliert, zwar schon hinreichend erkannten (darin begründet sich ihre interdisziplinäre Arbeitsweise), gingen sie in ihren Schlussfolgerungen nicht selten biologistischen oder moralischen Vorstellungen auf den Leim. Selbst der „Einstein des Sexes“, Magnus Hirschfeld, der mit seinem Postulat der sexuellen Zwischenstufen den Grundstein für die aktuelle „Queer-Theory“ legte und sich zudem für die Rechte von Homosexuellen stark machte, betrachtete das Schwulsein letztendlich als Degeneration mit Krankheitswert. Auch wenn die Forschung in den letzten Jahrzehnten viele Irrtümer, Halbwahrheiten und Lügen aus dem Weg räumen konnte, bleibt die Wissenschaft vom Sex ein schwammiges und äußerst streitbares Feld. Daher kein Wunder, wenn auf drängende Fragen zum Thema, wie sie sich zuletzt in den Debatten um das Inzestverbot oder um den Sex unter Minderjährigen stellten, keine einfachen oder zufriedenstellenden Antworten gefunden werden können und Politik und Rechtsprechung meistens ziemlich ratlos dastehen.

Umso mehr lohnt es, den Blick auf das historische Material zu werfen. Auch hier zeichnet sich der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Norm oder Gesetz (Tugend, Moral, Sitte, Tabus, Verbote) und den abseitigen Begierden des Einzelnen oder bestimmter Gruppen deutlich ab. Krafft-Ebings Psychopathologie ist dafür vielleicht das prominenteste Beispiel. Denn jene sexuellen Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienen, klassifizierte der Neurologe als pervers und nahm damit – ohne es zu bemerken – die Heterosexualität in ihrer bürgerlichen Ausprägung als absolutes Maß. Gerade deswegen war ja jede Abweichung – sei es nun die Homosexualität, die Onanie oder die sadomasochistische Lust – für den Autor und seine Leserschaft so ungemein interessant. Darin lag der große internationale Erfolg dieser Publikation, eine wissenschaftlich fundierte Freakshow, die perfekt an die Schaulust und Sensationsgier im 19. Jahrhundert angepasst war. Trotzdem hatte sie ihren Vorteil: Viele sogenannte „Perverse“ waren froh zu erfahren, dass sie mit ihren Leidenschaften nicht allein waren. Erste Netzwerke, in denen spezielle sexuelle Vorlieben ausgelebt werden konnten, bildeten sich heraus.

Drei weitere Werke der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ widmen sich dem Sadomasochismus beziehungsweise der historischen Person des Marquis de Sade. Dieser berüchtigte Adlige hatte im Frankreich des 18. Jahrhunderts quasi eine Psychopathologie avant la lettre erfunden, in der er alle Perversionen seiner Zeit vollständig, das heißt mit enzyklopädischen Anspruch, aufgestellt hatte. Mit dem bedeutsamen Unterschied jedoch, dass seine Wissenschaft keinem übergeordneten, gesellschaftlichen Auftrag folgte, sondern nur dem eigenen Lustgewinn. Sades Erkenntnisse offenbaren sich in den untrüglichen Zeichen von Lust und Schmerz, die immer nur experimentell – das heißt im sexuellen Akt selbst – erfahrbar werden. Dabei geht es um das Augenblickliche und Zufällige des Sexes, aber auch um dessen Gewalt und Monstrosität. Vor diesem Hintergrund fiel es Albert Eulenburg leicht, den Schwindel der Psychopathia sexualis aufzudecken. Zu Recht kritisiert er, dass sich Krafft-Ebings Sadomasochismus-Definition an einem „normalen“ heterosexuellen Geschlechterverhältnis orientiere, um überhaupt von krankhaften Abweichungen reden zu können. Auch Iwan Bloch, der sein umfangreiches Wissen über Sade in zwei Büchern unter dem Pseudonym Dr. Eugen Dühren publizierte (und dabei schon eine bemerkenswerte Diskursanalyse betrieb), bricht mit vielen Klischeevorstellungen seiner und unserer Zeit. Dass Frauen – um nur ein Beispiel zu nennen – in der Moderne fast immer von gesellschaftlicher Macht und Politik ausgeschlossen seien und nur als Anhängsel oder Symptom des Mannes figurieren, wird hier in einem aufschlussreichen Kapitel über „Die Frau im 18. Jahrhundert“ widerlegt.

Ein anderer Schwerpunkt der DVD „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ liegt auf dem Themenfeld „Sexualität und Fremde“. Die hier gelisteten Werke nähern sich der Sexualität weniger über die individuelle Abweichung als über den ethnografischen Blick auf andere Kulturen an. So beleuchtet Iwan Blochs sechsbändige Sexualpsychologische Bibliothek (1910) das Liebesleben in Frankreich, Japan und Spanien; etwa zeitgleich erschienen die Ausführungen des Sexualethnologen Ferdinand Freiherr von Reitzenstein zu Liebe und Ehe im alten Orient oder im europäischen Altertum. Obwohl dieser mit seinen Lieblingsthemen „Liebe und Ehe“ den Blick über den Tellerrand wagte und sich in andere Zeiten und Räume begab, blieben seine Erkenntnisse doch eher begrenzt. Denn anstatt das Fremde tatsächlich in seiner Andersheit zu erkunden, diente es ihm vielmehr dazu, die eigenen sexistischen Vorurteile zu bestätigen. Reitzensteins Werke sind „kulturgeschichtliche Dokumente der Neugierde an der Sexualität, zugleich aber auch der Versuch einer Aneignung oder Unterwerfung des Fremden in der Gestalt der Frau“, schreiben die HerausgeberInnen in ihrer Einleitung.

Überhaupt scheint „die“ Frau und das Eheleben in der frühen Sexualwissenschaft eine wichtige Rolle gespielt zu haben, wie es auch in der Ratgeberliteratur eines Paolo Mantegazza oder Theodoor Hendrik van de Velde deutlich wird, die mit jeweils drei Werken auf der DVD vertreten sind. Beim Stöbern bzw. Mausklicken in diesen Werken beschleicht einen der Verdacht, dass es gerade die Institution der bürgerlichen Ehe selbst sei, die unter den versammelten Ethno-Objekten die meiste Fremdheit und Exotik besitzt. Auf jeden Fall stellt sie einen historischen Ausnahme- und Sonderfall dar. Mit ihr wurde eine mächtige Norm gesetzt, die in ihren sozialen Forderungen und Konsequenzen fragwürdig und unbefriedigend bleibt – besonders für Frauen, aber auch für Männer.

Insgesamt ist der vorliegende erste Teil der „Bibliothek der Sexualwissenschaft“ im Projekt Gutenberg-DE ein Glücksfall für die Forschung und interessierte Leserschaft. Dies liegt nicht nur daran, dass der mühsame Gang in die herkömmliche Bibliothek entfällt, sondern vielmehr daran, dass ein äußerst komplexes Wissensgebiet übersichtlich dargestellt und leicht zugänglich gemacht wurde. Im Wust der Sexual-, Gender- und Queer-Literatur – siehe zuletzt: Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Campus 2008 oder Nina Degele, Gender QueerStudies: Eine Einführung, UTB 2008 – wird es immer wichtiger, den Blick auf die Ursprünge und die Originalquellen nicht zu verlieren, das heißt, im Zweifelsfall schnell nachschlagen und vergleichen zu können. Zwar hätte die eine oder andere Textzusammenfassung noch ein bisschen länger und differenzierter ausfallen können – gerade bei den besonders problematischen Texten wäre eine genauere historische Einordnung bzw. ein Kommentar sehr hilfreich. Schade ist auch, dass eine Text-Suchfunktion nicht vorhanden ist. Doch bei der Menge des Materials (und auch bei dem wirklich sehr günstigen Preis) sind diese kleineren Mängel verzeihlich. Wir dürfen auf die Fortsetzung gespannt sein.

 

Coulter, Gerry: In the Shadow of Post-Democratic Capitalism – A Fascination for China, 26.11.08

 

I. Introduction

The relationship between the art of China and Western Art Museums has changed noticeably over the past decade. Previously we could expect Chinese artworks to appear primarily in historical, archaeological, anthropological or textile museums but not in major art museums (many of which still do not own an important Chinese art work). Many significant Western art museums have tended to avoid Chinese art specifically and Asian art generally. This is because Chinese art has remained outside of the definition of “art” (which in Western museums has been focused on oil paint and not the use of ink on paper, or ink and colour on silk or bamboo).

In the past five years, through a series of traveling shows, and a re-envisioning of existing holdings, our exposure to Chinese art in Western museums has increased. In the next section I examine how these shows are broadening the scope of what is on view in the West. In the third section I examine the global cultural context of these shows given China’s entry into a unique historical position – the potential bearer of post-democratic capitalism to the New World Order.

Hansen, Frank-Peter: Wer ist oder was macht eigentlich einen guten Erzähler?, 15.11.08

Kennen Sie Tschechow? Nein? Sie sollten ihn kennen (lernen). Warum? Weil dieser sozial engagierte russische Autor und Arzt, dieser Meister der kleinen Form wie kaum ein anderer Autor in die Ab- und Hintergründe der Seele des Menschen geschaut hat. Ich erinnere vor allem an die Meistererzählung über die Ehebrecherin Agafja, in der die Zerrissenheit, das Nicht-ein-noch-aus-Wissen der Protagonistin ähnlich intensiv, hautnah und bedrückend wie die gehobene und kriecherische Lust am Quälen und Drangsalieren der in Abhängigkeit gehaltenen Kreatur im Tobias Mindernickel von Thomas Mann vergegenwärtigt wird. Dabei werden die letzten Dinge bei Tschechow oft in schwebender Ungewißheit gelassen, ab und an etwas zu sehr. Hören wir zu: „Agafja drehte sich um und erhob sich auf ein Knie … Ich sah, wie sie litt … Eine halbe Minute lang drückte ihre Gestalt, soviel ich in der Dunkelheit erkennen konnte, inneres Ringen und Schwanken aus. Es gab einen Augenblick, da sie, gleichsam erwachend, ihren Leib aufrichtete, um ganz aufzustehen, aber eine unbezwingliche und unerbittliche Kraft zog ihren Körper wieder zu Boden, und sie sank neben Savka hin. „Hol ihn der Teufel“, sagte sie mit wildem, tief aus der Brust kommendem Lachen. Aus diesem Lachen sprachen besinnungslose Entschlossenheit, Machtlosigkeit und Schmerz … Agafja sprang plötzlich auf, schüttelte den Kopf und ging auf ihren Mann zu. Man sah, daß sie alle Kraft zusammennahm und einen Entschluß gefaßt hatte.“ Welchen? Das herauszufinden überläßt Tschechow der Phantasie des Lesers.

Von ihm stammt die beherzigenswerte Äußerung, der Autor müsse seine Figuren lieben, ohne daß man ihm diese Liebe anmerkt. Darin paart sich emotionale Tiefe mit nüchterner Sachlichkeit, wie sie dem Naturforscher, der Tschechow auch war, eigen ist. Es ist ein Balanceakt, das eigentlich nicht Zusammenpassende zu vereinen. Tschechow gelingt dies oft. Kühle und tiefes Mitempfinden, wie sie in dieser Zusammenstellung einem Arzt gut zu Gesicht stehen.

Hier hat folgende Beobachtung ihre Stelle: Ein guter Roman hat auch viel von einem musischen Geschehen, das also auch die affektiven und praktischen Seiten der Seele durchzieht. Auf dieser Klaviatur der ganzen Seele spielen gute Autoren in allen epischen Dramen wie große Meister. So ähnlich hat sich Thomas Bernhard über gute Romane, von denen es seiner Meinung nach nur wenige, etwa eine Handvoll gab, geäußert. Wenn ich mich recht erinnere in dem ironisch-bitteren Kunst- und Kulturverriß Alte Meister. Tschechow zählte meines Wissens merkwürdigerweise nicht dazu, ganz gewiß nicht Tolstoi mit seinem religiös gefärbten Moralismus. Dafür aber Nikolai Gogol, der Autor von Tschitschikows Reiseerlebnissen oder Die Toten Seelen. Eine Romangroteske und Gesellschaftssatire vom Feinsten. Absurdeste Dialoge auf allerhöchstem Niveau. Sie ist zum Totlachen, diese großangelegte Narretei und wahnwitzige Landpartie. Vorgeführt werden Geiz, Habsucht, Hinterlist, Übervorteilen und andere betrügerische Bösartigkeiten mit einem ganz leichten, verspielten Ton. Diesen leichten, humorvoll-beschwingten Ton gibt es auch in Thomas Bernhards Art der Gesellschaftssatire, darüber hinaus jedoch das, was seine Romane so unverwechselbar macht: Das Bittere, Herbe, die obsessive, ausweglose, ans Verzweifelte angrenzende Besessenheit.

Vor allem jedoch den Zwang zur Wiederholung und das erbarmungslose Herumreiten auf dem Immergleichen, was bis in die Erzählstruktur zutrifft. Überspitzt formuliert: Kennt man einen seiner Romane, kennt man sie, abgesehen von der insgesamt objektiver, allem bedrückenden Irr- und Aberwitz zum Trotz distanziert berichtend daher kommenden Ausnahme Das Kalkwerk, alle. Das hat – auch – damit zu tun, daß Bernhard der Meinung war, man müsse einen Roman nicht auslesen, ein paar Seiten seien mehr als genug. Auf ihn selbst übertragen bedeutet dies, daß man lediglich ganz wenig, ein paar Sätze nur, die, pars pro toto, für den Rest stehen, zur Kenntnis zu nehmen braucht. Das ist eine Ökonomie der aufs äußerste verkürzten Weitschweifigkeit, eine unheimlich zurückgenommene, dabei bodenlose Beredsamkeit, eine besessene Redseligkeit mit schlechtem Gewissen und, trotz aller auftrumpfenden, schimpfenden Direktheit, permanenter Selbstrelativierung.

Etwas von dieser Besessenheit gibt es übrigens auch bei Dostojewski, so sehr, daß der Autor in Der Idiot den Überblick darüber verliert, was seine Protagonisten antreibt. Das ist selbstredend eine Ausflucht und genaugenommen ein Armutszeugnis, wenn die Motive der dramatis personae demjenigen, der sie geschaffen hat, dunkel sind. Mit dieser Ausflucht eines vermeintlichen Eigenlebens geht Dostojewski in diesem Roman gleich zweimal in die Offensive, was die Sache nicht besser, sondern umso auffälliger macht. Dieser freilich zentrale Einwand nimmt nichts von denjenigen Passagen fort, die man nur als gelungen bezeichnen kann. Einerseits das existentiell Bedrückende derjenigen Szene, in der die aus eigenem Erleben gespeisten Minuten vor der Hinrichtung dem Leser körperlich nahe gebracht werden. Andererseits das Gespür Dostojewskis für die unverstellte, mit unmittelbarem Leben volle Wunderwelt der Kinder, die auch die seines unbedarften „Idioten“ und heiligen Eigenbrötlers ist, der sich mehr treiben läßt als daß er handelt.

Ich schweife ab. Was sind mögliche Kriterien für einen guten und, umgekehrt, einen nicht so guten bis schlechten Roman? Er soll gefallen, gewiß. Doch gefallen die zugespitzten Mental-Metzeleien Thomas Bernhards? Ich zweifle. Er soll unterhalten, Freude bereiten. Selbstverständlich. Aber wie ist es mit der Containerdramatik eines Beckett? Vielleicht unterhält sie einige Wenige, aber bereitet sie Freude? Wohl eher nicht. Oder, ein anderes Beispiel, der Lyriker Brecht wird geschätzt, während man ihn für seine der political correctness zuwiderlaufenden, als politisch anrüchig verschrienen, tendenziösen Lehr- und Theaterstücke verachtet, jedenfalls sie nur unter weitestgehenden Vorbehalten rezipiert.

Gar nicht so einfach, sich hier zurechtzufinden. Deswegen die Frage: Was sind, gegebenenfalls, Kriterien, die an der erzählenden Kunst, und womöglich nicht bloß an ihr, Stich halten?

Wie ist es, kann durch sprachliches Brillierenwollen um jeden Preis die zu erzählende Geschichte an ihrem Gehalt und Gewicht, sofern vorhanden, Schaden nehmen? Sind die, technisch-formal gesehen, versiertesten Sprachkünstler und Schöpfer außergewöhnlicher Wendungen letztlich schlechte Geschichtenerzähler? Weil sie nämlich das womöglich tief zu empfindende Wesen einer Fabel in ihrem Sprachfeuerwerk ertränken, jenes diesem zum Opfer bringen?! Das Wesen als die abhängige Variable des Wortes. Das Wort steht nicht, wie es doch sollte, jenem zu Diensten. Und das Ergebnis ist, daß das Ganze, so gekonnt es sein mag, ja gerade auf Grund dieser aufdringlichen Gekonntheit ein Blendwerk ist. Es wirkt gewollt, prätentiös und gesucht.

Zeitgenössische Autoren von dieser gewollt gekonnten Art sind, meiner Meinung nach, Sven Regener und Dietrich Schwanitz. Bei dem letztgenannten herrscht in Der Campus eine bemühte Leichtigkeit vor, die zweifelsohne unterhält. Aber dieser Autor, das merkt man von der ersten Zeile an, will gefallen, und folglich tendieren seine aufs Außergewöhnliche zielenden Sprachschöpfungen in die Richtung von Kabinettstückchen und verraten einen Hang zur Attitüde und zur Effekthascherei. Das Auffallende, Blendende prädestiniert diesen Erzähler zum Erfolgsautor.

Allerdings mache ich folgende Einschränkung: Nach dem Sturz der Tochter, Resultat des Handgemenges der Eltern, ändert sich schlagartig der Ton. Kein Sprachgewitter mehr, kein Trommelfeuer von außergewöhnlich sein sollenden Wendungen und extraordinären Formulierungen, sondern der unmittelbaren Betroffenheit über das unverhofft Geschehene angepaßte ruhige, still-betroffene Worte der anteilnehmenden Sorge. Dieser (unwillkürliche?) Stilwechsel hat mich letztlich doch für diesen Autor eingenommen, hat aus einer story dann irgendwie doch eine Geschichte werden lassen, an deren aus diesem dramatischen Vorkommnis resultierenden Ende der Lug und Trug und das böse Treiben berechnender Verschlagenheit in Form eines kühnen, gefaßten und klaren Monologs des angeklagten Anklägers erschöpfend bloßgestellt wird.

Sven Regeners Geschichten um den Unglücksraben und hochsympathischen Lebenskünstler Herrn Lehmann haben, bei aller, wiederum extrem unterhaltsamen Dramatik, einen nicht ganz so aufgeregten Ton, wie er für den Campus von Schwanitz charakteristisch ist. Hier erschlägt der Ton die Geschichte nicht so sehr, ist der gefühlten Atmosphäre und dem gesamten Ambiente angepaßt. Dennoch, es wirkt manieriert und affektiert, weil es nämlich aufmerken lassen soll, wenn das Stilmittel „dachte er“, „dachte Frank“ etc. wie eine Lawine über den Leser kommt, auch dann, wenn man sich irgendwann daran gewöhnt hat und es wie ein Anhängsel von Lehmanns schnoddriger Kauzigkeit zu akzeptieren bereit ist. Keine Frage, Regener versteht es, diesem vagierenden Außenseiter und Versager ganz viel Leben einzuhauchen, und auch im Auspinseln von Situationskomik ist dieser Autor mitreißend. Köstlich und zum Tränenlachen das Verweigerungsgespräch mit dem burschikosen und auf eine spezielle Art liebenswerten Vorgesetzten, der in Neue Vahr Süd auf eine ungemein humorvolle Weise ausgerechnet Lehmanns Verweigerungsgesuch unterstützt und bei dieser bis zur Neige ausgekosteten Gelegenheit seinen Untergebenen dazu auffordert, sich – man glaubt es kaum – an der Niete Frank ein Beispiel zu nehmen. Das führt, wer will es ihm verdenken, auf der Seite des Gemaßregelten zu nicht geringen Irritationen. Grandios! Aber dadurch, daß Regener das, was er kann und beherrscht, unentwegt einsetzt, verliert das Ganze und nutzt sich ab. Einen dritten Teil wird es – hoffentlich – nicht mehr geben!

So geht es auch, was Wunder, anderen Autoren. Schwer, gerade seine Stärken nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern sich ausgerechnet hier in Zurückhaltung zu üben und sie wohldosiert einzusetzen. Damit tun sich, jeder auf seine Art, auch Robert Menasse und der sonst doch so großartige Erzähler Christoph Ransmayr in Morbus Kitahara schwer.

Menasses Geschichte um das Scheitern eines philosophischen Systems in Gestalt der nicht nur zu geistigen Gewalttaten neigenden Hauptperson Leo Singer in Selige Zeiten, brüchige Welt driftet zusehends ins gewollt Verschrobene und Artifizielle ab. Dieser Österreicher nämlich läßt seinen Protagonisten mit der von ihm reproduzierten Die Theorie des Romans von Georg Lukács reüssieren. Mit der inversen Phänomenologie des Geistes Hegels indessen hat dieser Epigone kein Glück, im Unterschied zu seinem Erfinder, der diesen von den Füßen auf den Kopf gestellten Hegel im Suhrkamp Verlag zur Veröffentlichung gebracht hat. Dichtung und Wahrheit gehen bei diesem Autor für meinen Geschmack zu unvermittelt und abrupt ineinander über. Die Einfälle sind einfach zu weit hergeholt und sollen wohl frappieren, zumal sie ohnehin bloß für studierte Germanisten und Philosophen als solche identifizierbar sind. Des anderen Österreichers Sprachkunstwerk, die Rede ist von Christoph Ransmayr, befindet sich ganz nahe am Kitsch, von Pascal Mercier in Nachtzug nach Lissabon trefflich in folgende Worte gefaßt: „Kitsch ist das tückischste aller Gefängnisse … Die Gitterstäbe sind mit dem Gold vereinfachter, unwirklicher Gefühle verkleidet, so daß man sie für die Säulen eines Palastes hält.“ Konkret: Nicholas Sparks, der in seinen Romanen unentwegt pastellfarbenen Kitsch für Akademiker und Menschen mit Niveau zu Papier bringt.

Wohlgemerkt, Ransmayrs absonderlich präzise und eigentümlich durchdringende, unverwechselbare Sätze sind wirklich wie die „Säulen eines Palastes“. Aber sie sind mit dem Gold hin und wieder unwirklich und sonderbar geschraubt und gestelzt anmutender Gefühle verkleidet. Absicht? Sicherlich. Und beeindruckend gekonnt gemacht. Aber man merkt sie, die Absicht, und ist verstimmt, wie Goethe sagt.

Apropos Goethe. Viele seiner Werke machen ganz den Eindruck, vollkommene Exemplare ihrer jeweiligen Gattung zu sein, wenn man nämlich Schillers in der Nachfolge Kants geäußerten Überlegungen zu akzeptieren bereit ist. Demnach gilt: Ein Werk der Kunst muß wie ein absichtslos sich aus sich heraus entwickelndes Gebilde der (organischen) Natur erscheinen. Es ist oder sollte die Gestalt gewordene Zweckmäßigkeit ohne erkennbaren Zweck sein. Das bis ins letzte Detail sorgfältig Geplante und absichtsvoll und möglicherweise in angespanntester Konzentration Konstruierte und Komponierte muß den Anschein erwecken, als habe es sich wie von selbst, frei entfaltet. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick (Schiller).

Ist dies Ausdruck höchster Vollkommenheit in der Kunst? Wenn ja, dann heißt das für den Leser, daß er sich womöglich in einem Zustand interesselosen Wohlgefallens (Kant) befindet, der nach Schiller, dasselbe ist wie der – ästhetische – Zustand unendlich freier Bestimmbarkeit. Die Worte „Selbstvergessenheit“ und „Gehobenheit“ treffen das Gemeinte wohl noch am ehesten. Hinsichtlich der Werke, die für diese spezifisch schwerelose Freiheit einstehen, bedeutet das nichts anderes, als daß in ihnen der gewählte Ton und der Gehalt, die Stimmlage des Stils und der Geschichte aufs trefflichste zusammenstimmen und harmonieren.

Diesen Wechsel der Töne (Hölderlin), der gute Literaten ausmacht, findet man, um die wichtigsten deutschsprachigen zu nennen, bei Goethe, Thomas Mann, Robert Musil, bei Neueren, abgeschwächt, fallen mir auf Anhieb Daniel Kehlmann, Pascal Mercier, O.P. Zier, Markus Werner und die Wassermusik des Amerikaners T.C. Boyle ein.

Goethe spielt auf der Klaviatur der Stilformen ähnlich meisterlich wie Thomas Mann. Im Werther wird tiefes Empfinden in die intime Unmittelbarkeit des freundschaftlichen Briefwechsels gekleidet. Die verteufelte Humanität (Schiller) der Iphigenie hat darin ihren Grund, daß das gestörte Empfinden des verschmähten Liebhabers Thoas und des gemütskranken Bruders Orest durch die in den ruhigen Fluß des fünfhebigen Jambus gegossene emotionale Gefaßt- und offene Besonnenheit der Hohepriesterin Dianens (er-) lösend aufgehoben wird. Iphigenie als verkörperte, bis in die Sprache hinein personifizierte Harmonie vor dunkelstem, von Wahnsinn gezeichnetem Hintergrund. Die dem postrevolutionären Tumult kontrastierte stille, ruhiges Glück atmende Liebe in Hermann und Dorothea wird im freilich nicht nur aus heutiger Sicht unzeitgemäß und altertümlich-komisch wirkenden Versmaß des klassischen Hexameters manifest. Der West-östliche Divan ist ein leichtes, schwebendes, spielerisches Hin und her von zwischen dem Orient und Okzident vermittelnden Tonarten. Die nüchtern-abgeklärte Prosa von Wilhelm Meisters Wanderjahren schließlich ist der Reflex der Sprache auf die Grundhaltung des in sich gefestigten, zur Ruhe gekommenen Entsagthabens innerhalb dieses episch breit dahinfließenden, mit eingestreuten Intermezzi aufgelockerten Hoheliedes auf das tätige Leben.

Goethes stets, allen Variationen zum Trotz, objektiv wirkender, unaufgeregter Stil, der hin und wieder unpersönlich kalt wirken kann und wohl auch ist, ist das eigentliche Geheimnis der Ausgewogenheit seiner späteren literarischen Kompositionen.

Das Geheimnis eines anderen komponierenden Erzählers und Zauberers großen Stils, den Handlungsvordergrund und den strukturellen Hintergrund einer Erzählung fugenlos ineinanderzupassen, ist die an Richard Wagner geschulte Leitmotivtechnik bei Thomas Mann. In seinen Werken gibt es, sozusagen, keine freie, beziehungslose Note, kein überflüssiges Wort. Alles hängt mit allem wohldurchdacht zusammen, weist vor, zurück, aber der gefangen- und mitgenommene Leser merkt es nicht. Die Substruktur ist das Ganze, aber das Ganze wirkt so leicht, absichts- und schwerelos, als sei es frei von jeder formgebenden Berechnung und dem ordnenden Kalkül. Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen, wie es oben mit Schiller hieß. Ist dies Meisterschaft, dann ist Der Zauberberg ein Meisterwerk.

Er ist es aber, u.a., auch noch deswegen, weil es Thomas Mann in diesem Roman wie vielleicht in keinem anderen gelungen ist, ganze Wissensgebiete so in die Handlung zu integrieren, daß man spielerisch lernt, lernend spielt, ganz so wie Hans Castorp, der unheldische Held dieser Hochgebirgsgeschichte, dessen – ironischer – Wahlspruch lautet: placet experiri. Es ist eine hochunterhaltsame Freude, ein extremer Spaß, wie hier, auf circa 2000 Metern Höhe, bereits oberhalb der Baumgrenze, mit den Potenzen des Humanus auf eine unverbindlich-verbindliche Art jongliert wird, so daß sich alle Beteiligten, die inner-, aber auch die außerhalb der Buchdeckel Versammelten auf eine schwerelos dahingleitende Art die Zeit vertreiben. Soll Kunst Freude bereiten, dann tut dies Der Zauberberg wie kaum ein anderer aller mir bekannten Romane.

Aber das ist noch nicht alles. Mann ist, wie Goethe, ein Meister des Stilwechsels, mehr noch übrigens als Robert Musil, dem mit seinem Fragment gebliebenen Der Mann ohne Eigenschaften ein ironisch getöntes Sittengemälde über das kaiserliche, dekadente, an sich selbst überdrüssig gewordene Vorkriegsösterreich gelungen ist, mit Die Verwirrungen des Zöglings Törleß eine verstörende psychologische Studie über den Sadismus, die es an Intensität ohne weiteres mit dem Tobias Mindernickel Thomas Manns oder Tschechows Agafja aufnehmen kann. In der Joseph-Trilogie sieht der erstaunte Leser sich unversehens in die altägyptische Kultur der Pharaonen versetzt, wobei in die flinke Rede der gewollt oder ungewollt in Josephs Geschichte Involvierten, ein köstlicher Spaß, ab und an französischsprachige (!) Brocken eingestreut sind. Ein Zeichen beginnender Weit- und Weltläufigkeit. Der Fragment gebliebene Felix Krull, ein Früh-Spät-Werk, ist eine humorvolle Groteske voll schwebender Leichtigkeit über dem dunklen Grund fleischlich-lustvoller Verfallenheit. Die andere Humoreske mit ähnlichem Hintergrund ist die sozusagen auch sprachlich in Indien angesiedelte Geschichte von triebhafter Liebe, Die vertauschten Köpfe mit Namen, mit der wahnwitzigen Episode des unerschrockenen Asketen und heilig-ausgemergelten Einsiedlers Kamadamana, dessen demonstrativer Mut, sich dem lustdurchtränkten Lebensdunst seiner emotional und physisch überforderten Besucher gegen alle scheinbaren inneren Widerstände zu stellen zum Totlachen ist.

Lediglich, das sei kritisch angemerkt, im Doktor Faustus scheint mir Thomas Mann gegen Tschechows „Liebesverbot“ verstoßen zu haben, zum Nachteil für die tragische Geschichte vom Tonsetzer Adrian Leverkühn. Das Leiden des fingierten Erzählers Zeitblom an Deutschlands Niedergang ist doch ziemlich penetrant, zumal es auch dasjenige Manns war. Und die Verquickung des Politischen mit dem Persönlichen macht die Sache auch nicht besser, sondern womöglich, auf Grund seiner gesteigerten Larmoyanz, eher schlimmer. Diese doppelt veranlaßte unglückliche Liebe ist fragwürdig und ärgerlich, wenngleich er, das sei dem Autor zugute gehalten, von der ersten Seite an unentwegt auf das Mißliche dieser hochgradigen, affektgeladenen Betroffenheit reflektiert.

Einen ähnlich souveränen Stilwechsel von Werk zu Werk bringt von den mir bekannten lebenden Autoren allenfalls Daniel Kehlmann zustande. In Die Vermessung der Welt wird das liebenswürdig Schrullige und Versponnene des dann doch auch wieder heldenhaften Gebarens der beiden Protagonisten bis in die Dialoge hinein formvollendet in Sprache gegossen. Das Abenteuer des Wissens spielt sich sowohl in der lebensgefährlichen Weite von Sumpfgebieten und kühnen Hochgebirgsszenarien ab als auch ist es, wundersamerweise, in der bornierten Enge kleinstaatlicher, deutscher Biedermeierei präsent, ohne deswegen, auf Grund seiner ulkig-verdrehten und aberwitzig spekulativen Art, weniger abenteuerlich zu sein. Am Ende gelingt Kehlmann eine schwebend leichte Synthese, die zeigt, daß reine Mathematik und angewandte naturwissenschaftliche Forschung in Wahrheit zwei Seiten derselben Medaille sind und im Grunde genommen ein und dasselbe. Chapeau! In Ich und Kaminski wird das Geplänkel und Kräftemessen verschlagener Eitelkeiten und der schließliche Verzicht auf Seiten des Kritikers lakonisch-humorvoll dargeboten. Was außerdem auffällt: Kehlmann ist äußerst kenntnisreich nicht allein auf dem Gebiet der Wissenschaften, wofür im übrigen auch der gleich noch zu erwähnende kleine Roman Mahlers Zeit steht, sondern auch im Bereich der bildenden Kunst versteht er es virtuos, Gemaltes beschreibend für den gebannten Leser zu visualisieren. In Mahlers Zeit wird das Thema Zeitreisen mit Blick auf den Zweiten Hauptsatz der Wärmelehre und die Möglichkeit der Aufhebung der Entropie wie in einem Science-Fiction-Roman in bedrängenden, verstörenden Sequenzen präsentiert. Es handelt sich, so gesehen, um nicht weniger als den Kollaps, die Rücknahme des physikalisch-wissenschaftlichen Weltverständnisses, an dessen Ende das völlige Scheitern des sozusagen unzeitgemäßen Helden steht.

Pascal Mercier ist mit seinem Nachtzug nach Lissabon eine ruhige, gefaßte und auf eine sonderbar unaufgeregte Art bewegte, vergebliche Suche nach dem (verlorenen oder nie gehabten?) unstillbar lebenshungrigen Selbst der beiden über die Jahrzehnte hinweg verbundenen Hauptpersonen gelungen. Eine Variante zu Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, wenn man so will.

Der Salzburger O.P. Zier präsentiert mit seiner Himmelfahrt, in der das klassische mundus vult decipi ironisch zu späten Ehren kommt, lebensvolle Charaktere, und vor allem der unerschrockene Draufgänger, Trendsetter und Frauenheld Alex, der (er-) lebt, was sein Freund, der Erzähler, lediglich beschreiben kann, ist von einer unglaublichen Präsenz und läßt überbordende Lebensfreude aufblitzen.

Martin Suters meisterhafte Art schließlich, spielerisch schwebend, unaufdringlich schwerelos, dabei präzise und wohldosiert knapp Spannung aufzubauen, verliert allerdings ein wenig durch ihre Monotonie. Der Ton ist irgendwie immer der gleiche oder wirkt so, wobei allerdings, genug der unpassenden Mäkelei, der dezente, mit Zwischentönen jonglierende Humor aus seinem Erstling Small World schlechterdings mitreißend ist. Und wie Suter sich in die verwirrte Psyche des vertauschten Alzheimerpatienten Tomikoni Langkoch einfühlt ist nur noch brillant. Ein Meisterstück! Also gilt für Suter doch nur sehr bedingt, was das Generalhandicap so vieler Autoren ist: Im Stilistisch-Formalen zu Nachahmern ihrer selbst zu werden.

Es mag noch viel, unendlich viel Gutes, wenn auch nicht wirklich Vortreffliches und zeitlos Klassisches in der erzählenden Literatur geben. Dem Schweizer Markus Werner beispielsweise ist in Am Hang eine mitreißende, dabei im Ton unaufgeregte psychologische Studie und spannende Bestandsaufnahme unterschiedlich motivierter Liebe mit doppeltem bis dreifachem Boden gelungen. Und, um auch noch zwei amerikanische Gegenwartsautoren zu erwähnen, deren Stil allerdings so gut wie gar keine Variationen kennt, T.C. Boyle hat in Wassermusik die (Kehlmann läßt grüßen, genauer, Kehlmann hat sich´s gesagt sein lassen) durch nichts aufzuhaltende, urgewaltige Leidenschaft des historischen Afrikaforschers Mungo Park in phantastischer Drastik und wahnsinniger Dramatik, die einem vor allem zum jagenden Ende hin den Atem verschlägt, hingezaubert. Außerdem erinnere ich en passant an John Irvings ruhige und leise, traurig-schöne, trotz allem dem Leben zugewandte Waisenhaus- und Abtreibungsgeschichte um den drogenabhängigen, ungeheuer anrührenden und hochsympathischen Anstaltsleiter Doktor Wilbur Larch und seinen sensiblen Gehilfen wider Willen und schließlich kongenialen Nachfolger Homer Wells in Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Diese Fähigkeit, mitzureißen und/oder zu berühren geht, bei zugegebenermaßen ganz anderen, sei´s psychologisch-metaphysischen, sei´s politischen Themenstellungen, der absichtsvollen Schwere und surrealistischen Verschrobenheit einerseits eines Milan Kundera vollkommen ab. Aber er wie andererseits Günter Grass mit seiner gewollten, gesuchten, immer wieder etwas geschraubt-holprigen, moralinsauren, angestrengt-anstrengenden und summa summarum parteibuchgeschwängerten Polit-Prosa verfolgen offenbar mit ihrer Literatur andere Ziele, denen ich aber meinesteils als (des-) interessierter Leser weder formal noch inhaltlich übermäßig gern gefolgt bin. Ehrlich und gerade heraus gesagt: Diese Lektüre war stets eine elende Quälerei. Gemocht aber wird und Freunde hat selbstverständlich auch so etwas, dem man allerorten und unentwegt die Absicht anmerkt, was Verstimmung zur Folge haben kann.

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft1

Helmut Pulte, Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur Mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann

Besprochen von Frank-Peter Hansen

  • PULTE, Helmut: Axiomatik und Empirie : eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005. Edition Universität. ISBN 3-534-15894-6.

Man muß kein Prophet sein, um zu prognostizieren, daß sich dieses Buch, das man immer wieder lesen und/oder als Nachschlagewerk zu Rate ziehen kann, als Standardwerk etablieren wird oder bereits etabliert hat. Es bietet eine Analyse der Newtonschen Mechanik in ihrer mehr als 200jährigen, speziell – „bedingt durch die Konzeption reiner Mathematik“ (358) – deutschsprachigen Entwicklung. Im Zentrum steht die Frage nach ihrer Modernisierung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Wandel im Verhältnis zwischen Axiomatik und Empirie. Sein wichtigstes Ziel sieht Pulte darin, „die Auflösung des axiomatischen Denkens der KMN (Klassische Mathematische Naturphilosophie, F.-P.H.) im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu analysieren“ (76). Der Übergang „von einem ‚axiomatisch-deduktiven‘ zu einem ‚hypothetisch-deduktiven‘ Theorieverständnis“ (81) soll nachvollzogen werden. Behandelt werden, um nur die wichtigsten Theoretiker zu nennen, I. Newton, L. Euler, J. Lagrange, I. Kant, J. Fries, C. G. J. Jacobi, B. Riemann und C. Neumann. Für an Fragen der reinen und angewandten Mathematik, der Physik und Wissenschaftstheorie (-geschichte) Interessierte ist diese Arbeit gleichermaßen lesenswert.

Für Newton, den Begründer des Mechanischen Euklidianismus, sind, so erfährt man, Axiome „die weitestgehenden Verallgemeinerungen von Erfahrung, die über die Bewegung materieller Körper gewonnen werden können“ (98). Das bedeutet, umgekehrt, daß es in Newtons mathematischer Theorie der Bewegung „eben nicht um die Bereitstellung einer formalen Struktur“ geht, „der nachträglich (durch Korrespondenzregeln) empirische Bedeutung verliehen wird. Vielmehr ist nach seinem Verständnis die Mathematik selber empirisch bedeutungsvoll …“ (111).

Ein anderes, hiermit in direktem Zusammenhang stehendes Beispiel: Der Mathematiker Leonhard Euler ist der Vertreter einer sensualistischen Ideenlehre. Alle Gedanken, inklusive der mathematischen Allgemeinbegriffe gehen auf die sinnliche Wahrnehmung zurück. Der Verstand macht, per Abstraktion, aus den aufs Einzelne bezogenen Vorstellungen der Wahrnehmung allgemeine Begriffe. Da also alle Allgemeinbegriffe, unter die auch die mathematischen der Zahl und der Ausdehnung fallen, auf Sinneswahrnehmung beruhen, entfällt für Euler, wie übrigens auch für D‘Alembert (vgl. 139 f.), die Schwierigkeit jeglichen Apriorismus‘: Aus dem Formalen etwas empirisch Reales zu machen. Weil die wie auch immer bestimmten Formen aus dem in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Einzelnen abgeleitet sind, ist die Beziehung eine per se lückenlose. „Euler wendet sich daher (…) emphatisch dagegen, abstraktiv gewonnene mathematische Allgemeinbegriffe und physische Einzeldinge nach dem Schema ‚Idealität-Realität‘ zu unterscheiden. Die Eigenschaften der Allgemeinbegriffe der Mathematik müssen sich immer in den spezielleren, mit physikalischen Einzeldingen korrespondierenden Ideen wiederfinden, so daß auch für Euler (…) ein ‚Anwendungsproblem‘ im modernen Sinne nicht existiert: „Alles, was einem allgemeinen Begriff zukömmt, kömmt auch den untergeordneten zu, und alle die Eigenschaften, die mit ihm verbunden sind, sind auch nothwendig mit den unter ihm begriffenen Individuis verbunden“. ‚Mathematische‘ Ausdehnung etwa ist kein idealer, für die Physik unbrauchbarer Begriff, sondern ist real in dem Sinne, daß die Eigenschaften, die die Mathematik von ihr aussagt, auch von (notwendig ausgedehnten) physischen Körpern ausgesagt werden können. Eulers bevorzugtes (weil auf Leibniz‘ Monadenlehre abzielendes) Beispiel hierfür ist die unendliche Teilbarkeit der Ausdehnung: Sie ist mathematisch möglich und also auch physisch. Wären solche Schlüsse nicht erlaubt, würde die Geometrie eine „ganz unnütze und vergebliche Spekulation“ sein; diejenigen, die „zwischen den abstrakten und wirklichen Gegenständen“ unterscheiden, „erwägen nicht, daß keine einzige Folgerung, kein einziger Schluß mehr gelten würde, wenn es nicht erlaubt wäre, von jenen auf diese zu schließen; denn was thun wir in allen unsern Schlüssen anders, als daß wir die besondern Begriffe für die allgemeinen setzen““ (181). Zusammengefaßt: Mechanische Axiome sind für Euler „auch als mathematische Sätze nicht a priori gültig, denn die Mathematik insgesamt ist keine Wissenschaft a priori in dem Sinne, daß ihre Axiome und (qua Übertragung Eulerscher ‚logischer Wahrheit‘) Theoreme unabhängig von jeder Erfahrung gelten würden“ (ebd.).

Aufschlußreich auch Lagranges, „vom modernen Standpunkt“, wie es heißt, „durchaus befremdliche Vorstellung“ – man ahnt den konventionalistischen Generalvorbehalt –, daß die „intrinsische mathematische Struktur der Natur (…) gleichsam abgebildet (wird, F.-P.H.) auf den mathematischen Kalkül, der seinerseits diese Struktur offenlegt. (…) Lagrange unternimmt hier den Versuch, die Symbole der abstrakten Algebra an konkrete, erfahrungsmäßig gegebene Bewegungen anzubinden und so als realitätsvermittelnd auszuweisen – ein Versuch, der vergleichbar ist mit Newtons genetischer Anbindung seiner Fluxionsrechnung an die mechanische Bewegung“ (208; vgl. ebenso 281).

Der Name des Mathematikers Carl. G. J. Jacobi steht für den Bruch mit dem axiomatischen Denken der Klassischen Mathematischen Naturphilosophie. Ihr „Certismus und ‚Evidentialismus‘ wird letztlich durch eine Auffassung reiner Mathematik („im Sinne bloßer symbolischer Konstruktion nach Gesetzen des Denkens“ (379), F.-P.H.) zu Fall gebracht, die ihre Grenzen genau zu bestimmen sucht, um innerhalb dieser Grenzen strengere Kriterien mathematischer Gewißheit und Evidenz zur Geltung zu bringen. Zugleich eröffnet diese Mathematikauffassung die Möglichkeit alternativer Prinzipienformulierungen (beispielsweise in Gestalt Riemannscher nichteuklidischer, und später auch n-dimensionaler Geometrien, F.-P.H.) – und stellt damit die Forderung der KMN nach Einzigartigkeit bzw. Eindeutigkeit der Systembildung zur Disposition – die in nichts anderem als der Kreativität der Mathematiker und der Autonomie der Mathematik selber angelegt ist: Die Möglichkeiten reiner Mathematik werden durch die Erfahrung nicht hinreichend restringiert, um das System der Mechanik eindeutig zu bestimmen. Aus diesen Gründen spreche ich hier von einer ‚rein mathematischen‘ Auflösung der KMN“ (330).

Riemanns auch wissenschaftstheoretisch moderner Standpunkt gewinnt Kontur, wenn man ihm den Standpunkt Newtons kontrastiert: „Für Newton konnte das Trägheitsprinzip zugleich ein empirisch verifiziertes Naturgesetz und ein mathematisches Axiom sein, weil für ihn die Euklidische Geometrie (und damit Euklidische Geradlinigkeit) die evidente und eindeutige Struktur des Raumes abgab. Riemann löst diesen einförmigen Zusammenhang gleichsam ‚von beiden Enden‘ her auf: Er hypothesiert das Trägheitsprinzip von der empirischen Seite her, und zugleich eröffnet er von mathematischer Seite andere Optionen, d.h. er problematisiert die für Newton selbstverständliche Eindeutigkeit. Diese zweite Seite stelle ich in die Tradition der (in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts Platz greifenden, F.-P.H.) reinen Mathematik, und sie findet in Riemanns ‚allgemeinem Begriff der mehrfach ausgedehnten Grösse‘ ihren deutlichsten Ausdruck“ (368 f.).

Für den Mathematiker Carl Neumann schließlich sind „mathematische und logische Sätze und Theorien (…) zwar inhaltsleer, aber sicher und wahr; die mathematische Physik jedoch partizipiert hieran nurmehr qua ‚Ableitungssicherheit‘ und nicht mehr auf der Ebene der Prinzipien selber, wie es in der KMN der Fall ist. Ein Certismus bezüglich Mathematik und Logik und ein Prinzipienfallibilismus bezüglich der mathematischen Physik (und empirischen Theorien im allgemeinen) kennzeichnen Neumanns Wissenschaftstheorie in den Principien der Galilei-Newton‘schen Theorie (1869, F.-P.H.)“ (414).

Das Fazit lautet: „Die Mathematik führt nicht nur keine materiale Wahrheit ‚von oben‘ in das wissenschaftliche System ein, wie es die ältere KMN wollte, sie eröffnet zudem ganz verschiedene Möglichkeiten, deduktive wissenschaftliche Systeme über den gleichen Erfahrungsbereich zu errichten. Die Mathematik selber zeigt nach Neumann auf, „wie ausserordentlich gross der Spielraum ist für die willkührlich zu wählenden Principien“; es zeigt sich, „dass das Gebiet abstracter Untersuchungen, welches sich hier dem Mathematiker bietet, ein unendliches ist“. Neumanns Principien der Galilei-Newton‘schen Theorie artikulieren deutlicher als jede andere Quelle der zweiten Jahrhunderthälfte die Auflösung der KMN ‚von oben‘, um die es in dieser Untersuchung geht, und sie liefern zugleich einen wichtigen Beleg für den bisher ‚verborgenen‘ Einfluß Jacobis. Die Mathematik, in der KMN der eigentliche Garant wissenschaftlicher Objektivität, ist zu reich an Möglichkeiten und zu unabhängig von Erfahrung, um nur einen ‚Spiegel‘ der physikalischen Realität abzugeben“ (417 f.).

Wenn allerdings laut Neumann mathematisch-physikalische Theorien bloß den Stellenwert subjektiver Gestaltungen haben, „welche (von willkührlich zu wählenden Principien aus, in streng mathematischer Weise entwickelt) ein möglich treues Bild der Erscheinungen zu liefern bestimmt sind“ (418), dann stellt sich zunächst die wissenschaftstheoretisch harmlose Frage: Wie, wenn nicht in theoretischer Be- und Verarbeitung bieten sich die Erscheinungen dar? Anders, in polemischer, weil der Position Neumanns angemessener Absicht formuliert: Eine Theorie, die sich, ihres Formalismus‘ und ihrer ausdrücklichen Willkür halber von so ziemlich allem, nur nicht ihrem abstrakt-autarken Regelwerk absolviert, kann nicht mehr ernsthaft nach der Adäquatheit ihrer Konstruktionen fragen. Sie ist ja, die gemachten Voraussetzungen stehen dafür, per se und a priori gegeben. Anders denn als logisch-mathematisch zugerichtete vermag eine derartige Theorienschwemme ihre Erscheinungen zugegebenermaßen überhaupt nicht mehr zu denken.

Dennoch, und dem gleich anschließend mitgeteilten zweiten Einwand zum trotz: Pultes wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung ist ungemein fundiert, genau und umfassend recherchiert und sprachlich exakt, klar, ich möchte sagen, souverän formuliert.

Schwer, bei dem Inhaltsreichtum dieser Arbeit eine halbwegs zufriedenstellende und repräsentative Auswahl zu treffen. Was ist der Erwähnung wert, auf welche Zusammenhänge ist unbedingt hinzuweisen und auf welche kann notfalls verzichtet werden? In der durch den Umfang einer Rezension ohnehin gebotenen Beschränkung zeigt sich der Meister.

Noch, en passant, eine unerhebliche Korrektur: Köhnkes Vorname ist nicht Karl, sondern Klaus, genauer, Klaus Christian.

Aber: In dieser Publikation wird das moderne, empirisch und/oder formal verfahrende, auf Erkenntnisgewißheit Verzicht leistende probabilistische und prinzipienfallibilistische Wissenschaftsverständnis lediglich referiert und beispielsweise dem induktiv abgesicherten „Prinzipiencertismus“ eines Newton – „there is no other way of doing any thing with certainty than by drawing conclusions from experiments & phaenomena untill you come at general Principles & then from those Principles giving an account (Erklärung, F.-P.H.) of Nature“ (134) – als eine ernst zu nehmende Alternative kontrastiert (vgl. 66 f., 72, 74 f., 111, 132 u. passim). Über den Sinn oder Unsinn dieser für Bescheidenheit plädierenden Haltung moderner Wissenschaftstheoretiker wird man, was wohl auch nicht ihre Aufgabe ist, in dieser historisch angelegten Arbeit leider nicht aufgeklärt. Deshalb seien hier abschließend, unter Berücksichtigung eines klassischen Vertreters gegenwärtiger Wissenschaftsauffassung, auf den sich auch Pulte als einen Gewährsmann regelmäßig und am Ende seiner Untersuchung gehäuft (414 ff., 419, 429 ff.) beruft, über diese Theorie, die eben keine Theorie der Wissenschaft, sondern ein einziger in polemischer Absicht vorgetragener Etikettenschwindel ist, ein paar sachdienliche Überlegungen nachgereicht.

Wissenschaftliche Exaktheit wird in Karl Poppers Erkenntnistheorie lediglich von logischen Sätzen erreicht, die, ihrer identitätslogisch untermauerten Abstraktheit wegen, nichts über die Wirklichkeit aussagen. Sie sind folglich zusammengefaßt in Theorien, die, weil sie von jeglichem Bezug auf einen Gegenstand losgesprochen sind, explizit den Stellenwert von „Erfindungen“ und „kühnen Vermutungen“ oder auch, weniger wohlwollend, von „schlecht durchdachten Mutmaßungen“ haben. Ihnen kontrastieren die empirischen Wissenschaften, deren ausnahmslos eingeschränkt gültigen Aussagen über die Wirklichkeit prinzipiell die Frage aufwerfen, ob sie zutreffen. Wissen ist also laut Popper weder im Bereich formallogischer Axiomatik zu erreichen noch in demjenigen induktiv und folglich gedankenlos (s.u.) zu erschließender Empirie. Womit er zweifelsohne recht hat. Nur, was hat dieses doppelt basierte Wissenschaftskonzept eigentlich mit Wissenschaft zu tun?

Popper diskreditiert den Anspruch von Wissenschaft(en) auf die Objektivität ihrer Einsichten dadurch, daß er einen Pappkameraden kreiert, an dem sich genau dieser Anspruch blamieren soll. Dieser zu widerlegende Pappkamerad heißt „Induktionsschluß“, wobei es sich um einen Schluß handelt, den es gar nicht gibt, der aber, als widerlegter, dazu herhalten muß, die Unmöglichkeit gesicherter Erkenntnis zu beweisen. Wie also funktioniert er?

In ihm wird „von besonderen Sätzen, die z.B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien geschlossen“, was, wie bei Pulte nachgelesen werden kann, bereits das methodologische Vorgehen Newtons gewesen ist. Die Allgemeinheiten allerdings, auf die es Popper, anders als Newton, die bei ihm für in ihrer Gesetzmäßigkeit begriffene Abläufe der Natur standen, abgesehen hat, sind insofern verräterisch, als er in ihnen nichts anderes zu sehen vermag als die Häufigkeit eingetretener Fälle. Das Allgemeine wird wie selbstverständlich durch ein numerisches Alle ersetzt. Das aber ist alles andere als selbstverständlich, sondern der erkenntnisbekrittelnden Absicht geschuldet. „Nun ist es aber nichts weniger als selbstverständlich, daß wir logisch berechtigt sein sollen, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele (!, F.-P.H.), auf allgemeine Sätze zu schließen. Ein solcher Schluß kann sich ja immer als falsch erweisen: Bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobachtungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind“ (Logik der Forschung, 2. Aufl., Tübingen 1966, S. 3).

Es stimmt, der allgemeine Satz Poppers ist keine gesicherte Erkenntnis. Zum einen, weil man in ihm nichts über die Eigenart eines jeweils besonderen Gegenstandes erfährt, da er, zum anderen, nichts weiter leisten soll, als ein stets vervielfältigbares, da quantitativ gestütztes und folglich problematisches Alle zu projektieren. Und drittens denkt die Biologie nicht über die Farbe des Federkleides von Wasservögeln nach. Warum nicht? Weil die Farbe nichts über gattungsspezifische Merkmale dieses Tieres aussagt.

Die Wissenschaft(en) gehen anders vor. Sie lösen eine Gattung aus gutem Grund nicht in die Allheit ihrer einzelnen Mitglieder auf, weil sie sich gerade für das Allgemeine interessieren, das diese Einzelnen zu Mitgliedern dieser Gattung macht. Um das Herausarbeiten der Bestimmungsstücke des solcherart verstandenen Allgemeinen bemühen sich die Wissenschaften. Um bei dieser Anstrengung erfolgreich zu sein, wird einerseits von den zufälligen Bestimmungen der in Frage stehenden Sache abstrahiert, und andererseits werden in den Prädikaten ihrer Urteile gattungsspezifische, für das Objekt wesentliche Bestimmungen ausgesagt, wozu die Farbe ganz sicher nicht gerechnet wird. Über sie mag der wissenschaftlich ungeschulte Verstand von Kindern ins Grübeln kommen, der sich gegebenenfalls darüber irritiert zeigt, daß Jungschwäne ein dunkelgraues Federkleid haben, und deswegen den Jungschwan nicht als zur Art dieser Wasservögel gehörig zu identifizieren in der Lage ist.

Kurz gesagt: Die Allgemeinheit des Urteilens, die Popper in der sozusagen kindlichen Manier eines sich begriffsstutzig anstellenden Erwachsenen anzweifeln möchte, kommt nicht durch das gedankenlose Aufhäufen von Beobachtungen zustande. Selbst Kinder im übrigen lernen, indem sie zu sprechen anfangen, den gesehenen Einzelfall zu verallgemeinern, worin ein begründeter Anlaß zur Freude besteht, der sich darin äußert, daß sie das Verstandene unablässig wiederholen. Darüber hinaus: Popper weiß, er mag sich so gezielt engstirnig anstellen wie er will, offensichtlich um die fragliche Identität der majestätischen Langhälse, wenn er sie an ihrem Federkleid blamieren will. Anders formuliert, der kritische Rationalist stellt sich hier womöglich vorsätzlich dumm, um nämlich seinen prinzipiellen Einwänden gegen gesicherte wissenschaftliche Einsichten und seinem Plädoyer für bescheidene Behutsamkeit beim bemühten Forschen einen Schein von Plausibilität zu geben.

 

Erstmals erschienen im Marburger Forum, Jg. 8 (2007), Heft 2

Enderle, Rubens: Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx, 23.10.08

Der historisch-systematische Kontext der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx[1]

von Rubens Enderle

I

Bereits wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Grundlinien der Philosophie des Rechts[2] im Jahr 1820 kam der Hegelschen Staatstheorie für die politische Debatte innerhalb Deutschlands eine erhebliche Bedeutung zu. Die in zwei Gruppen geteilten Schüler Hegels – die Jung- bzw. Linkshegelianer und die Alt- bzw. Rechtshegelianer – entfesselten einen aufgeregten Streit um die politisch-theoretische Erbschaft des Meisters. Es handelte sich hauptsächlich um die Interpretation des Themas der Versöhnung des Vernünftigen mit dem Wirklichen. Für die Junghegelianer ging es um den Beweis, dass das Wirkliche nicht unmittelbar mit dem empirisch-positiv Bestehenden identifiziert werden dürfe, sondern durch die Arbeit des Negativen vermittelt auf eine höhere Stufe des Begriffs gehoben werden müsse. Damit verfolgten die Junghegelianer die – theoretische – Absicht, der Hegelschen Staatstheorie ihren humanistischen, emanzipatorischen Inhalt zurückzugeben. Praktisch bemühten sie sich als journalistisch Tätige um die Verwirklichung dieses vernünftig-begrifflichen Inhalts: Sie propagierten die Überführung der nach wie vor absolutistischen preußischen Monarchie in eine zumindest konstitutionelle Monarchie, wobei sie zunächst nicht offen demokratische Positionen vertraten. In diesem Bestreben sind sie seit 1841 noch bestärkt worden, als sich nämlich herausstellte, dass die von Friedrich Wilhelm IV. initiierte Verfassungsreform allenfalls ein halbherziger Kompromiss war. Die konstitutionelle Monarchie war nicht einmal ein Ausgleich zwischen den Interessen des (Feudal-) Adels und den Reformkräften, so dass die Junghegelianer sich gedrängt sahen, der Hegelschen Staatstheorie zugunsten einer Propagierung demokratischen Gedankenguts den Rücken zu kehren.

Obwohl Marx dem junghegelianischen Denken damals nahe stand, gab es doch auch gravierende Differenzen. Anfang 1841, anläßlich seiner Doktorarbeit, denunzierte er die Kritiker Hegels als „moralisch“ und „unphilosophisch“, wenn sie sich polemisch über Hegels sogenannte „Akkommodation“ äußerten. Sie vertraten irrtümlicherweise die Ansicht, Hegel habe sich aus taktischen Gründen und Opportunitätsrücksichten den politischen Gegebenheiten angepaßt und vergaßen darüber, dass Hegel – philosophisch gesprochen – in einem „unmittelbaren, substantialen, sie (hingegen, R.E.) in (einem, R.E.) reflectirten Verhältniß zu seinem System standen“. Anders gesagt, Hegels Fehler war der seines Systems und eben keine persönlich motivierte Vorsichtsmaßregel eines Ängstlichen. Eine wirkliche philosophische Kritik hätte Marx zufolge also folgendes zu leisten gehabt: zu demonstrieren, dass „die Möglichkeit dieser scheinbaren Accomodationen in einer Unzulänglichkeit oder unzulänglichen Fassung seines Princips selber ihre innerste Wurzel hat“, oder, noch prononcierter, dass die als eigentlich systemfremd beanstandete Akkommodation ans Bestehende das Prinzip der Philosophie Hegels sei. Also habe man die innerliche Entwicklung von Hegels Denken, seine ureigene Logik offenzulegen, die, metaphorisch gesprochen, „bis an deren äußerste Peripherie sein eigenstes geistiges Herzblut hinpulsirte“. Diese Rekonstruktion könne aber, ihrer Befangenheit wegen, keine moralisch fundierte Kritik leisten, sondern bloß eine, die am „Fortschritt des Wissens“ ihr Maß habe; die Rede ist von immanenter Kritik. „Es wird nicht das particulare Gewissen des Philosophen verdächtigt, sondern seine wesentliche Bewußtseinsform construirt, in eine bestimmte Gestalt und Bedeutung erhoben, und damit zugleich darüber hinausgegangen“.[3] Anstelle des mißbilligenden Deutens auf sogenannte Unzulänglichkeiten Hegelschen Denkens habe die wahre Kritik sie aus ihrem Grund heraus zu begreifen und damit an ihnen selbst als unwahr zu widerlegen.

Diese erste Marxsche Erklärung des Begriffs der „philosophischen Kritik“ ist 1842 in einen Artikel der Rheinischen Zeitung wiederaufgenommen und weiter entwickelt worden. In einer Art Glosse gegen die Historische Rechtsschule und ihren Vorläufer Gustav Hugo demonstrierte Marx den in Wahrheit romantischen Hintergrund von Hugos vermeintlichem Kantianismus und sprach in diesem Zusammenhang von einem „Betrug“. Darüber hinaus verglich er die „gemeine Skepsis“ der Historischen Rechtsschule mit der „Skepsis des achtzehnten Jahrhunderts“, d.h. mit der skeptischen Note der durch Kant beeinflußten und ins Subjektive modifizierten Aufklärungsphilosophie. Während die Skepsis der Historischen Rechtsschule den Schein von Rationalität nur deswegen kritisiert, um sich dem bloß Positiven nur umso bedingungsloser auszuliefern, sucht die aufgeklärte Kritik das hinter diesem Schein verborgene Wesen sichtbar werden zu lassen. Dieses Wesen gibt sich dem geschichtlich geübten Blick als die „Loslösung des neuen Geistes von alten Formen, die nicht mehr werth und nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“, zu erkennen. Hier kann man einerseits mutmaßen, dass es sich um eine hegelianisierende Interpretation der Kantischen praktischen Philosophie handelt. Allerdings sollte man sich andererseits nichts vormachen: Marx vertritt keinesfalls einen Moralismus, dessen Spezifikum es ist, die Historie an noch dazu apriorischen Sollensmomenten zu blamieren. Nicht um eine abstrakte Idee der Vernunft, nicht um das Kantische Noumenon eines subjektiven Geistes geht es ihm, sondern darum, den Begriff der in sich notwendigen geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. Die Skepsis des 18. Jahrhunderts zertrümmerte bloß das Zertrümmerte, verwarf das ohnehin Verworfene. Der „neue Geist“ hingegen befreite sich von den „alten Formen, die dank der eigenen Entwicklung dieses Geistes nicht mehr fähig waren, ihn zu fassen“. Kantisch an diesem durch Hegel vermittelten Standpunkt ist allenfalls noch die insgesamt aufklärerisch-kritische Grundeinstellung bei Marx. Ohne eine auch praktisch werdende Kritik gibt das „Verworfene“ dem „neuen Leben“ keinen Raum, der „neue Geist“ bleibt an die „alten Formen“ gebunden und man wird Zeuge der „Verfaulung“ einer Welt, die sich in diesem Zerfallsprozess „selbst genießt“.[4] Die Kritik, so läßt sich zusammenfassend sagen, ist keine, die die Welt an einer externen Rationalität blamieren möchte, sondern sie selbst ist nichts weiter als eine rationale Betrachtung geschichtlicher Abläufe, sozusagen deren Selbstbewusstwerden, wodurch, so die Unterstellung, der Boden bereitet wird für die Verwirklichung wahrer Rationalität.

In dem Manuskript Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie (ZKhR) und dem Briefwechsel von 1843, der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde, gibt Marx der Idee der „philosophischen Kritik“ ihre endgültige Gestalt. In der ZKhR kontrastiert er sie sowohl dem spekulativen Dogmatismus Hegels als auch dem „entgegengesetzten, dogmatischen Irrthum“ der „vulgären Kritik“, d.h. derjenigen der Berliner Gruppe der Freien, deren wichtigste Mitglieder Bruno Bauer und Max Stirner waren. Die „vulgäre Kritik“ nimmt in Hinblick auf die empirische Wirklichkeit eine arrogante Haltung ein. Sie befaßt sich mit den Widersprüchen des Bestehenden nur deswegen, um, in intellektuellem Hochmut, alles Reale und die in ihr beheimatete menschlich-sinnliche Praxis inklusive der sogenannten „Masse“ verachten zu können. Beschäftigt sich die „vulgäre Kritik“ beispielsweise mit der Verfassungsfrage, dann macht sie lediglich „auf die Entgegensetzung der Gewalten aufmerksam etc.“ und „findet überall Widersprüche“. Sie ist „selbst noch dogmatische Kritik, die mit ihrem Gegenstand kämpft, so wie man früher etwa das Dogma der heiligen Dreieinigkeit durch den Widerspruch von 1 und 3 beseitigte“. Die „wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung“ dagegen „faßt“ die Widersprüche „in ihrer eigenthümlichen Bedeutung“, „begreift ihre Genesis, ihre Nothwendigkeit“, und „zeigt die innere Genesis der heiligen Dreieinigkeit im menschlichen Gehirn“.[5]

Kurze Zeit später, in einem Brief vom September 1843, behauptet Marx, dass die „kritische Philosophie“ sich auf zwei Bereiche erstrecken müsse: den des Theoretischen von Religion und Wissenschaft und den des Praktischen der Politik. Ihre Aufgabe sei die „Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf“. Das Thema des „Selbstbewusstseins“ nimmt also immer noch einen zentralen Platz im Marxschen Denken ein. Das Neue im Vergleich zu den anderen Texten besteht hier allerdings in einem merklichen Einfluss Feuerbachs, der im Februar 1843 die Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie veröffentlicht hatte. Marx schreibt an Ruge: „Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.“[6] Es handelte sich letztlich darum, die Kritik über die Grenzen des Feuerbachschen Denkens hinauszuführen, da dieses in dem engen theoretischen Rahmen der Religion und Wissenschaft gefangen war. Zu bedenken freilich bleibt auch: Die Feuerbachsche Anthropologie wird dennoch zum entscheidenden Vorbild für die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie.

II

Mit der Waffe der Kritik ausgerüstet war Marx für seine Abrechnung mit der Staatsphilosophie Hegels gewappnet. Seit Ende 1841 hatte er angefangen, an einem gegen die Philosophie Hegels – besonders gegen seine Theorie des Staates – gerichteten Artikel zu arbeiten. Im März 1842 verspricht er Ruge einen Text zu liefern, dessen Kern „die Bekämpfung der constitutionellen Monarchie als eines durch und durch sich widersprechenden und aufhebenden Zwitterdings“[7] sei. Diesen Beitrag, der in den Deutschen Jahrbüchern oder in den Anekdota hätte erscheinen sollen, blieb Marx schuldig, was auf seine immer intensivere Mitarbeit – zuerst als Beiträger, ab Oktober 1842 als Chefredakteur – an der Rheinischen Zeitung zurückgeführt werden kann. Außerdem wurde ihm wohl bewusst, dass diese praktisch-politisch motivierte Tätigkeit ihn zu einer Auseinandersetzung mit Problemen führte, deren Lösung eine tiefere Untersuchung der bestehenden materiellen Verhältnisse verlangte. Die seit Oktober 1842, seit seiner Arbeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung zu konstatierende progressive Radikalisierung der Marxschen Kritik war auch verursacht durch seine Unzufriedenheit hinsichtlich seiner eigenen Einschätzung der Hegelschen Rechtsphilosophie. Retrospektiv hat er diesen Zusammenhang 1859 in der Vorrede Zur Kritik der politischen Ökonomie notiert: „Im Jahr 1842-43, als Redakteur der ‚Rheinischen Zeitung‘, kam ich zuerst in die Verlegenheit über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen“. Marx beschloss, sich von „der öffentlichen Bühne in die Studierstube zurückzuziehn“, und fährt dann fort: Die „erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegel’schen Rechtsphilosophie“.[8]

Die namhaft gemachte Berücksichtigung der „materiellen Interessen“ kommt dann bereits in den im Oktober und November 1842 in der Rheinischen Zeitung veröffentlichten Artikeln Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz zum Zuge. Hier ergreift er Partei für die Interessen der verarmten Teile der Bevölkerung, denen selbst das Sammeln des trockenen, von den Bäumen gefallenen sogenannten ‚Raffholzes‘ verboten worden war. Die bedingungslose Subsumtion des Einzelnen unter die Allgemeinheit des Staates und das verabsolutierte und keine Ausnahmen duldende Recht des Privateigentums wird scharf kritisiert. Dem zum Handlanger des Privateigentums pervertierten Staat wird die Idee eines Staates kontrastiert, der sich vor allem auch der Interessen der verarmten Klasse anzunehmen hätte. Dessen Gewohnheitsrecht, die gemeinsten Bedürfnisse des menschlichen Lebens zu befriedigen, werde ihm durch das Recht auf Privateigentum ganz prinzipiell streitig gemacht.

Eine eigentümliche Mischung von Moral und Kritik bestimmt Marx‘ Argumentation. Das Holzdiebstahlsgesetz setzt diejenigen ins Unrecht, die, aus purer Not, sich an dem Recht auf Privateigentum vergreifen. Anstatt nun aber gegen einen Staat zu polemisieren, der prinzipienfest die Drangsale der von seiner Gesetzgebung unmittelbar Betroffenen missachtet, erteilt Marx ihm überraschenderweise einen Rat: des „instinktiven Rechtssinns“ seiner verarmten Klasse eingedenk zu sein, sprich, den Gerechtigkeitssinn derselben zu instrumentalisieren, um sie so zur wirklichen Teilnahme am Gemeinschaftsleben zu motivieren.[9] Das institutionalisierte Elend wird politisiert und ausgerechnet einem Staat, der das Sterben gerade erst legalisiert hat, wird angetragen, er möge auch die positiven und legitimen Eigenarten der Sitten der Armen, zu denen eben das Holzsammeln gehört, juristisch anerkennen. Nichts ist leichter und vor allem, in des Wortes doppelter Bedeutung, billiger zu haben als das: Die Eingemeindung der Paupers in den gemeinsamen Wertehimmel.

Immerhin, eine derart affirmative Kritik schien Marx dann doch nicht zufriedenzustellen. Ihm wurde klar, dass er – spiegelverkehrt – den wirklichen Zustand der Gesellschaft zu einer abhängigen Variablen des Rechtswesens des Staates gemacht hatte. Armut ist danach kein soziales Faktum, sondern wird aus der Abwesenheit des politischen Oberaufsehers abgeleitet, wo sie doch, umgekehrt, gerade erst durch die staatliche Gesetzgebung für rechtens erklärt worden ist. Denn genau dafür steht, darüber hinaus, das von Marx selbst geforderte Gewohnheitsrecht der armen Klasse: Es läßt, ein bloß moralisches Palliativ, die Armut innerhalb der sozialen Wirklichkeit unverändert bestehen, indem es ihr lediglich eine politisch-gesetzliche Einkleidung gibt. Die bürgerliche Gesellschaft ist und bleibt eine Klassengesellschaft mit der „Abstraktheit des Staates“ als gesetzgebendem Oberaufseher auch und gerade dann, wenn er sich des Bodensatzes der Gesellschaft rechtsförmlich in der Art annimmt, dass er seine prinzipielle Benachteiligung dadurch festschreibt, daß er ihn unter die – partikulären – Interessen des Privateigentums subsumiert. Faktisch zu kurz gekommen kann der Schein gepflegt werden, als kämen auch die Bedürfnisse der ausnahmslos Unterlegenen zu ihrem Recht. Marx hat, m.a.W., inzwischen die Akkommodation an die ontologisch untermauerte Überlegenheit des Staates selbst durchschaut, deren partieller Fürsprecher er kurz zuvor noch gewesen war.

Im philosophiehistorischen Kontext liest sich das dann als eine Art Bekenntnis etwa so: „Meine Untersuchung mündete in das Ergebniß, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind, noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in der politischen Oekonomie zu suchen sei.“[10] Marx‘ Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie ist ein Dokument des Übergangs einer zum Teil idealistischen Position eines kritischen Materialisten, der sich in den 50er Jahren endgültig den ökonomischen Fragen des Kapitals zuzuwenden begann.

III

Nach seiner Zeit bei der Rheinischen Zeitung ist Marx nach Kreuznach übergesiedelt, wo er am Vormittag des 19. Juli 1843 Jenny von Westphalen heiratete. Sie sind beide bis Oktober des Jahres in Kreuznach geblieben. Während dieser Zeit wartete Marx auf Nachrichten von Ruge, der ihn über das Datum und den Ort der Veröffentlichung der Deutsch-Französischen Jahrbücher[11], an denen Marx als Beiträger und Mitverleger mitzuarbeiten sich verpflichtet hatte, unterrichten wollte. Unterdessen studierte er die Geschichte der Französischen Revolution und die Klassiker der politischen Philosophie und nahm eine „kritische Revision“ der Hegelschen Philosophie des Rechts vor. Aus dieser Auseinandersetzung mit Hegel ging ein Manuskript von 157 Seiten hervor, in dem Marx große Teile der Grundlinien der Philosophie des Rechts – es handelt sich dabei hauptsächlich um die §§ der dritten, dem Staate gewidmeten Abteilung – abschrieb und kommentierte.[12]

Das Hauptthema der Marxschen Kritik an der politischen Philosophie Hegels ist die für die Moderne charakteristische Behauptung eines Gegensatzes zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft und der Hegelsche Versuch, diese Extreme theoretisch nach dem Vorbild der preußischen konstitutionellen Monarchie zu versöhnen. Die Marxsche Kritik gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, die Widersprüche oder Akkommodationen Hegels lediglich zu benennen, und erschöpft sich ebensowenig in der Absicht, dem preußischen Staat die Vision eines idealen Gemeinwesens zu kontrastieren. Die „wahrhaft philosophische Kritik“ hat nach Marx vielmehr die „Genesis“ und die „Notwendigkeit“ der wirklichen Widersprüche zu erfassen, egal ob es sich um Widersprüche des preußischen Staates, des modernen Staates oder der Hegelschen Philosophie handelt. Die Widersprüche der Hegelschen Philosophie werden aus ihr selbst heraus erklärt, d.h. aus den ontologischen Voraussetzungen der Hegelschen Spekulation, die den zentralen Gegenstand der Marxschen Kritik bildet. Erst auf der Grundlage der Kritik der spekulativ-logischen Voraussetzungen kommt Marx zu dem hieraus abzuleitenden speziellen Fall der Hegelschen Staatsauffassung.

Die Kritik der Spekulation, womit das Manuskript beginnt, ist eine grundsätzliche, wenn man so will, ontologische Kritik. In dem § 262 bestimmt Hegel den Staat als die „wirkliche Idee“, als den „Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet (…)“. Familie und bürgerliche Gesellschaft sind laut Marx „das Treibende“, die „conditio sine qua non“, die „Voraussetzungen“ des Staates: „Das Faktum ist, daß der Staat aus der Menge, wie sie als Familienglieder und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft existire hervorgehe“. Spekulatives Denken spricht jedoch dieses Faktum „als That der Idee“ aus, „nicht als die Idee der Menge, sondern als That einer subjektiven von dem Factum selbst unterschiedenen Idee“, und verleiht ihm dadurch eine logisch-vernünftige, von der realen Tatsache unabhängige und verselbständigte Form. Die empirische Wirklichkeit „ist nicht vernünftig wegen ihrer eigenen Vernunft, sondern weil die empirische Thatsache in ihrer empirischen Existenz eine andre Bedeutung hat, als sich selbst“, da sie „nicht als solche, sondern als mystisches Resultat gefaßt“ wird.[13] Die Hegelsche Spekulation verkehrt das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat: „Die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Producirende wird als das Product seines Products gesetzt“. Die „wirklichen Subjekte“, Familie und bürgerliche Gesellschaft, werden in Prädikate der Idee verwandelt, während die Idee, das abstrakte Prädikat, „versubjektivirt“ wird. Wenn aber einerseits die Wirklichkeit, die „gewöhnliche Empirie“, „nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen“ wird, dann hat andererseits die versubjektivierte wirkliche Idee „nicht eine aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein“[14]. Die von Hegel durchgeführte Verkehrung ist keine der empirischen Wirklichkeit – das wäre dann so etwas wie ein Wunder –, sondern allein ihrer „Betrachtungsweise“ oder „Sprechweise“. Hegel gibt der Wirklichkeit eine bloß „scheinbare Vermittlung“, „die Bedeutung einer Bestimmung“, „eines Resultats, eines Produkts“ der Idee, aber er lässt den Inhalt, die Wirklichkeit selbst völlig unberührt.

Die Marxsche Kritik an Hegels Philosophie ist, wie bereits erwähnt, stark von Feuerbach beeinflusst worden. Dieser Einfluss wurde jedoch von den Kommentatoren oft falsch verstanden; Marx sollte lediglich die Positionen des Subjekts und des Prädikats mehr methodisch als urteilstheoretisch vertauscht und so Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt haben.[15] Marx privilegiert aber in Wahrheit nicht das methodologische Verfahren eines bloßen Austauschs von Subjekt und Prädikat, sondern er konzentriert sich vielmehr auf die Kritik der (onto-)logischen Voraussetzungen, die diesen Stellentausch provozieren. Er setzt also mit seiner Kritik eine Stufe tiefer an. Was Marx als das „Geheimnis“ der Hegelschen Spekulation denunziert ist, dass bei Hegel die Ontologisierung der Idee mit der Ent-Ontologisierung der empirischen Wirklichkeit Hand in Hand geht: Die Idee wird empirisch-real und die Realität wird zum logischen Setzungsakt eines imaginierten Geistes. Konkret gewendet: Die Idee des Staates ist der Schöpfer einer entsprechend vergeistigten Familie und bürgerlichen Gesellschaft. „Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung, erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt“.[16] Der urteilstheoretischen Umkehrung des Subjekt-Prädikatsverhältnisses korrespondiert dann die ontologische Umkehrung zwischen den empirisch-realen und den idealen Bestimmtheiten, dem konkreten Inhalt und der abstrakten Idee oder, kurz, dem Sein und dem Denken. Die in ein wirkliches Subjekt verwandelte Idee hat dann konsequenterweise die Macht, aus sich selbst, einer creatio ex nihilo gleich, endliche Bestimmtheiten zu entlassen. Sie „erniedrigt sich nur in die ‚Endlichkeit’ der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, um durch ihre Aufhebung ihre Unendlichkeit zu genießen und hervorzubringen“. Das endliche Sein ist nach dieser im übrigen an den Gottesbeweisen der Scholastik orientierten Auffassung nichts weiter als das objektive Moment der unendlichen Idee, das endliche Prädikat des unendlichen Subjekts. Marx kontrastiert diesem theistischen Konstrukt, und zwar unter dem Einfluss Feuerbachs, ein wissenschaftlich zu erforschendes bestimmtes, reales Sein. Seine Logik soll durch die Arbeit des Gedankens erarbeitet werden. In Feuerbachs Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie liest sich das so: „Der Gedanke ist bei H[egel] das Sein; – der Gedanke das Subjekt, das Sein das Prädikat. (…) Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat.“[17]

Feuerbachs Kritik der Hegelschen Spekulation richtet sich also ebenfalls nicht gegen einen bloß methodologischen Fehler, sondern weist das Falsche innerhalb der ontologischen Bestimmung selbst nach, auf der die Methode beruht. Der Gott der Theologen ist folglich kein Geschöpf der wirklichen Menschen, sondern der Geschaffene wird, umgekehrt, zum Schöpfer stilisiert.[18] Das Abhängigkeitsverhältnis wird passenderweise nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch verkehrt. Die theoretische Akkommodation zeitigt unmittelbar, ganz im Sinne des Erfinders, praktische Folgen. Die logische Frage nach dem „Subjekt“ konzentriert sich dann auf die grundsätzliche ontologische Frage: „wer ist das Sein“, bzw. „das Wirkliche“. Die Antwort Feuerbachs auf dieses künstliche Dilemma lautet kurz und bündig: „Das Wirkliche in seiner Wirklichkeit oder als Wirkliches ist das Wirkliche als Objekt des Sinnes, ist das Sinnliche.“[19]

Auch Marx setzt sich, genau genommen, nicht nur mit Hegels Logik auseinander, sondern auch er konzentriert sich auf die dieser Gedankenwelt zugrundeliegenden realen Bestimmungen. Marx nimmt nicht vorrangig Anstoß an einer falschen Verwendung der Logik, und an einer Berichtigung derselben ist ihm allenfalls mitlaufend gelegen. Gerade weil sich bei Hegel die Logik letztlich gegen ihre realen Gründe verselbständigt hat, ist es nur konsequent, wenn sie, ein beliebig zu verwendendes Instrument des Gedankens, ein von den zu erkennenden Objekten getrenntes Eigenleben führt; sie weiß etwas, ohne sich auf die Gegenstände ihres Wissens eingelassen zu haben, eben weil es bloß diejenigen ihres Wissens sind. Freilich kann eine derartige formale Logik korrekt funktionieren, ja, sie muß es sogar, sofern man sich bei den jeweils vollzogenen Urteils- und Schlussformen regelkonform verhalten hat. Mit dem gedanklich zu erschließenden „spezifischen Wesen“ der empirischen Realität haben diese am Satz des ausgeschlossenen Widerspruchs orientierten Formalismen allerdings überhaupt nichts zu tun. Eine Übereinstimmung zwischen den Formen des Gedankens und denen der Wirklichkeit ist hier purer Zufall und ein lediglich mögliches Resultat vorausgegangener Willkür. Ihr fehlt eben die Einsicht in die in der Sache begründete „Notwendigkeit“, weil sie nur, gemäß den Kriterien einer ausgewachsenen Vorurteilskunde, die Notwendigkeit des verselbständigten und anschließend objektivierten Gedankens reflektiert: „Hegel begnügt sich damit. Auf der einen Seite: Kategorie ‚Subsumtion’ des Besondern etc. Die muß verwirklicht werden. Nun nimmt er irgendeine der empirischen Existenzen des preußischen oder modernen Staats (wie sie ist mit Haut und Haar), welche unter anderm auch diese Kategorie verwirklicht, obgleich mit derselben nicht ihr spezifisches Wesen ausgedrückt ist. Die angewandte Mathematik ist auch Subsumtion etc. Hegel fragt nicht, ist dies die vernünftige, die adäquate Weise der Subsumtion? Er hält nur die eine Kategorie fest und begnügt sich damit, eine entsprechende Existenz für sie zu finden. Hegel gibt seiner Logik einen politischen Körper; er gibt nicht die Logik des politischen Körpers.“[20]

Was Hegel also fehlt, ist nicht eine wie auch immer brauchbare Logik nach dem Vorbild der Mathematik etwa, sondern die Einsicht in eine „vernünftige“, d.h. „adäquate Weise“ der „Subsumption“. Ihm ist ironischerweise beim Denken das Kriterium jeder logischen Kategorie abhanden gekommen: nichts weiter als ein Vehikel des theoretischen Einblicks in die wie auch immer geartete ontologische „Notwendigkeit“ zu sein. Folglich produziert sein sich selbst denkendes Denken immer bloß Denksetzungen oder kurz: Tautologien. Marx hingegen interessiert sich für gewisse Bereiche der von ihrer spekulativen Reduzierung auf ein bloßes Erscheinen der logischen Idee befreiten empirischen Realität, also in der Folgezeit beispielsweise für die Verwertungsformen des Kapitals.

In dieser, wenn man so will, neuerlichen kopernikanischen Revolution wird das Gravitationszentrum der Logik neu bestimmt. Der Gedanke der Sache hat einer der Sache und ihrer Bestimmungen zu sein.

IV

Der zweite Aspekt der Marxschen Kritik kreist um das Thema der politischen Entfremdung. Der politische Staat und seine Verfassung ist laut Marx der verselbständigte „Gattungswille“ des tatsächlichen Souveräns. Das Volk ist der „wirkliche Staat“, die Grundlage der Verfassung, weil es die konstituierende Gewalt ist; die Verfassung ist entsprechend nichts weiter als die konstituierte Gewalt. Die politische Entfremdung besteht folglich darin, dass sich das Volk seinem eigenen Werk unterwirft, bzw. ihm durch das Macht- und Gewaltmonopol des Staates unterworfen wird. Was das „Ganze“ war, wird jetzt zum bloßen funktionalen Anhängsel, und vice versa. Das Volk, das vorher der „wirkliche Staat“ war, wird seines Gattungsinhalts beraubt, der nunmehr auf der politischen Ebene hypostasiert wird. Das Ergebnis ist der Gegensatz des Staates und seiner Verfassung von der bürgerlichen Gesellschaft oder von politischem und unpolitischem Staat.

Dieser für den modernen Staat typische Gegensatz ist hinter dem Hegelschen Schleier der Spekulation nicht mehr wahrnehmbar. Der Staat ist für ihn die Verwirklichung des freien, vernünftigen Willens. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts verwirklicht sich der Staat dadurch, daß er die abstrakten Stufen der Familie und bürgerlichen Gesellschaft aufhebt und seine Einheit als konkrete Allgemeinheit realisiert. Der Staat ist der selbstbewusst gewordene freie Wille: „der freie Wille, der den freien Willen will“,[21] und der vernünftige Zweck des Menschen ist das restlose Aufgehen im Staat. In den drei Gewalten der Verfassung ist die Idee des Staates als eine Einheit von Gegensätzen begriffsadäquat verwirklicht.

Nach Marx jedoch ist die Verfassung „nichts als eine Akkommodation zwischen dem politischen und unpolitischen Staat”, ein „Traktat wesentlich heterogener Gewalten“. Sie ist ein Gegensatz von “wirklichen Extremen”, ein “mixtum compositum”.[22] Dieser Dualismus liegt Hegels Konstrukt der konstitutionellen Monarchie zugrunde: Die in der Person des Monarchen Gestalt gewordene fürstliche Gewalt, die der personifizierte Staat ist, abstrahiert von der Pluralität der „Personen“ – den vielen „Einzelheiten“, die das Volk bilden – (§§ 275-286). Die für die Regierungsgewalt tätige Bürokratie der Privilegierten bildet eine Korporation gegen die bürgerliche Gesellschaft (§§ 287-297). In der gesetzgebenden Gewalt schließlich tritt der Gegensatz zwischen der empirischen Einzelheit des Fürsten und der empirischen Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft offen hervor. Er setzt sich fort in der Differenz zwischen der Regierung und den Ständen, um schließlich in der leicht absurden Form der von den Majoratsherren gebildeten zweiten Kammer in Erscheinung zu treten (vgl. die §§ 298-313).

Die Verfassung ist laut Hegel, der hierin Montesquieu folgt, nicht etwa ein Kodex positiver Gesetze, sondern das Produkt des Volksgeistes, in den sich die hauptsächlichen Bestimmungen des vernünftigen Willens zusammenfassen. Um konsequent zu sein, sollte eine solche Auffassung Marx zufolge den Menschen zum „Prinzip der Verfassung“ machen, die „in sich selbst die Bestimmung und das Prinzip hat, mit dem Bewußtsein fortzuschreiten“.[23] Als etwas Besonderes muss die Verfassung ein „Teil des Ganzen“, also ein Moment des „Gattungswillens“ sein. Insofern er das wahrhaft Allgemeine ist, muss er auch das Ganze sein. In der Hegelschen Spekulation jedoch werden diese zwei Bedeutungen durcheinandergebracht: obgleich Hegel die Verfassung als etwas Allgemeines zu behandeln vorgibt, entwickelt er sie vielmehr als etwas Besonderes. Genau deswegen hat das in einen subordinierten Teil der Verfassung verwandelte Volk kein Recht, „die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[24] Das entpolitisierte Volk ist, bar seines Gattungswesens, zu einer atomistischen Menge, einer gestaltlosen Masse pervertiert worden, die vom verselbständigten Staat eine seinem jeweiligen Kalkül gemäße politische Form verpaßt bekommt. Das Volk tritt entsprechend nicht als es selbst, als der „ganze Demos“ auf, sondern als die auf das ständische Moment reduzierte bürgerliche Gesellschaft. Das ist nach Marx die erste „ungelöste Kollision“ innerhalb des Verfassungsbegriffs: Die Kollision „zwischen der ganzen Verfassung und der gesetzgebenden Gewalt“[25].

Die zweite Kollision, als direkte Folge der ersten, ist „die zwischen der gesetzgebenden und der Regierungsgewalt, zwischen dem Gesetz und der Exekution“. Durch sie verliert die gesetzgebende Gewalt ihre unterstellte Allgemeinheit und wird ein bloßer „Teil“ des Ganzen, eine besondere Gewalt neben anderen Gewalten: es ist „also dem Gesetz unmöglich, auszusprechen, daß eine dieser Gewalten, ein Teil der Verfassung, das Recht haben solle, die Verfassung selbst, das Ganze, zu modifizieren“.[26] Der Konflikt zwischen dem Volk und dem politischen Staat stellt sich auf diese Weise als der Konflikt des „Volkes en miniature“ – der gesetzgebenden Gewalt – mit der Regierungsgewalt dar.

Die Marxsche Kritik an der politischen Entfremdung ist zu diesem Zeitpunkt im übrigen unauflöslich mit dem Denken Rousseaus verknüpft. Beide bemängeln, dass die Regierungsgewalt nicht mehr ein dem allgemeinen Willen unterworfener „Teil“ sei. Sie tritt diesem Willen als selbständige Gewalt entgegen, so dass der allgemeine Wille umgekehrt nichts weiter ist als die abhängige Variable der besonderen Gewalt des Staates. Mit der theoretischen Lösung dieses Problems ringt auch der Aufklärer Rousseau. Marx gibt ihm allerdings eine praktische Wendung: „Wird die Frage richtig gestellt, so heißt sie nur: Hat das Volk das Recht, sich eine neue Verfassung zu geben? Was unbedingt bejaht werden muß, indem die Verfassung, sobald sie aufgehört hat, wirklicher Ausdruck des Volkswillens zu sein, eine praktische Illusion geworden ist.“[27]

Folglich macht sich Marx in ZKhR für die Entwicklung einer Idee von Demokratie stark, die im Widerspruch steht zur Hegelschen Verteidigung der lediglich abgemilderten Souveränität des Monarchen. In der Monarchie, sowie in allen von der Demokratie abweichenden Staatsformen „hat dies Besondre, die politische Verfassung, die Bedeutung des alles Besondere beherrschenden und bestimmenden Allgemeinen“[28] In der Demokratie hingegen „ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volks und ein bestimmter Inhalt desselben, soweit er politische Verfassung ist“.[29] In der Demokratie ist die Macht des allgemeinen Willens nicht von derjenigen des politischen Staates entfremdet. Er verwandelt sich in ihr nicht in einen besonderen, vom Staat getrennten Inhalt: „In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt“.[30] Die Demokratie ist daher die „Wahrheit“, die „Gattung“, „das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen“.

Es ist allerdings zu beachten, dass in Marx‘ Gedankengang zwei Aspekte der „Demokratie“ unterschieden werden müssen: sie ist zum einen, als „Gattung“, die „wahre Demokratie“ und als „Spezies“ die „politische Republik“. Die „wahre Demokratie“ ist ein politisches Prinzip und nicht etwa ein real existierender Staat. Sie bedeutet die vollständige Verwirklichung des Staates als konkrete Allgemeinheit, die wahre Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem politischen Staat und der bürgerlichen Gesellschaft. In der wahren Demokratie „geht der politische Staat” genauso „unter“ wie der unpolitische Staat, d.h. die bürgerliche Gesellschaft.[31] Mit dem Begriff „politische Republik“ dagegen charakterisiert Marx die Demokratie innerhalb des „abstrakten Staats“, also die bestehende, noch nicht völlig verwirklichte Demokratie. In diesem Staat, obwohl hier die Verfassung letztlich noch eine politische ist, hört sie doch auf, „nur politische Verfassung zu sein“, und das bedeutet, dass die unpolitischen Ebenen schon von dem politischen „Gattungsinhalt“ durchdrungen sind.

Innerhalb des abstrakten Staates tritt die Frage der politischen Entfremdung in der Form des Gegensatzes zwischen repräsentativer und ständischer Verfassung in Erscheinung. Gegen die bloße Repräsentation der Stände verteidigt Marx „die Ausdehnung und möglichste Verallgemeinerung der Wahl, sowohl des aktiven, als des passiven Wahlrechts“.[32] Hier trifft sich das Marxsche Denken wieder mit demjenigen Rousseaus. Der von der Besonderheit der Interessen geprägt Wille aller (volonté de tous) verwandelt sich in den allgemeinen Willen (volonté générale) vermittelst der „Differenzsumme“ dieser Interessen. Das Volk „will stets sein Bestes, sieht jedoch nicht immer ein, worin es besteht“.[33] Ein Quidproquo stellt sich in dem Augenblick ein, wenn sich Gesellschaften (Parteien, Vereinigungen) innerhalb des Volkes zu konsolidieren beginnen: „so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner“ und „die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis“. Am Ende dieses Prozesses „gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht“. Gegen diese Fehlentwicklung gibt es, laut Rousseau, nur das eine Mittel, dass „es im Staate möglichst keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soll“.[34]

Bei Marx sollten entsprechend die Einzelnen nicht unter die politisch-ständische Form der gesetzgebenden Gewalt subsumiert werden, sondern als Einzelne (als der „ganze Demos“) an dem jeweiligen Staat vermittelst der nach Möglichkeit allgemeinen Wahl teilnehmen. Damit werde die „bürgerliche Gesellschaft sich erst wirklich zu der Abstraktion von sich selbst, zu dem politischen Dasein als ihrem wahren allgemeinen wesentlichen Dasein erhoben“, also – mit Rousseau gesprochen – nicht mehr zu einem Konglomerat gegensätzlicher Privatinteressen, sondern zu einer „Differenzsumme“, die zur Bildung des allgemeinen Willens führe. Die Vollendung dieses Prozesses der Verallgemeinerung der bürgerlichen Gesellschaft sei die „Aufhebung“ der Abstraktion selbst: „Indem die bürgerliche Gesellschaft ihr politisches Dasein wirklich als ihr wahres gesetzt hat, hat sie zugleich ihr bürgerliches Dasein, in seinem Unterschied von ihrem politischen, als unwesentlich gesetzt; und mit dem einen Getrennten fällt sein Andres, sein Gegenteil. Die Wahlreform ist also innerhalb des abstrakten politischen Staats die Forderung seiner Auflösung, aber ebenso der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft.“[35]

Hegels Verteidigung der ständischen Verfassung hingegen beruht auf der Auffassung des Volkes als „einer formlosen Masse, deren Bewegung und Tun eben damit nur elementarisch, vernunftlos, wild und fürchterlich“ ist. Volk und Staat sind bei Hegel die zwei Extreme eines Syllogismus‘, dessen Vermittlung durch die Stände geschieht. Laut Marx sind die Stände jedoch keine Auflösung, sondern vielmehr die Verwirklichung des Gegensatzes innerhalb des politischen Staates.

Bei Gelegenheit der Kommentierung der §§ 302-304 denunziert Marx die Unzulänglichkeiten des Hegelschen Systems der Vermittlungen.[36] Erstens begeht Hegel Marx zufolge einen Paralogismus, da er die Bedeutung der Stände innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft mit jener Bedeutung identifiziert, die die Stände auf der politischen Ebene haben. Hegel begreift als reflexives Verhältnis, was laut Marx ein bloßes Abstraktionsverhältnis ist. Die politischen Stände sind für Marx kein Reflex der privaten Stände, also eines vermeintlich Anderen, sondern sie sind nichts weiter als die Abstraktion dieser Stände: Die bürgerliche Gesellschaft wird als „nicht vorhanden”[37] gesetzt. Das politisch-ständische Element bedeutet daher nicht die Aufhebung der Unterschiede innerhalb der gesellschaftlichen Stände – eine wirkliche Vermittlung des Widerspruchs –, sondern das Zudecken dieser nach wie vor bestehenden Unterschiede vermittelst ihrer Eingliederung in eine anachronistische mittelalterliche, politische Form.

Zweitens kaschiere das Hegelsche System der Vermittlungen eine tatsächliche, unversöhnliche Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Sie sind, Marx zufolge, wirkliche Extreme, die „nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind“. Zwischen ihnen kann es kein reflexives Verhältnis geben, da sie „nichts miteinander gemein“ haben; „sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einander nicht“.[38] Unter dem Einfluss Feuerbachs stellt Marx hier zwar dem Begriff „Reflexion“ einen anderen Begriff der Hegelschen Logik gegenüber: den Begriff der „Selbstbestimmung des Subjekts“.[39] Als wirklicher Staat muss die bürgerliche Gesellschaft die Selbst- bzw. Gattungsbestimmung in sich selbst verwirklichen, weil ansonsten der Staat zu einer „allegorischen, untergeschobenen Bestimmung” wird. Durch die demokratisierte gesetzgebende Macht ist die politische Qualität des Menschen – jeder Einzelne als Moment des Gattungswesens – nicht mehr ein von seiner gesellschaftlichen Qualität getrenntes Wesen. Umgekehrt formuliert: Die gesellschaftliche Qualität des Menschen beweist in der demokratischen Repräsentation ihre politische Eigenart, ihr Gattungswesen. Im Unterschied zu anderen Staatsformen schafft die wahre Demokratie kein politisches Fundament für eine rein private Existenz des Menschen, sondern gibt ihm sein eigenes politisches Wesen bzw. sein „Gattungsdasein“ zurück. Denkt man Rousseau und Feuerbach zusammen, dann kommt es zu einer Synthese der politischen mit der Gattungsrepräsentation. Jeder Mensch repräsentiert den jeweils anderen, weil „jede bestimmte soziale Tätigkeit als Gattungstätigkeit nur die Gattung, d.h. eine Bestimmung meines eignen Wesens repräsentiert“. Er ist Repräsentant nicht mehr im Sinne der dualistischen, politisch-abstrakten Repräsentation, oder kurz, er ist „nicht durch ein anderes, was er vorstellt, sondern durch das, was er ist und tut“.[40]

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Endnoten    (↵ returns to text)

  1. Der vorliegende Text ist die überarbeitete deutsche Version der „Einleitung“ der brasilianischen Ausgabe von Marx’ Zur Kritik des hegelschen Rechtsphilosophie, die vom Autor übersetzt wurde. Herr Dr. Frank-Peter Hansen war mir dankenswerter Weise bei der Übertragung ins Deutsche behilflich.
  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1820.
  3. Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEGA², I/1, 1975, S. 67.
  4. Karl Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, MEGA², I/1, 1975, S. 191-193. Vgl. auch Rubens Enderle, „O jovem Marx e o manifesto filosófico da Escola Histórica do Direito”, in: Crítica Marxista, n. 20, São Paulo 2005.
  5. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEGA², I/1, S. 100-101.
  6. Karl Marx, Ein Briefwechsel von 1843, MEGA², I/2, S. 488.
  7. Karl Marx, Karl Marx an Arnold Ruge, 5. März 1842, MEGA², III/1, S. 22.
  8. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, MEGA², II/2, S. 99-100.
  9. Karl Marx, Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, MEGA². I/1, 1975, S. 209.
  10. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort, a.a.O., S. 100.
  11. Die Deutsch-Französischen Jahrbücher wurden erstmals im Februar 1804 in Paris veröffentlicht.
  12. Von dem originalen Text, der angeblich mit dem § 257 des Hegelschen Werkes anfing, sind die vier ersten Seiten verschollen. Deswegen fängt das uns heute bekannte Manuskript der ZKHS mit der Wiedergabe und dem Kommentar des § 261 an und dehnt sich bis auf den § 313 aus, übrigens viele §§ vor dem Ende des Dritten Abschnitts (§ 360). Außerdem fehlen der Pappdeckel und das vordere Deckblatt, was zu Spekulationen darüber führte, welchen Titel Marx diesem Werk geben wollte. Bei seiner ersten Veröffentlichung durch Rjazanov (MEGA¹) 1927 erschien der Text unter dem Titel „Karl Marx: Aus der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§§ 261-313)“. Seit der 1982 erschienenen Ausgabe der MEGA² wird er „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“ genannt. Dies ist laut dem Verleger der wahrscheinlichste Titel des Werkes, da Marx einige Monate später in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern den Text „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ veröffentlichte. Vgl. MEGA², I/2, S. 584.
  13. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 9.
  14. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 8.
  15. Ein gutes Beispiel für diese metodologisch orientierte Interpretation ist Schlomo Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx, Cambridge, Cambridge University Press, 1971, S. 10-17. Vgl. auch Miguel Abensour, La Démocratie cont re l’État. Marx et le moment machiavélien, Collège International de Philosophie Janvier 1997, P.U.F, S. 50 ff.
  16. Karl Marx, ZKhR, a.a.O, S. 16.
  17. Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“. Ludwig Feuerbach – Gesammelte Werke: Kleinere Schriften II. 1839-1846. (Bd. 9), Akademie Verlag, Bd. 9, Berlin 1970, S. 257.
  18. „Die spekulative Philosophie hat sich desselben Fehlers schuldig gemacht als die Theologie – die Bestimmungen der Wirklichkeit oder Endlichkeit nur durch die Negation der Bestimmtheit, in welcher sie sind, was sie sind, zu Bestimmungen, Prädikaten des Unendlichen gemacht.“ Ludwig Feuerbach, „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“, a.a.O., S. 250-251.
  19. Ludwig Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, a.a.O.., S. 316.
  20. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 52.
  21. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O., § 27.
  22. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 61.
  23. A. o. O., S. 20.
  24. A. o. O., S. 61.
  25. Ebd.
  26. Ebd.
  27. Ebd.
  28. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 32.
  29. Ebd.
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 130-131.
  33. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, übers. von Hermann Denhardt, Frankfurt am Main 2005, S. 64.
  34. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, a.a.O., S. 64-65.
  35. Karl Marx, ZKhr, a.a.O., S. 131.
  36. Zu einer detaillierten Analyse der Marxschen Kritik des Hegelschen Systems der Vermittlungen, vgl. Solange Mercier-Josa, Entre Hegel et Marx, Paris, L’Harmattan, 1999, S. 27-73.
  37. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 87.
  38. Karl Marx, ZKhR, a.a.O., S. 98.
  39. Vgl. dazu Solange Mercier-Josa, a.a.O., S. 38.
  40. Karl Marx, ZKhR, a.a.O.

„Honigkuss“ – Ein politisches Luststück

Besprochen von Bastian Buchtaleck

  • NEIMI, Salwa Al: Honigkuss. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. ISBN 978-3-455-40131-8.

Die in Damaskus geborene Muslima Salwa Al Neimi verkündet in ihrem Roman „Honigkuss“ die sich doch günstig auf Körper, Seele und Verstand auswirkende „Heilkraft des Beischlafs“. Ja, „je schamloser der Beischlaf ist, desto schöner ist er“ (Seite 10). Mehr noch, „es gibt Menschen, die Geister beschwören – ich beschwöre Körper“. (Seite 9) Schnell wird der explizit lustbetonte Ansatz deutlich, der wirkt, als wolle man auf der Welle der Empörung mitschwimmen, die durch Charlotte Roches Gequassel um Feuchtgebiete ausgelöst wurde.
Sofern es das boomende Genre des ‚Lebensbeichte-Romans‘ gibt, ist Honigkuss ein würdiger Vertreter. Angetrieben wird der Roman von einer Ich-Erzählerin, deren Reflektionen sich beständig um zwei Schwerpunkte drehen. Zum einen alte arabische Liebesliteratur, der die in einer Pariser Bibliothek arbeitende Ich-Erzählerin mit einer Mischung aus professioneller Notwendigkeit und persönlichem Interesse gegenüber tritt. Zum anderen die intensive Affäre der Ich-Erzählerin zu dem ‚Denker‘. An dieser Affäre entfaltet sich ein Widerstreit von Liebe und Lust. „Liebe ist für die Seele, Lust für den Körper. Ich habe keine Seele.“ (Seite 31) Durchgehend legt Neimi nahe, dass es Liebe ODER Lust gibt – von dem UND kann sie nicht viel berichten. Sie ist, indem sie die Lust des Körpers über das ‚Verlangen der Seele‘ stellt, taub gegenüber den Freuden der Liebe. Dabei bleibt die Beschreibung ihrer Lust stets vage, irgendwie unerfüllt.

Denn der Leser begreift schnell, was der Ich-Erzählerin nie so recht bewusst wird und sie in vielfältigen Worten abstreitet: Wenn sie keine Fragen stellt und keine Erklärungen braucht, solange der Denker da ist, dann beschreibt Neimi keinen Zustand der lustbetonten, affärenhaften Gleichgültigkeit, sondern den der Liebe.

Dann geht der Denker. „Es könnte sein, dass wir ihn verlieren wegen eines Worts, eines Schulterzuckens, (…) einer uralten Angst, eines Spiels, dessen Regeln sich uns entziehen.“ (Seite 121) Aber die Vermutungen der Ich-Erzählerin laufen ins Leere. Der Denker geht, weil ihn niemand bittet, zu bleiben. Wer zu oft hört, er sei frei, der wird auch gehen. Es berührt merkwürdig, der Ich-Erzählerin auf ihrem Pfad der Lust zu folgen, da ständig mitschwingt, dass sie nicht sexuelle Erfüllung sucht, sondern vor dem flieht, was eine Liebesbeziehung bedeuten könnte.

Das insgesamt gelungene Buch weist nur kleinere Schwächen auf. Die verwendeten literarischen Bilder sind brüchig, bekannt, manchmal kitschig – nur selten ein gelungener bildhafter Vergleich. Auch werden immer wieder vermeidbare Wiederholungen ähnlich lautender Sätze oder auch Inhalte produziert. Die Entwicklung der Geschichte tritt dabei auf der Stelle. Passend zur Ich-Erzählerin, die angehalten wird, einen wissenschaftlichen Aufsatz zu schreiben, ist die Sprache des Buchs reflektierend-beobachtend. Neimi ist vielmehr Chronistin als Erzählerin.

Was nach Verlagsangaben in arabischen Ländern einen Skandal ausgelöst hat, wirkt in den westlichen Ländern, die sich mit Bohlens Penisbruch, diversen Sexvideos und dem ‚Mädchen von Seite drei‘ konfrontiert sehen, sehr vertraut. Der intendierte Skandal verpufft am vermeintlich aufgeklärten (und zugleich übersättigten) Bürger des Abendlandes. Dafür dürfte sich dieser umso mehr über die politische Botschaft des Buchs freuen. Honigkuss betrachtet ungläubig die lustfeindliche Wandlung, die Teile der muslimischen Glaubensgemeinschaft seit den großen arabischen Werken vor mehr als tausend Jahren vollzogen haben und stellt fest, „dass sich Flauberts Orient von 1847 in Luft aufgelöst hat. Folgen des 11. September und des islamischen Dschihad.“ (Seite 60) Indem Neimi ihre Ich-Erzählerin als Erbin und Profiteurin der arabisch-erotischen Literatur profiliert, führt sie die aktuelle Lustfeindlichkeit als entwurzelte Fehlentwicklung vor.

Gerade die Vehemenz, mit der die Ich-Erzählerin an ihrer Lust festhält, kann als eine politisch-ideologische Abgrenzung verstanden werden: Muslimische Frauen haben Sex, Lust auf Sex und manchmal sogar so viel von beidem, dass darüber geschrieben werden muss. Neimis Buch ist die Versicherung: Ich, eine Muslima, bin ein Mensch, der (sexuelle) Bedürfnisse hat – genau wie du. Bei Honigkuss handelt sich sich also um eine politische Botschaft, ein politisches Luststück sozusagen. Denn das eine zeigt das Buch deutlich: Eine Frau ist eine Frau und ein Mann ist ein Mann und die Lust, die man füreinander empfindet ist menschlich. Und nun sage mal einer, diese Botschaft allein sei nicht schon ein ganzes Buch wert.

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Hansen, Frank-Peter: Vergessene Bücher V: Beiträge zur Logik von Alois Riehl, 26.09.08

Der nachfolgende Text hätte als nächstes im Marburger Forum unter der Rubrik „Vergessene Bücher“ erscheinen sollen. Möglicherweise geschieht dies auch noch. Ich weiß es nicht. – Daß ich ihn jetzt an dieser Stelle publiziere hat einzig und allein damit zu tun, daß ich mich in dieser Form von Max Lorenzen, dem Herausgeber des Forums und Mitinitiator dieser Reihe, verabschieden möchte. Er ist am 24. August an Herzversagen gestorben. Max Lorenzen war für mich ein stets freundlicher, aufmerksamer und zuvorkommender Gesprächspartner auch über die Entfernung der Städte hinweg, wofür ich mich – zu spät – an dieser Stelle bedanken möchte.

Von Alois Riehl stammt der beherzigenswerte Satz: „Nur wer sein Denken vorzugsweise an Sprachen erzogen und an die Regeln der Grammatik gewöhnt hat, mag auch von den Regeln des Geschehens in der Natur Ausnahmen für möglich halten oder die Naturgesetze bloß als Text-Interpretationen der Naturforscher betrachten“ (Ders.: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1903, S. 264 f.). Ist dies die ahnungsvoll vorweggenommene Position des Wiener Kreises, dann kontrastiert dieser Mischung von Impressionismus und Formalismus bei dem Realisten Riehl die Einschätzung, daß das „Gesetz der Gravitation … mit allen Bewegungen der Himmelskörper und irdischen Fallerscheinungen (zwar, F.-P.H.) noch nicht gegeben (sei, F.-P.H.), obgleich es in jeder Fallbewegung enthalten ist. Kein Gesetz kann in eine Tatsache rein aufgehen, keines mit der bloßen Summe von Tatsachen gegeben sein, obschon es von allen Tatsachen gilt, die unter ihm stehen. Jedes Gesetz ist ein Satz mit einem Wenn: zwei Massenpunkte würden sich genau nach dem Gesetze ihrer Gravitation annähern, wenn sie allein in der Welt wären“ (S. 260).

Doch nicht um diese zweifelsohne lesenswerte Publikation soll es hier gehen und auch nicht um sein zweibändiges Hauptwerk Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft, sondern um die kleinen, unscheinbaren Beiträge zur Logik, die in zweiter Auflage 1912 bei O.R. Reisland in Leipzig erschienen sind. Sie haben es faustdick hinter den Ohren, wie zu demonstrieren sein wird. Und außerdem: wer liest schon gern 1000 und mehr Seiten im Stück?! Bei Romanen mag das ja noch hingehen. Aber wissenschaftliche Fachliteratur in zwei bis drei stattlichen Bänden … Und dann ausgerechnet auch noch Wissenschaftstheoretisches und Logisches … Unwillkürlich schreckt man zurück und schiebt die Scharteken achselzuckend zurück ins Regal. So in diesem speziellen Fall nicht. Denn das Bändchen umfaßt lediglich 68 Seiten. Das ist locker zu bewältigen und zwar mit unverhältnismäßig großem Gewinn, heißt mit spürbarem Erkenntniszuwachs.

Zuvor jedoch: Wer war Alois Riehl? Er kam am 27.4.1844 bei Bozen in Südtirol zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Bozen und der Matura studierte er Philosophie, Geographie und Geschichte an den Universitäten Wien, München, Innsbruck und Graz. 1866 legte er das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab. 1868 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Innsbruck, 1870 Habilitation an der Universität Graz. Dort war er bis 1873 Privatdozent und hatte danach eine a.o. Professur für Philosophie inne. 1870 erschien die Untersuchung Realistische Grundzüge. 1871 folgte die Abhandlung Moral und Dogma und 1872 Über Begriff und Form der Philosophie. 1878 wurde Riehl zum o. Professor für Philosophie an der Universität Graz berufen. Seit 1882 war er der Nachfolger von Wilhelm Windelband an der Universität Freiburg. 1876 und 1879 erschienen die Bände I und II,1 seines Hauptwerks Der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. 1887 folgte abschließend der Band II,2. Mit diesem Grundlagenwerk, das sich mit der Geschichte und Methode des philosophischen Kriticismus, den sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis und schließlich mit Fragen der Wissenschaftstheorie und Metaphysik auseinandersetzte, verfolgte Riehl die Absicht, Philosophie als reine Wissenschaft unter Ablehnung metaphysischer Spekulation durchzuführen. Die Metaphysik sollte durch die positiven Wissenschaften ersetzt werden. Riehl hatte in Freiburg einen schweren Stand, weil die Metaphysikkritik seines Zweiteilers in der katholischen Bischofsstadt als kirchenfeindlich bewertet wurde und entsprechend auf wenig Gegenliebe stieß. Konzessionen und Rücksichtnahmen aber hielt er in der Wissenschaft für genauso fehl am Platz wie zu befolgende Anstands- und Benimmregeln der akademischen und/oder konfessionell gebundenen Sittenwächter und Verlagszensoren, die, in der einen Variante, heute freilich mehr als damals den Ton in der Szene angeben und gegen den zu verstoßen nicht selten für den davon Betroffenen einem Verschwinden in der Versenkung und einem Vergessenwerden im intellektuellen Niemandsland gleichkommt. – 1896 erfolgte ein Ruf nach Kiel, 1898 die Berufung nach Halle/Saale. 1905 trat er die Nachfolge Wilhelm Diltheys auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin an. 1903 erschien Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 1904 Immanuel Kant. Alois Riehl ist am 21.11.1924 in Neubabelsberg bei Berlin verstorben. – Goethes Credo war auch dasjenige Riehls: „Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Beharrlichkeit, es auszuführen.“ (Vgl. zum Folgenden auch meine Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000, S. 171-175)

Daß die Regeln der Grammatik nicht auch diejenigen der Natur und ihrer Wissenschaften sind, ist dem einleitenden Zitat zu entnehmen. Daß es darüber hinaus angezeigt ist, „die logische Gliederung einer Aussage von dem grammatischen Aufbau des Satzes zu unterscheiden“ hat damit zu tun, daß beispielsweise die Kopula einerseits bloß die „sprachliche Funktion“ hat, „der Aussage die Form eines Satzes zu geben“ (1). Andererseits besteht die logische Bedeutung der Kopula in ihrer prädikativen Natur. Schließt nämlich das bloße Bindewort „keineswegs die Behauptung der Existenz des Subjektes (und der davon abhängigen des Prädikates) des Satzes ein“, dann besteht die logische Bedeutung des Wörtchens „ist“ in dem „Wirklichsein oder Wahrsein“ (20) des ausgesagten Sachverhalts. Außerdem kommt im Urteilsakt „zur bloßen Vorstellung eines Begriffsverhältnisses die weitere Auffassung hinzu, daß dieses Verhältnis allgemeingültig und notwendig sei“ (21). Im Urteil wird von einer bloßen Vorstellung behauptet, daß sie eine Beschaffenheit des Wirklichen sei. Indem wir urteilen, schreiben wir „dem Inhalte Unabhängigkeit von unserem Vorstellen zu, sofern dieses lediglich als subjektive Tätigkeit betrachtet wird. Sooft wir urteilen, urteilen wir im Namen Aller, sei es, daß wir den Inhalt unseres Vorstellens auf die gemeinschaftliche, von unserem Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit beziehen oder ihm allgemeine, für jedes denkende Subjekt verbindliche Gültigkeit zuerkennen“ (17): Objektivität, Allgemeinheit und Notwendigkeit. Diese drei Bestimmungsstücke sind auf jeden Fall für wissenschaftliches Urteilen charakteristisch.

Bevor man urteilt, muß man jedoch nach Möglichkeit gedacht haben. Wie verhält es sich hiermit? Laut Riehl folgendermaßen: „Im Gegensatz zu den anschaulichen, konkreten und darum individuellen Vorstellungen der Sinne und der Einbildungskraft sind die Begriffe gedankliche, abstrakte und daher allgemeine Vorstellungen, welche in unserem Bewußtsein die Stelle der anschaulichen vertreten. Diese Sonderung gedanklicher Vorstellungen von den anschaulichen, den Wahrnehmungen und Erinnerungsbildern, wird durch die Sprache ermöglicht“ (2). Wort und Bedeutung sind, anders als später dann von Wittgenstein vertreten, untrennbar verbunden. Um also den Sinn einer Rede zu erfassen, bedarf es keiner Rückübersetzung in Bilder der Phantasie. Und stets sind es Begriffe und eben keine Anschauungsbilder, die in Rede und Schrift mitgeteilt werden. „Zwar klingen gleichsam die sinnlichen Vorstellungen, deren Stelle das bedeutsame Zeichen vertritt, in unserem Bewußtsein nach oder begleiten wie Schatten die Bewegung unseres Denkens. Man könnte das Zeichen als den Ausstrahlungsmittelpunkt für die betreffenden anschaulichen Vorstellungen betrachten. Müßten aber diese letzteren jedesmal über die Schwelle des Bewußtseins gehoben werden, um das Verständnis der Zeichen zu vermitteln, so würden wir niemals zu jener abgekürzten, verdichteten und darin der Wahrnehmung und Phantasie so überlegenen Art des Vorstellens befähigt sein, die wir, im Unterschied vom Anschauen, Denken nennen. Während die anschaulichen Vorstellungen so verschieden sind wie die Umstände ihrer Erwerbung, sind die begrifflichen, vorausgesetzt nur, daß sie hinlänglich definiert, d.i. durch andere, bekannte Begriffe erklärt werden, für jedermann dieselben“ (3).

Sprachliche Zeichen aber sind für die Bildung von Begriffen auch deswegen unverzichtbar, weil ohne jene diese im Bewußtsein nicht festgehalten werden könnten. Er „würde schon im Entstehen wieder verschwinden, nämlich von den anschaulichen Vorstellungen verdrängt werden“ (4).

Die „Quelle“ und der „Träger“ abstrakter Vorstellungen oder Begriffe ist also laut Riehl die Sprache. Begriffe sind allgemein. Zwar kann der Gegenstand eines Begriffs konkret sein, er selbst jedoch kann es nicht, obwohl beispielsweise jedes einmalige historische Ereignis zum Gegenstand begrifflicher Erkenntnis werden kann. Man hat sich dann eben gedanklich der Notwendigkeit seines Ablaufs versichert, was durch einfaches Hinsehen nicht zu bewerkstelligen ist. „Die Begriffe bleiben somit abstrakt und allgemein, mag auch ihr Gegenstand individuell, ja einzig in seiner Art sein“ (6).

Die Begriffsbildung beruht auf der Tätigkeit des Verallgemeinerns. Darüber hinaus setzt sie „Unterscheidungsfähigkeit“ voraus. Denken nämlich „ist etwas wesentlich anderes als sich unvollständig erinnern. Nicht durch Übersehen der Unterschiede, durch Absehen von den Unterschieden wird das begrifflich Allgemeine gewonnen“ (7). Mithin ist das Bilden der Begriffe einerseits zwar eine Befreiung von den Fesseln der Anschauung, andererseits gewinnt die Unübersichtlichkeit des bloß Angeschauten durch sie eine klare Kontur. In summa: „Außer dem Universum seiner Wahrnehmungen und anschaulichen Vorstellungen gibt es sonach für den Menschen ein Universum von Bedeutungen, das er sich selbst geschaffen hat. Das Mittel dazu war ihm die Sprache. Die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen bildet sein Erkennen“ (8).

Man sollte sich allerdings davor hüten, die empirische Allgemeinheit mit der begrifflichen zu verwechseln. Zur ersteren „gelangen wir durch generalisierende Abstraktion, durch Hervorhebung des Übereinstimmenden in einer Mehrzahl von Fällen, die dadurch zu einem Begriffe zusammengefaßt werden“: sogenannte All-Sätze. Die „begriffliche Allgemeinheit“ hingegen „wird durch analysierende Abstraktion erreicht, durch Zurückführung des in der Vorstellung Gegebenen auf das Einfache und Denknotwendige. (…) Empirisch-allgemeine Sätze sind als Ausdruck übereinstimmend wiederkehrender Beobachtungen und Erfahrungen material (= die Häufigkeit der weißgefiederten Schwäne Sir Karl Poppers innerhalb seines additiv-falsifikatorischen Wissenschaftsverständnisses, F.-P.H.), begrifflich-allgemeine formal; sie dienen zur Erklärung der Erscheinungen, und ist mit ihrer Hilfe eine bestimmte einzelne Erscheinung zum Verständnis gebracht, so haben wir damit auch schon das Verständnis aller Erscheinungen derselben Art erzielt“ (34).

Mit Folgendem hat übrigens – ein Anachronismus – der Frühgeborene Riehl dem Spätgeborenen Popper eine präzise und knappe erklärende Korrektur hinsichtlich seiner desolaten Wissenschaftsauffassung ins Stammbuch geschrieben: „Aus der empirischen Allgemeinheit läßt sich die begriffliche auf direktem Wege nicht herleiten. Selbst die erschöpfende Aufzählung der Fälle, wo diese überhaupt möglich ist, gibt unserem Urteile noch keine strenge Allgemeingültigkeit“. Das sah auch Popper so, allerdings sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen, weil er, unter unkritischer Zugrundelegung der empirischen Allgemeinheit, die streng begriffliche gar nicht erst ins Auge zu fassen vermochte. Es „bedarf“, so fährt Riehl fort, „dazu jederzeit der Unterordnung der Fälle unter einen begrifflichen Satz, ein mathematisches Naturgesetz; haben wir aber einmal einen solchen Satz, so ist wieder die Aufzählung der Fälle entbehrlich geworden“ (ebd.). Empirisch unterfütterte All-Sätze sagen also lediglich aus, daß eine in ihrer Eigenart übrigens nach wie vor unverstandene Tatsache wie auch immer eingeschränkt und folglich bloß vorbehaltlich gültig ist. Begriffliche Verallgemeinerungen wissen, auf Grund der vorgenommenen Identifizierung ihres Gegenstandes, den Grund seiner Begreiflichkeit auszumachen und zu benennen. Sie drücken nichts anderes als das Gesetz aus, „das alles Besondere, das sich aus ihm entwickeln läßt, zugleich in sich enthält“ (37). Folglich gilt die „gewöhnliche Regel, daß Verminderung des Inhaltes gleichbedeutend ist mit Vergrößerung des Umfanges eines Begriffes (…) nur von der äußerlichen, mechanischen Abstraktionsweise durch Wegdenken, nicht von jener wesenhaften Abstraktion, die das einheitliche Gesetz zusammengehöriger Begriffe und Objekte hervorhebt“ (ebd.).

Hinsichtlich mathematischer Objekte, wie nicht allein Riehl sie versteht, sondern wie auch die moderne Mathematik sie zu fassen gewohnt ist, gilt also, daß dort, wo „wir die Objekte unserer Begriffe selbst erzeugen, – richtiger: wo es sich gar nicht um die Objekte selbst handelt, sondern um die Vorstellungsart von Objekten überhaupt, wie in der Mathematik, da beherrschen wir eben dadurch auch alle Bedingungen der Spezifikation des höheren Begriffes in seine niederern, und alle Aussagen über diese Begriffe sind (selbstredend, ist man geneigt zu sagen, F.-P.H.) notwendig von eben derselben strengen Allgemeingültigkeit“ (ebd.). Nur konsequent, daß Riehl vor diesem Hintergrund dafür plädiert, den „Logikkalkül, die Verwandlung alles Schließens in Rechnen“ als „einen neuen Zweig der Mathematik“ anzusehen und nicht als das, „was er nach der Meinung seiner Urheber sein soll, eine allgemeine Theorie der Schlußfolgerungen“ (59 f.).

Hinsichtlich naturwissenschaftlicher Objekte und ihrer eingesehenen Gesetzmäßigkeiten schließlich gilt etwas ganz anderes: „Wären uns auch sämtliche Planeten (und planetarische Körper wie Monde u. dgl.) bekannt, und ließen sich unsere Beobachtungen ins Unendliche vervielfältigen – eine Voraussetzung, die in ihren beiden Teilen nicht zutrifft –, noch immer würden wir nicht berechtigt sein, zu sagen: was ein Planet ist, muß sich nach den Keplerschen Gesetzen um die Sonne bewegen. Das Newtonsche Anziehungsgesetz dagegen macht diese Folgerung auch ohne Vollständigkeit der Erfahrung notwendig. Dieses Gesetz, ein Lehrsatz der theoretischen Mechanik, welcher die Wurfbewegung eines Körpers aus ihren elementaren Antrieben konstruiert, steht vor aller weiteren Erfahrung fest, weil es nicht von zahllosen einzelnen Erfahrungen abstrahiert, sondern durch Zerlegung des in jeder möglichen, hierher gehörigen Erfahrung Wesentlichen ermittelt ist. Es befähigt uns daher zur Voraussage, daß es überall gelten werde, wo seine Bedingungen erfüllt sind, und in der Art, in welcher sie erfüllt sind; hat also absolute, von der Zahl der Fälle seiner Anwendung unabhängige Allgemeingültigkeit“ (36).