Sozialräumliche Segregation in Frankreich. Über ’Le ghetto français. Enquête sur le séparatisme social’ Von Eric Maurin

Besprochenvon Michael Tillmann 

Die soziale Ungleichheitsforschung hat sich in Frankreich in den letzten Jahren intensiviert. Zahlreiche Publikationen, die sich über eine Fachöffentlichkeit hinaus an ein breiteres Publikum wenden, beweisen, dass dieser Forschungszweig angesichts der aktuellen Entwicklungen ein reichhaltiges Anschauungsmaterial liefert und dass die Frage der faktischen bzw. der Chancengleichheit im Kern immer noch das Selbstverständnis unserer Gesellschaften berührt.[1] Der französische Statistiker und Wirtschaftswissenschaftler Eric Maurin hat nun in seiner zweiten Veröffentlichung in der Reihe der République des Idées einen weiteren Baustein zum besseren Verständnis der Ungleichheiten gelegt, wie sie speziell die französische Gesellschaft heute prägen.
In Le ghetto français untersucht Maurin Prozesse sozialräumlicher Segregation und kommt dabei zu dem Schluss, dass die Verteilung starken ökonomischen, sozialen und auch ethnischen Zwängen gehorcht. Die mediale Verengung auf soziale Brennpunktviertel mit überdurchschnittlich hoher Arbeitslosenquote, vermehrt auftretenden verbalen Aggressionen, physischen übergriffen und erhöhter Kriminalität – wie sie gerade auch während des Präsidentschaftswahlkampfs 2002 bestimmend war – verstellt jedoch den Blick auf eine viel tiefer greifende Logik, die alle Segmente des Wohngebietes umfasst: Die individuellen Strategien der Akteure zielen letztlich darauf ab, unter sich zu bleiben und den direkten Kontakt mit sozialen Gruppen oder Schichten, die sich unmittelbar unterhalb der eigenen Position auf der sozialen Leiter befinden, zu vermeiden. Wenn also tatsächlich von Ghettoisierung die Rede sein kann, die allerdings keineswegs deutlich stärker ausgeprägt ist als noch vor zwanzig Jahren, so handelt es sich um eine „Ghettoisierung von oben“ (Kapitel I: La société de l’entre-soi). Der Wohnstandort wirkt hier deutlich als soziales Distinktionsmerkmal und ist darüber hinaus auch eine Strategie zur Vermeidung negativer Kontexteffekte, insofern das direkte Wohnumfeld die individuellen Schul- und damit auch Lebenswege positiv oder eben auch negativ beeinflussen kann. Als Beleg für diese Sozialisationseffekte verweist der Autor auf eine Reihe von Studien, die in Frankreich, vor allem aber auch in den Vereinigten Staaten die Wirkungsmächtigkeit des Wohnumfeldes unter Beweis stellen: „Wenn man zwei Familien derselben Nationalität und mit demselben Bildungsniveau miteinander vergleicht, von denen eine zufällig seit langer Zeit in einem Wohnumfeld lebt, das ein relativ hohes schulisches Leistungsdefizit aufweist, während die andere in einer Nachbarschaft zu Hause ist, in der schulischer Misserfolg verhältnismäßig selten ist, lassen sich im Laufe der Zeit deutliche Divergenzen hinsichtlich der schulischen Leistungen der Kinder feststellen. Trotz ähnlicher privater Ressourcen der Familien nehmen diese Unterschiede in dem Maße zu, wie die Interaktionen mit dem unterschiedlichen Wohnumfeld ihre Wirkung entfalten. Je nach dem, ob eine Familie im Kontakt mit anderen Familien lebt, deren Eltern ein Diplom besitzen, variiert das Risiko unzureichender schulischer Leistungen der Kinder in einer Größenordnung von 50%“ (Maurin 2004: 49-50) (Kapitel II: Ségrégation et destins individuels). Dieser alles in allem ernüchternde Befund zeigt nachdrücklich, dass die individuellen Strategien zur Statussicherung auf dem und durch den Wohnmarkt durchaus begründet sind. Andererseits unterlaufen sie jedoch das Prinzip sozialer Mischung, das über alle Parteischranken hinweg einhellig als Ideal gepriesen wird. In den letzten Jahrzehnten haben sich alle Maßnahmen zur Förderung sozialer Durchmischung jedoch als unzureichend erwiesen, obwohl sie sowohl in sozialer Hinsicht als auch volkswirtschaftlich wünschenswert wäre. Dass die Maßnahmen im Bereich sozialer Wohnungsbau und diverse regionalpolitische Initiativen wie die so genannten zones franches oder die Einstufung schulischer Einrichtung als ZEP (zone d’éducation prioritaire) im Grunde nichts an diesem Tatbestand geändert haben, hat vor allem damit zu tun, dass sie paradoxerweise zu stark an spezifische Gebiete und nicht an Individuen gebunden sind. Deshalb plädiert Maurin dafür, dass Hilfsleistungen stärker Individuen insbesondere im Kindes- und Jugendalter zukommen. Im Kern geht es darum, die intellektuelle und berufliche Ausbildung der heranwachsenden Generationen individuell und allgemein zu verbessern und damit den Betroffenen bessere Berufs- und Lebensperspektiven zu bieten. Ein erhellendes Beispiel hierfür ist die Abschaffung des Wehrdienstes in Frankreich, die sich in dieser Hinsicht als kontraproduktiv erwiesen hat. Zuvor hatten viele junge Männer nämlich ihre Ausbildungszeit verlängert, um später einberufen zu werden und sich aufgrund eines besseren Qualifikationsniveaus auf einen gehobeneren Posten bewerben zu können (Kapitel III: Ségrégation et politiques sociales). So lässt sich mit Eric Maurin folgender Schluss ziehen: „In Wahrheit geht es [bei dem stillen, alle betreffenden Krieg um den Sozialraum] nicht nur um ’sicherere‘ Wohngebiete, qualitativ hochwertige Wohnungen oder ein gutes Versorgungsangebot. Darüber hinaus geht es eben auch, vielleicht sogar in erster Linie um Lebenswege, Sozialstatus und Zukunftsperspektiven. Mit der Wahl eines Wohnstandortes wählt man auch seine Nachbarn und die Kinder seiner Nachbarn, mit denen unsere eigenen Kinder aufwachsen und zur Schule gehen werden. Wenn dem so ist, so liegt das daran, dass wir die feste Überzeugung haben, dass die Qualität des unmittelbaren sozialen Umfeldes den Erfolg oder Misserfolg aller zu weiten Teilen mitbestimmt. Bis vor kurzem wurde diese alltagspraktische Intuition keiner sozialwissenschaftlichen Prüfung unterzogen. Das beginnt sich zu ändern, und die Arbeiten hierzu bestätigen diese Intuition.“[2]

www.passerelle.de, Winter 2004

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  1. Natürlich ist in diesem Zusammenhang zuallererst an die Schriften von Pierre Bourdieu zu denken, der in seinen wissenschaftlichen Publikationen eben immer auch gegen die gesellschaftlichen Zwänge angeschrieben hat, die das Leben jedes Einzelnen zu weiten Teilen vorstrukturieren. (Vgl. etwa das Urteil Robert Castels (2003: 349): „À mon avis une sociologie forte est celle qui a compris qu’au commencement était la contrainte, que la contrainte s’est faite société, et que la société est faite d’abord de contraintes. Pour moi, Pierre Bourdieu est l’homme qui a fondamentalement compris cela et qui a entrepris d’en déployer systématiquement les conséquences, même s’il peut être coûteux de penser ainsi car cela bouscule bien des conforts“) Neuere, auf passerelle.de rezensierte Bücher zu dieser Problematik sind beispielsweise St. BEAUD/ M. PIALOUX (2003), R. CASTEL (2003), MAURIN (2002).
  2. Maurin 2004, S. 83-84