Poesie gegen die Kultur des Todes. Fernando Rendón im Interview mit Camilo Jiménez, anlässlich der Verleihung des Alternativen Nobelpreises 2006, 08.12.06

Eine gekürzte Version dieses Interviews erschien am 6. Dezember 2006 in der kolumbianischen Tageszeitung El País (www.elpais.com.co).
 
Das Interview wurde von Britta Astrid Verlinden übersetzt.
 

Das Internationale Festival der Poesie in Medellín (FIPM), Kolumbien, ist das größte und eins der renommiertesten Poesiefestivals der Welt. Als es 1991 vom Dichter Fernando Rendón gegründet wurde, war die weltberühmte Mafiastadt Medellín eine der gefährlichsten und gewalttätigsten Städte der Welt. Ein blutiger Krieg zwischen den von Drogenkartellen geforderten Paramilitärorganisationen und dem kolumbianischen Staat herrschte damals im Lande, und im Mittelpunkt der Kämpfe stand mit rund 60 Toten pro Tag Medellín als „Welthauptstadt der Gewalt“.

Es war in diesen Gewaltjahren, dass ca. 4000 Mitglieder der linksliberalen Unión Patriótica (UP, Patriotische Union) sowie schätzungsweise 2500 Gewerkschafter systematisch eliminiert wurden. Mitte der 80er Jahre hatte der kolumbianische Präsident Belisario Betancurt einen enormen Erfolg, als 1984 der Waffenstillstand von den Guerrillaorganisationen im Land unterzeichnet wurde. Die Friedenspolitik des Präsidenten stieß jedoch auf allen Seiten auf erbitterten Widerstand, wurde von Paramilitärs, Militärs und Politikern behindert und führte dann zu einer weiteren Eskalation des bewaffneten Konfliktes.

Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als 1985 die Guerillagruppe M-19 den Justizpalast in Bogotá besetzte. Die darauf folgende blutige Erstürmung der Militärs hinterließ hunderte von Toten, den niedergebrannten Palast und eine äußerst kritische politische Lage, in der die Bevölkerung Kolumbiens Opfer von Angst und Gewalt wurde. 4 Jahre folgten, in denen jedwede Friedensbemühung im Land scheiterte. Es waren aber 4 Jahre, in denen die Regierungskritiker, die sich noch nicht den Guerillaorganisationen im Urwald anschließen und zu den Waffen greifen wollten, hatten zunächst immer noch die Patriotische Union als einzige politische Bühne der Opposition. Die 1989 durchgeführten Massaker an den Mitgliedern der linken Patriotischen Union verstärkte jedoch das allgemeine Klima des Misstrauens und vertiefte den gewalttätigen Konflikt in Kolumbien in einem bis dahin nicht gekannten Maß.

Es war in dieser Zeit, dass die Dichter Fernando Rendón und Ángela García die Idee hatten, ein Poesiefestival zu gründen, das in Medellín stattfinden und die Dichtung als „Waffe gegen den Terror“ verwenden sollte. 13 Mitglieder des renommierten Literatur Magazins Prometo, dessen Herausgeber Rendón und García waren, sammelten ihre Kräfte zusammen und veranstalteten 1991 das Poesiefestival. Das FIPM gilt bis heute als Protestakt gegen die politische Gewalt in Kolumbien. Die Verwendung der Dichtung als Waffe gegen den Terror ist bis heute die Grundidee des Festivals geblieben.

Über achtzig Dichter aus 55 Ländern nehmen jährlich am Festival teil, dessen 17. Ausgabe im Juli 2007 mit der Teilnahme von namhaften Belletristen wie Hans Magnus Enzensberger, Breyten Breytenbach und Elke Erbe stattfindet. Das Festival ist das größte Poesiefestival der Welt und ein außerordentliches Ereignis: Auf den gefährlichen Straßen Medellíns, in Parks, Wohnvierteln, Theatern, Universitäten, Schulen und Bibliotheken tragen die Dichter während 10 Tagen ihre Werke in mehr als 60 Sprachen und Dialekten vor. Rund 200 000 Besucher in 33 kolumbianischen Städten und Dörfern hören die rund 900 öffentlichen Lesungen.

 

Der Alternative Nobelpreis

„Das FIPM hat bewiesen, dass die Kreativität, die Schönheit, die freie Meinung und die Gesellschaft gegenüber einer Lage der tief greifenden Angst und Gewalt zusammen gedeihen und diese Lage überwinden können“, so die Erklärung der Stiftung Right Lifelihood Award, die Fernando Rendón und den Organisatoren des FIPM den Alternativen Nobelpreis 2006 am 8. Dezember verlieh. Der 1980 gestiftete Alternative Nobelpreis (der nur in Deutschland als solchen gekannt und offiziell Right Lifelihood Award genannt wird) wird jährlich an 3 oder 4 Preisträger verliehen. Sie wurde von einer Gruppe Intellektueller und Politiker in Schweden gegründet, als der Vorstand der Nobelstiftung den Vorschlag des ehemaligen Mitglieds des Europäischen Parlaments Jakob Uexküll ablehnte, einen Nobelpreis für Ökologie und Entwicklung zu vergeben. Daher ehrt der Alternative Nobelpreis Menschen oder Organisationen, die „Lösungen zu den dringendsten Problemen unserer Zeit finden und umsetzen.“ Aus diesem Grund ist der Preis nicht in strengen Kategorien geordnet. Seit 20 Jahren bekommen den Alternativen Nobelpreis Umweltschützer, Friedensaktivisten, Menschenrechtskämpfer sowie prominente Menschen aus den Bereichen Entwicklung, Kultur, Verbraucherschutz, Bildung, Gesundheit, Energie und Ressourcenschonung.

Ende November 2006 befand sich Fernando Rendón, Direktor des FIPM, auf seinem Weg nach Stockholm, wo er den Alternativen Nobelpreis bekam, in Berlin. Im Gespräch mit dem AVINUS Magazin spricht Rendón über die Schwierigkeiten, heutzutage das Festival in Kolumbien zu veranstalten, und über die Kultur des Todes in Kolumbien.

Wie haben Sie nach 14 Jahren des unerbittlichen Kampfes für das Überleben des Internationalen Festivals der Poesie in Medellín (FIPM) die Ankündigung aufgenommen, dass Ihnen der Alternative Nobelpreis verliehen wird?

Wir erhalten diese Auszeichnung als Anerkennung der weltweiten Einzigartigkeit des FIPM. Wir waren mit einer krassen Situation des Terrors und der Gewalt konfrontiert und haben teilweise zu ihrer Überwindung beigetragen. Ich sage teilweise, weil die paramilitärischen Gruppen Kolumbiens weiterhin viele Zonen Medellíns beherrschen. In der Begründung des Alternativen Nobelpreiskomitees heißt es, „die Verleihung dieses Preises ehrt den Mut und die Hoffnung in Momenten der Verzweiflung.“ Ich sehe das genauso und freue mich sehr, dass unsere jahrelangen Bemühungen nun belohnt werden. Wir möchten diesen Preis den jungen Menschen in Kolumbien widmen, da sie die eigentlichen Kämpfer für den Frieden sind.

Und was wird aus den 200 000 Euro, mit denen der Preis dotiert ist?

Wir befinden uns seit vielen Jahren in einer defizitären Situation. Vor kurzer Zeit verlangte der kolumbianische Staat eine Steuernachzahlung in Höhe von ca. 30 000 Euro von uns. Wir haben also Verwendung für einen guten Teil des Preisgeldes. Darüber hinaus wollen wir auch das Festival finanziell stärken, denn dies ist der einzige Weg, uns Kredite zu verschaffen und unser Poesie-Projekt auch in schwierigeren Zeiten erhalten zu können.

Das FIPM ist das größte Poesiefestival der Welt. Wie kam es zu seiner Gründung und wie erreichte es solche Anerkennung?

Ich war immer der Meinung, dass die Poesie ein außergewöhnliches Gut ist, zu dem jeder Mensch Zugang haben sollte. In Zeiten, in denen das kollektive Leben eine sekundäre Rolle in der Gesellschaft spielt, bleiben den meisten Menschen ihre Gemeingüter verwehrt. Ich wollte nicht, dass dasselbe für das Gemeingut Poesie passiert. Poesie ist in meinen Augen ein Erbe der Menschheit. Und 1991, nach dem Genozid der Unión Patriótica in Kolumbien und mitten im Krieg zwischen dem Medellínkartell und dem kolumbianischen Staat, also in einer Epoche, in der die Bürger Medellíns den Terror dieses Krieges am eigenen Leib erfahren mussten, entschied ich mich, diesem Terror die Poesie entgegenzusetzen. Meine Absicht war es, ein Projekt aufzubauen, mit dem ich die Poesie nach und nach in alle Bereiche der Gesellschaft einführen könnte – und zwar für den Frieden.

Um sich am Leben zu halten, musste das FIPM seit seiner Entstehung große Hindernisse überwinden, die oft sogar von staatlichen kolumbianischen Institutionen ausgingen. Inwiefern wird sich diese Situation nach der Verleihung des Alternativen Nobelpreises Ihrer Meinung nach ändern?

Wir haben immer große Probleme gehabt, vorwärts zu kommen. 2003 unterrichteten uns die Paramilitärs, dass sie uns mit Kugeln durchsieben würden, sollten wir in Kolumbien das Erste Weltgipfeltreffen der Poesie für den Frieden veranstalten. Die Person, die uns diese Drohung mitteilte, war niemand Geringeres als ein Funktionär des Präsidialamtes der kolumbianischen Republik. Derselbe Funktionär – was für ein Zufall! – legte uns einige Tage später nahe, dass auch das Präsidialamt der Planung dieser Veranstaltung nicht gerade wohlwollend zusehe, da das FIPM schon genügend politisch ausgerichtet sei – was eine Lüge ist. Das FIPM hatte nie die Absicht, den kolumbianischen Staat zu verärgern, sondern hat im Gegenteil immer versucht, Brücken zu schlagen zwischen dem Staat und den verschiedenen Sektoren, die an der Schaffung eines Rahmens für den politischen Dialog in Kolumbien interessiert sind. Auf der anderen Seite hat es auch Hindernisse auf finanzieller Ebene gegeben: Praktisch alle Bürgermeister Medellíns, außer dem jetzigen, strichen während ihrer jeweiligen Amtszeit jegliche Zuschüsse für das Festival. Ebenso haben wir Widerstand durch die Medien erfahren. Anfangs begeisterten sie sich für die Entstehung des FIPM, aber als sie begriffen, dass unsere Organisation nicht manipulierbar war, ließ die Berichterstattung nach. Angesichts dieser Situation machen wir heute sämtliche Öffentlichkeitsarbeit alleine. Dazu kommt, dass El Mundo, eine renommierte Zeitung Medellíns, vom Staat einmal verlangte, unsere Förderung komplett einzustellen. Mir scheint, dass all das über die politischen Absichten der Medien in Kolumbien hinaus auch eine Konsequenz des mangelnden Wissens um die Natur der Poesie vieler Kulturjournalisten im Lande ist.

Und welches Verständnis haben die Organisatoren des FIPM von der Natur der Poesie?

Im Unterschied zu den Kulturredakteuren Kolumbiens verstehen wir die Poesie – und das wird jeden Tag nötiger – als eine Form der Erkenntnis, der Interpretation und der Transformation der Realität.

In einem von Ihnen veröffentlichten Kommentar zur Preisverleihung schreiben Sie: „Die Auszeichnung ist eine Anerkennung der historischen Rolle der Poesie und des Geistes im Widerstand zur Kultur des Todes.“ Was meinen Sie mit der „Kultur des Todes“?

Die Kultur des Todes ist die Kultur des Krieges, die der kolumbianische Staat offen fördert. Diese Kultur kommt zum Vorschein, wenn die paramilitärischen Organisationen Kolumbiens erklären, dass 60% des Senats in ihren Händen ist, und dies niemand im Land dementiert. Diese Kultur spiegelt sich in der Tatsache wider, dass im Laufe der letzten Monate immer mehr Mitglieder des kolumbianischen Kongresses sich in Strafprozessen wieder finden. Sie drückt sich auch aus in Fällen wie dem des Senators Álvaro Araujo, der kürzlich verkündete, sollte er aufgrund vermeintlicher Verbindungen zu den Paramilitärs in einen Prozess verwickelt werden, so würde er bedauerlicherweise wegen ähnlicher Gründe auch seine Schwester denunzieren müssen (die niemand Geringeres ist als die Außenministerin) und seinen Ex-Schwager (der niemand Geringeres ist als der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs) sowie einen weiteren Verwandten (der Richter am Verfassungsgericht ist) und sogar den Präsidenten der Republik, Álvaro Uribe. Auf diese Art herrscht in Kolumbien eine Kultur des Todes, die Gewalt, Terror und Krieg rechtfertigt und die zur weltweit höchsten Rate an ermordeten Gewerkschaftern, zur höchsten Anzahl ermordeter Journalisten der westlichen Hemisphäre in den letzten dreißig Jahren und zu zahllosen Vertreibungen in Lateinamerika geführt hat. Zu Letzterem gehören vier Millionen Menschen und ihre Enteignung von mehr als fünf Millionen Hektar Land.

Wie schätzen Sie die aktuelle Beziehung der kolumbianischen Regierung zur Kultur ein?

Vor wenigen Jahren wurde das kolumbianische Kulturministerium mit einer langen bürokratischen Namensliste und einem dermaßen geringen Budget gegründet, dass vermutlich sogar das Kulturbudget der Stadt Medellín mit einer Höhe von 10 Millionen Euro mehr als doppelt so hoch ist – ich bezweifle, dass das Budget des Kulturministeriums auch nur fünf Millionen Euro beträgt. Auf eine höchst elitäre Art nimmt der kolumbianische Kulturminister nur ausgesuchte kulturelle Events unter seine Fittiche, wie zum Beispiel das Iberoamerikanische Theaterfestival in Bogotá. Es wird vom Ministerium mit mehr als 600 000 Euro unterstützt, findet allerdings nur in Bogotá statt und bleibt somit den Bogotanern vorbehalten. Währenddessen erhielt das FIPM, das bereits 35 kolumbianische Städte erreicht hat, im letzten Jahr nur 20 000 Euro, wovon uns die Hälfte erst vor zehn Tagen überwiesen wurde. Ich denke, wenn die Regierung aufhört, der Kultur weiter Steuerzwänge aufzuerlegen, und einen Teil ihres Kriegsbudgets auf die Kultur umverteilt, könnte sie zur Stärkung des Kultursektors beitragen und so mithelfen, das Ende der Barbarei im Land herbeizuführen.

Und wer vertritt unter diesen Bedingungen den Kultursektor in Kolumbien?

Zurzeit befinden sich die Freunde der Kultur in Kolumbien auf der Seite der Opposition. Die Mehrheit der kolumbianischen Intellektuellen, und die der Dichter, befürworteten die Präsidentschaftsambitionen des Mitte-links-Kandidaten Carlos Gaviria in den vergangenen Wahlen. Wir werden dies fortsetzen und der Mitte-Links-Partei Polo Democrático Alternativo in den Kommunal- und Landeswahlkampf 2008 helfen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 erwarten wir einen Sieg mit Carlos Gaviria an der Spitze, der alle Dimensionen des Lebens in unserem Land erneuern wird.

Was hat Ihnen und dem FIPM der Besuch in Berlin gebracht?

Die Sicherheit, dass das Festival fortbestehen und sogar an Stärke gewinnen wird. Im Gespräch mit dem Bundestagsvizepräsidenten, Wolfgang Thierse, und anderen Abgeordneten gab es großes Interesse seitens verschiedener deutscher Politiker, im nächsten Jahr eine Gruppe von Parlamentariern nach Kolumbien zu entsenden und dem Festival den Rücken zu stärken. Auf einem Treffen mit mehr als vierzig Vertretern von Zusammenarbeitsorganisationen und Kulturministerien aus Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika wurde mir gesagt, dass die Unterstützung für das Festival angesichts der derzeitigen Situation in Kolumbien so wichtig ist wie nie zuvor. Aus Deutschland nehme ich außerdem die Gewissheit mit nach Kolumbien, dass, auch wenn der kolumbianische Staat weiterhin die Unterstützung verweigert, große europäische Nationen fest davon überzeugt sind, dass das Festival eine wichtige friedensstiftende Rolle für Kolumbien spielt.

Touraine, Alain: Ségolène Royal am Scheideweg, 30.11.2006

Der Sieg Ségolène Royals bei der sozialistischen Kandidatenkür für die Präsidentschaftswahlen 2007 hat die politische Ausgangslage der Parti socialiste (PS) grundlegend verändert. Die linke Neinsagerkoalition wird sich von dieser Niederlage nicht mehr erholen. Eine heilige Kuh ist geschlachtet. Gleichwohl können sich aus diesem Sieg prinzipiell zwei unterschiedliche Weichenstellungen ergeben.

Einerseits könnte es das Ende bedeuten für eine realitätsferne Linksradikalenrhetorik. Lange schon, zumal seit 1981, pflegt die Linke einen denkbar radikalen und antikapitalistischen Diskurs. Der Sieg der Gegner der europäischen Verfassung ging – auch in den Reihen der Sozialisten – mit kraftstrotzenden Kommentaren einher, denen zufolge Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit unvereinbar seien und mithin der Einfluss des Staates und des öffentlichen Sektors auf die Wirtschaft ausgebaut werden müsse.

Eine solche Position mag schon verwundern auf einem Kontinent, der trotz marktwirtschaftlicher Strukturen geprägt ist von einem hohen Staatsanteil am Bruttoinlandsprodukt und der damit gerade auch ein breit ausgebautes Sozialversicherungssystem finanziert. Vor dem Hintergrund dieser radikalen Tendenz suchen die Sozialisten in allen Formationen links von der Linken, manchmal sogar am linksextremen Spektrum nach Bündnispartnern. Diese Grundausrichtung – oder zumindest scheinbare Grundausrichtung – hat letztlich die Schwächung der Sozialistischen Partei zu verantworten. Nicht nur deshalb, weil die Abkehr von der Marktwirtschaft konkret ein völlig sinnloses Unterfangen darstellt, sondern auch weil die PS keine Proletarierpartei ist, sondern eine Partei, in der die Mitglieder in leitender Stellung stärker vertreten sind als die einfachen Angestellten. Die einzige Erklärung dieser widersprüchlichen Situation besteht darin, dass gerade die Angestellten im öffentlichen Sektor, insbesondere ab einer gewissen Führungsebene, jene Ideologie ersonnen haben, die nun einen Sieg der Linken immer unwahrscheinlicher werden lässt.

Wenn man diese Analyse als gegeben annimmt, lautet die Frage, die sich den alten und neuen Mitgliedern der Sozialistischen Partei stellt: Welcher Weg führt aus dieser Sackgasse? Welcher Weg führt zurück zu einer realistischen Politik? Dominique Strauss-Kahn hat hier offen ausgesprochen, was viele insgeheim denken: Die Partei muss – wie alle anderen sozialistischen Formationen in Europa – sozialdemokratisch werden. Trotz dieser Zielsetzung fehlt aber auch ihm eine Antwort auf die etwas konkretere Frage, wie dies denn zu bewerkstelligen sei, d.h. wie die Wahlen gewonnen werden können, ohne sich von einem linksextremen Wählerspektrum, das noch vor kurzem durch den Sieg über die EU-Verfassung seine Stärke unter Beweis gestellt hat, vom Wege abbringen zu lassen.

Die französische Linke wäre gut beraten, wenn sie ihr Selbstverständnis nicht länger aus einem ideologischen Erbe ableiten würde, sondern aus der Wirklichkeit und wenn sie die Probleme einer Gesellschaft verstehen würde, in der kulturelle Vielfalt zunimmt und die ewige Beschwörung der Republik die Ungleichheiten letztlich nur verschärft.

Aus den ersten Äußerungen Ségolène Royals zu diesem Thema spricht eine wohltuende Gedanken- und Entscheidungsfreiheit. Die Niederlage Dominique Strauss-Kahns jedoch kann zu der zweiten Annahme führen: Die Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal schwimmt auf der Woge einer tiefen Unzufriedenheit der Öffentlichkeit. In dieser Hinsicht ist sie eine Antiparteienkandidaten, die folglich in allen, auch in den linksextremistischen Milieus, Rückhalt und Unterstützung suchen muss. Zudem muss sie sich so deutlich wie möglich von dem Morast der politischen Mitte abgrenzen, aus dem sich die Linke noch nie siegreich herausgekämpft hat.

So gesehen, ist das Phänomen Ségolène eine neue Version des Phänomens Mitterrand. Diese zweite Hypothese scheint – gerade aufgrund ihrer Einfachheit – leichter den Weg zu einem Sieg zu ebnen. Die erste Annahme dagegen stolpert notgedrungen über die heikle Frage, wodurch denn die linksextremistischen Stimmen ersetzt werden sollen? Wird es Ségolène Royal gelingen, sowohl einen beträchtlichen Teil der linksextremistischen Wähler als auch Stimmen aus der gesamten Bandbreite der Wählerschaft an sich zu binden?

Diese Entscheidung zwischen zwei politischen Weichenstellungen ist gerade deshalb so schwierig, weil die Voraussetzungen für den leichten Sieg Ségolène Royals bei den sozialistischen Stichwahlen ihr angesichts der von Nicolas Sarkozy befehligten römischen Heerscharen den Weg zu einem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen verstellen könnten.

Aus diesem Vergleich zwischen den beiden Richtungen, die Ségolène Royal nach ihrem Sieg einschlagen kann, ergibt sich zwangsläufig die Schlussfolgerung, dass sie beide Wege miteinander kreuzen muss, um bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg davonzutragen. Auch in Zukunft sollte sie als eine direkte Vertreterin des Volkes auftreten, durch die die partizipative Demokratie in ein politisches System Einzug hält, dessen Repräsentativität deutlich geschwunden ist. Darüber hinaus muss sie sich für eine Politik entscheiden, die wirtschaftliche Öffnung und soziale Reformen miteinander kombiniert.

Wenn ihr das Miteinander dieser veränderten Form des politischen Auftretens mit veränderten Inhalten gelingt, wird sie Sarkozy schlagen können. Tatsächlich fühlt sich ganz Frankreich von der „politischen Klasse“ abgespalten. Sollte sich Ségolène Royal jedoch in ihrem Wunsch, von allen Seiten Unterstützung zu erhalten, dazu verleiten lassen, die politische Doktrin und das Vokabular der äußersten Linken neu aufleben zu lassen, ist ihre Niederlage vorprogrammiert. Allerdings ist wohl davon auszugehen, dass die Erfolgschancen größer sind. Viele Länder hoffen, dass es Ségolène Royal gelingen wird, im Falle eines Sieges ein von Stagnation, Vorurteilen und mangelndem Selbstbewusstsein gelähmtes Frankreich wieder aufzurichten.

 

Über ‚Heymann Steinthal und die Grundlegung der Völkerpsychologie in Deutschland im 19. Jahrhundert‘ von Céline Trautmann-Waller

Besprochenvon Céline Trautmann-Waller

  • TRAUTMANN-WALLER, Céline: Aux origines d’une science allemande de la culture. Linguistique et psychologie des peuples chez Heymann Steinthal. CNRS éditions, Paris 2006. ISBN 978-2271064356.

Dieses Buch über den Linguisten, Anthropologen und Philosophen Heymann Steinthal (1823-1899) und über die Völkerpsychologie, die er mit seinem Freund Moritz Lazarus (1824-1903) begründete, versteht sich als Beitrag zu einer Kulturgeschichte Deutschlands zwischen 1840 und 1900 und zu einer Geschichte der wissenschaftlichen und intellektuellen Soziabilitäten im damaligen Berlin. Es untersucht die Entstehungsgeschichte der Kulturwissenschaften als einen der wesentlichen Aspekte der deutschen Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert.

Die biographische Laufbahn Steinthals, von dem jüdischen Theologiestudenten bis zum Humboldtianer und zum Sprachwissenschaftler, zum Begründer einer Völkerpsychologie und zum Verteidiger der Ethik, fasst innerhalb einer einzigen Lebensspanne die allgemeine Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert zusammen, von dem Willen, in der Linguistik eine objektive und positive Methode festzulegen, bis zu den Versuchen, letztere auf den Bereich des kulturellen und sozialen Lebens allgemein auszudehnen. Die Analyse von Steinthals ersten Arbeiten ermöglicht es, seinen Übergang vom Humboldtianismus zu einer psychologischen Linguistik zu verdeutlichen. Letztere fordert eine theoretische Autonomie der Linguistik, die auf der Trennung von Grammatik und Logik beruht. In Paris, wo er sich zwischen 1852 und 1856 aufhielt, führte Steinthal die Infragestellung der Hegemonie des indogermanischen Paradigmas durch sein intensives Studium der chinesischen Sprache weiter. Seine Beteiligung an einer regen deutsch-französischen wissenschaftlichen Soziabilität ließ ihn zur selben Zeit der entstehenden französischen Sozialwissenschaften gewahr werden, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Ideologen, dem Werk Auguste Comtes und in den Aktivitäten verschiedener ethnologischer und anthropologischer Gesellschaften herausbildeten.

Die berühmte Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, die 1859 nach der Rückkehr Steinthals aus Paris von ihm und Lazarus gegründet wurde, stellt einen Versuch dar, sämtliche spezialisierte philologische Forschungen zu synthetisieren und verschiedene deutsche Geschichtsphilosophien zu verwissenschaftlichen, d.h. zu „empirisieren“ und zu „psychologisieren“. Indem die Zeitschrift Philologen, Linguisten, Ethnologen, Volkskundler und Anthropologen, erste Statistiker und zukünftige Soziologen, Psychologen und Erdkundler, Rechts-, Wirtschafts- und Kunsthistoriker, Romanisten, Slawisten oder Orientalisten versammelte, wollte sie auf die sich steigernde wissenschaftliche Spezialisierung reagieren und den Weg einer mehr erklärenden als deskriptiven Wissenschaft der kollektiven Vorstellungen weisen, die die tief liegenden Gesetze des Kulturlebens ergründen würde. Das ganze Projekt ist nicht zu trennen von der Krise des Idealismus, obwohl es noch viele Remanenzen desselben mit sich trägt. Die Völkerpsychologie von Steinthal und Lazarus, die Elemente der hegelschen Geschichtsphilosophie mit Intuitionen der humboldtschen Anthropologie und Prinzipien der von Johann Friedrich Herbart entwickelten Psychologie verband und an der auch eine gewisse Anzahl der ersten Neukantianer beteiligt waren, verkörpert also weniger eine philosophische Einheit, als die Beteiligung verschiedener philosophischer Tendenzen an einem gemeinsamen Projekt, das auf eine empirische Wissenschaft der Kulturen zielte.

Die genaue Untersuchung der zwanzig Bände, die zwischen 1859 und 1890 erschienen, schließt eine Lücke in der Forschung und erlaubt es, die Dynamik eines Diskursmilieus zu analysieren, das die extensive Philologie von August Boeckh mit der Kunstgeschichte der Schüler Franz Kuglers, der Anthropologie Rudolf Virchows und dessen progressivem Liberalismus, der von Wilhelm Griesinger unternommenen Reform der Psychiatrie, dem Realismus eines Paul Heyses oder eines Berthold Auerbach, der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums oder der Berliner Tradition der Statistik vernetzt. Historisch betrachtet erweist sich die Völkerpsychologie als ein „Durchgangsort“, der zu anderen neuen Disziplinen führte, ein „Durchgangsort“, wo sich auf sehr erhellende Art und Weise die Lebensläufe des Soziologen Georg Simmel und des Neukantianers Hermann Cohen, des Islamologen Ignaz Goldziher und des Begründers der Berliner Ethnologie Adolf Bastian begegnen. Gerade als Übergangserscheinung ist die Völkerpsychologie interessant, doch gerade als solche tendiert sie eben auch dazu, in den intellektuellen Biographien der einen oder anderen oder in den Darstellungen der wichtigsten intellektuellen Strömungen des 19. Jahrhunderts zu verschwinden.

Indem sie ein Diskursmilieu widerspiegelt, weist die Zeitschrift auch auf eine tiefe Umwandlung der öffentlichen Sphäre, die durch die Entwicklung der deutschen Gesellschaft und des politischen Lebens bedingt war. Wird die Zeitschrift während der ersten Jahre durch den relativen Optimismus der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts getragen, so liefert die Allgemeine Ethik (1885) Steinthals das Echo der Krisen, die kurz darauf das liberale Modell affizierten: der Gründerkrach von 1873, die innere Krise / Innenpolitik von 1878/79 und der Antisemitismusstreit. Mit der Ethik Steinthals stehen die letzten Jahre der Völkerpsychologie in Verbindung mit einer weiteren ethischen Bewegung, die versucht hat die reformistischen Sichten der Linksliberalen (Laizismus, Demokratie, Anti-Militarismus, Solidarität, Frauenemanzipation) durchzusetzen und die sich tendenziell den deutschen Sozialisten annäherte. Wenn die Geschichte dieser Bewegung heute wenig bekannt ist, so wohl deshalb weil zur selben Zeit der aufsteigende Antisemitismus ein zentraler Faktor der Volksideologie und der deutschen Politik wurde, indem er, über die Frage der jüdischen Integration hinaus, den liberalen Prinzipien und dem Bildungsideal widersprach. Obwohl die Völkerpsychologie von Steinthal und Lazarus heute oft dem Nationalismus der damaligen Zeit zu entsprechen scheint, litt sie in Wirklichkeit durch die Verteidigung eines universalistischen Humanitätsideals auch unter einem relativ asynchronen Charakter.

Als wichtiger deutscher Moment der Begründung der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften und eines modernen Kulturbegriffes in Europa erweist sich diese „Culturwissenschaft“ auch in mancher Hinsicht als Ergebnis einer Reihe von Transfers und Differenzierungsprozessen, durch die Deutschland mit einer guten Dosis Kritizismus, Psychologie und Anthropologie französische Modelle integrierte und umwandelte. Steinthal setzt Herbart, Herder, Vico, Humboldt und Ritter gegen die Naturalisierungen, deren sich die französischen Sozialwissenschaften seiner Meinung nach manchmal schuldig machen ein, gegen die rousseauistischen Theorien des Sprachursprungs, des „Contrat social“ und des „bon sauvage“, die seiner Meinung nach nicht berücksichtigen, wie sehr die Kultur unabdingbar zum Wesen selbst des Menschen gehört. Diese Studie zeigt, dass Steinthals Kulturwissenschaft, weit davon entfernt hierin ein Hindernis für den Universalismus zu sehen, im Gegenteil versucht letzteren auf pluralistischen Fundamenten aufzubauen.

© Céline Trautmann-Waller für passerelle.de, November 2006

Klepzig, Sascha: Schöne Worte für das Klima. Merkel auf der Konferenz für Nachhaltigkeit in Berlin, 24.11.06

Während die Klimakonferenz in Nairobi weltweit Beachtung findet, bekam die am 26. September in Berlin stattfindende Konferenz zum Thema Nachhaltigkeit trotz Anwesenheit der deutschen Bundeskanzlerin wenig Echo. Die Jahreskonferenz des Rates für nachhaltige Entwicklung fand weitaus weniger Beachtung als die Islamkonferenz einen Tag später, was im damals durch die Opernabsetzung aus Terror-Angst aufgeheizten Klima nicht verwundert.

Unter den Zuhörern in der Kongresshalle am Alexanderplatz saßen Vertreter der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, darunter viele Repräsentanten von Vereinen und Initiativen. Eingeladen hatte unter dem Motto „Die Kunst, das Morgen zu denken“ zum mittlerweile sechsten Mal der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der im Jahr 2001 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Leben gerufen wurde. Neben einer Fotoausstellung, einer Modenschau und der Siegerehrung zu einem Jugendwettbewerb bestand das Hauptprogramm aus der Forenarbeit am Nachmittag (zu Themen wie Energie, demografischer Wandel, Medien oder soziale Sicherung) und den Redebeiträgen am Vormittag.

Den Anfang machte BUND-Vorsitzende und Ratsmitglied Angelika Zahrnt, die auf die Rolle von Kunst, Kultur und Bildung in der Nachhaltigkeitsdebatte hinwies. Sie forderte die Regierung wie später auch der Ratsvorsitzende Volker Hauff auf, die EU-Ratspräsidentschaft 2007 zu einer „Nachhaltigkeitsoffensive“ zu nutzen. Die Wichtigkeit des Dialogs mit der Wirtschaft unterstrich Zahrnt mit der Zauberformel CSR, auf Deutsch: „Corporate Social Responsibility“. Im Zuge der Globalisierung wachse nicht nur der Einfluss, sondern auch die Verantwortung von Unternehmen, die das Soziale und Ökologische nicht mehr nur dem Staat überlassen dürfen.

Als nächster Redner eingeladen war der Vorstandsvorsitzende der Münchener Rück, Nikolaus von Bomhard. Als Versicherer beschäftigt er sich selbstverständlich mit der Zukunft, und könnte mit dem Statistik-Material seines Unternehmens sicherlich einiges zur globalen Risiko-Vorsorge beitragen. Bomhard blieb allerdings recht allgemein und redete von steigenden Schäden aus Naturkatastrophen, die ihn schon lange beschäftigen. Dass er die gesellschaftliche Entwicklung als verantwortlich für den Klimawandel ausmachte, war dann keine große Erkenntnis für die Teilnehmer dieser Veranstaltung zur Nachhaltigkeit. In Bomhards Rede kam dann auch noch das aktuelle Top-Thema Terrorismus zur Sprache, im Versicherungs-Jargon „das einzige vom Menschen bewusst herbeigeführte Risiko“. Da Terror-Schäden nur begrenzt versicherbar sind, sei hier auch der Staat gefordert, z.B. im Rahmen der bereits existierenden Opfer-Fonds. Positiv festzustellen ist, dass Bomhard als Vertreter der Wirtschaft nicht nur den Begriff Nachhaltigkeit kennt, sondern auch vor seiner effekthaschenden, inflationären Verwendung warnte, indem er zum Abschluss nicht ganz ernst gemeint eine Art „TÜV“ dafür anregte.

Schließlich war es dann am Vorsitzenden des Rates, Volker Hauff, die Bundeskanzlerin zu begrüßen, und mit den Worten „Nachhaltigkeit = Chefsache“ klar zu machen, was er von ihrer Rede und vor allem ihrer Politik erwartete, nämlich nichts weniger als Kontinuität, Innovation und Engagement.

Angela Merkel hatte, so schien es, ihre Hausaufgaben gemacht. Sie wusste, was dem Publikum auf den Nägeln brannte. In einem allgemeinen, etwas improvisiert wirkenden Vorgeplänkel über den „Verbrauch der Zukunft in der Gegenwart“ zeigte sie, dass sie den Leitsatz der Nachhaltigkeitspolitik verstanden hatte. Es gehe darum, an die kommenden Generationen zu denken und ihnen nicht alle aktuellen Probleme aufzubürden. Nachhaltige Entwicklung heißt also, unseren Kindern eine Welt zu hinterlassen, in der Ökologie, Wirtschaft und Soziales noch im Einklang sind.

Mit den Stichworten „Gerechtigkeitsempfinden“ und „Demut“ stellte sie sich auf die Seite derjenigen, die ihr zunächst eher skeptisch zuhörten. Später nahm sie eventuellen Kritikern dann allen Wind aus den Segeln, indem sie damit kokettierte, sich wohl bewusst zu sein, manchmal unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So erwarte sie gerade von den Anwesenden keine Jubel-Arien, sondern Hinweise und Kritik. Sie brauche den Nachhaltigkeitsrat als Mahner und Antreiber. Wie gefordert, will sie die EU-Ratspräsidentschaft und auch den G8-Vorsitz im nächsten Jahr dazu nutzen, Nachhaltigkeitsthemen auf die Tagesordnung zu setzen. Vor allem der Klimaschutz und die Energiepolitik sollen noch einmal angegangen werden. Für Beifall und mehr Medienresonanz sorgen sollte das bekundete Vorhaben, endlich auch die Amerikaner mit ins CO2-Programm zu holen. Selbst die Asiaten, so berichtete Merkel von ihren Dienstreisen, seien mittlerweile risikobewusster und handlungsbereiter als früher, wenn es um den Abbau von Treibhausgas-Emissionen geht.

Schließlich wurden noch ein lose Reihe weiterer Projekte der Bundesregierung, angesprochen, die weitgehend mit dem Thema Nachhaltigkeit zu tun haben. Die Kanzlerin prangerte die schlechte Balance zwischen Zinsausgaben für alte Schulden und Ausgaben für die Zukunft an, und lag mit vielen Zuhörern auf einer Wellenlänge. Als an diesem Tag sicher weniger kontroverse Maßnahme zur Haushaltssanierung brachte sie das Sparen bei der Beamtenbesoldung ins Spiel.

Weiterhin redete Merkel von neuen Strategien der Regierung zur Stärkung der Exportweltmeister-Position, die sogar noch 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze vor allem im High-Tech-Bereich schaffen sollen. Weiterhin ging es um den schonenden vernünftigen Umgang mit Ressourcen, in Deutschland und in den Entwicklungsländern, für die es auf einen verstärkten Schutz ihres Eigentums und weniger Ausbeutung durch die Industrieländer hinauslaufen soll. Global wird auch gedacht, wenn es um gemeinsame internationale Kriterien in allen Bereichen geht, z.B. beim Schutz von geistigem Eigentum, einer der mittlerweile wichtigsten Ressourcen des Westens. Weltweit soll der Verlust an biologischer Vielfalt bis 2010 verringert werden, ein dringendes Programm, dessen Handlungsgrund durch die doppelte Negation fast verharmlost wird. Die Umwelt soll auch zuhause geschützt werden, so soll, auch in Zusammenhang mit dem Stichwort Artenschutz, der neue Flächenverbrauch hierzulande reduziert werden, was angesichts der demographischen Entwicklung mehr als sinnvoll erscheint.

Schließlich betonte Merkel die Wichtigkeit des „lebenslangen Lernens“, und die Notwendigkeit, das generationsübergreifende Denken vor allem der zukünftigen Rentner-Generation zu vermitteln, damit alle noch folgenden Maßnahmen auch nachhaltig funktionieren könnten.

Dies war durchaus im Sinne von Volker Hauff. Der Ratspräsident erklärte, mit Zustimmung, Hoffnung und Nachdenklichkeit die Rede der Kanzlerin zur Kenntnis genommen zu haben. Bei allen Schwierigkeiten wolle er jedoch nicht nur an die Politik appellieren, sondern genauso an Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Nur wenn alle Akteure zusammen arbeiten und die Bedeutung der nachhaltigen Entwicklung nicht aus den Augen verlieren, hätte sein Rat Erfolg und diese Veranstaltung einen Sinn.

Es bleibt abzuwarten, was aus den hehren Ansprüchen wird, nicht nur was die wirkungsvolle Umsetzung der Projekte angeht, sondern schon allein wenn es darum geht, das Thema Nachhaltigkeit ins Gedächtnis zurückzurufen und immer wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Die großen Schlagzeilen werden zwar bis zum nächsten Kongress doch eher wieder der Terror oder so Wichtiges wie die Altbundeskanzler-Memoiren liefern, doch vielleicht schafft es auch zwischen Anschlägen und Schädel-Schändungen immer mal wieder eine kleinere Nachhaltigkeitsgeschichte, wie z.B. die gerade aufkeimende Debatte um das Garantierte Grundeinkommen.

Abstiegsangst der Mittelschicht. Über ‚Abstiegsangst der Mittelschicht‘ von Louis Cauvel

Besprochenvon Michael Tillmann

Deutschland hat seine Unterschichtendebatte. Frankreich diskutiert über die Zukunft seiner Mittelschicht. Dass eine solche öffentliche Auseinandersetzung zwangsläufig ihre Unschärfen hat, liegt nicht zuletzt an der Schwammigkeit des Begriffs selber. Allein schon der Umstand, dass der französische Terminus gewöhnlich im Plural gebraucht wird, deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Bevölkerungskategorie nicht um einen einheitlichen, monolithischen Block handelt. Dabei rechnen sich einer neueren Umfrage zufolge spontan immerhin 75% aller Franzosen der bzw. den Mittelschichten zu. Zur näheren Bestimmung dieses mittleren Gliedes im gesellschaftlichen Schichtungsgefüge stützt sich Louis Chauvel[1] in diesem neuen Band der République des Idées auf eine aus drei Kriterien bestehende Definition. Demnach gehören all jene zur Mittelschicht, die über ein durchschnittliches Einkommen verfügen, die zu den Berufsgruppen mit mittlerem Qualifikations- bzw. Kompetenzniveau zählen (d.h. im Großen und Ganzen die von dem französischen Statistikamt als professions intermédiaires eingestuften Berufe) und die sich gleichzeitig in dem für diese Schichten spezifischen Fortschrittsglauben wieder erkennen und ihr Schicksal bzw. das ihrer Kinder mit dieser Klasse identifizieren.

Gerade in diesem letzten Punkt unterscheiden sich Louis Chauvel zufolge die französischen Mittelschichten von ähnlichen Klassen in anderen entwickelten Ländern. Letztlich ist die französische Mittelschicht eine im definitorischen Detail sicherlich bestreitbare Realität. Vor allem aber ist sie ein Gesellschaftsprojekt, insofern sie sich selbst gewissermaßen als Inkarnation des Fortschrittsgedankens und der Modernität schlechthin versteht. Die Epoche des rasanten Wirtschaftswachstums in den drei Nachkriegsjahrzehnten jedenfalls vermochte die gesellschaftlichen Kräfte in einer Art und Weise zu binden, dass manche – ähnlich wie in Deutschland – den Traum von einer moyennisation, einer dauerhaften „Vermittelschichtung“ der Gesellschaft nähren konnten. Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft französischen Zuschnitts steht nun allerdings vor dem Dilemma, dass nach den „glorreichen“ Wachstumsjahren der Trente glorieuses, die ihre innere Einheit zementierten, die „kargen“ Wachstumsjahre der Trente piteuses – wie es nur halb spaßhaft heißt – den Zusammenhalt und das Zugehörigkeitsgefühl der Mittelschichten auf eine schwere Belastungsprobe stellen. Die nachwachsenden Generationen haben im Vergleich mit der Wirtschaftswundergeneration durchschnittlich zwar ein höheres Ausbildungsniveau und könnten so zu tatkräftigen Mitstreitern der Mittelschicht heranwachsen. In Wahrheit jedoch erleben sie einen schmerzhaften Prozess der generationenspezifischen Deklassierung – und das in einer Gesellschaft, die lange Zeit felsenfest dem Glauben eines stetigen Fortschritts anhing. Dieser Fluch der späten Geburt nährt soziale Abstiegsängste, die auch politischen Sprengstoff in sich bergen. Während die Mittelschicht mit ihrem „humanistischen Individualismus“ als Erbe der 68er Bewegung für darunter liegende Schichten eine ideologische Leitfunktion haben konnte, solange die wirtschaftliche Entwicklung einen stetigen Wohlstandsgewinn verhieß, geht als Folge der weit verbreiteten Deklassierungsängste innerhalb der Mittelschicht, begleitet von sozialräumlichen Abschottungstendenzen wie sie etwa Éric Maurin beschrieben hat, auch deren ideologische Attraktivität verloren – und damit ein den demokratischen Prozess in Frankreich stabilisierendes Element.

© www.passerelle.de, Dezember 2006

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  1. Louis Chauvel hat sich vor allem mit seiner erstmals 1998 erschienenen Studie zur generationenspezifischen Entwicklungsdynamik, Le destin des générations. Structure sociale et cohortes en France au XXe siècle, in Frankreich einen Namen gemacht, in der er das Geburtsjahr als weithin unterschätzten Ungleichheitsfaktor ausmacht und anhand umfangreicher Zahlenreihen anschaulich darstellt. Inzwischen hat sich das Augenmerk der Öffentlichkeit, nicht zuletzt infolge der Ausschreitungen in den französischen Banlieues Ende 2005 und den Studentenprotesten gegen die Aufweichung des Kündigungsschutzes für Jungarbeitnehmer einige Wochen später, zu einem Allgemeinplatz der öffentlichen Debatte entwickelt. Einige seiner kleineren Schriften sind frei zugänglich (vgl. dazu den Internetauftritt von Louis Chauvel).

Vorsicht Globalisierung! Wissenswertes von Daniel Cohen. Über ‚Trois leçons sur la société post-industrielle‘ von Daniel Cohen

Besprochenvon Michael Tillmann

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Daniel Cohen ist auch in Deutschland kein Unbekannter. Einige seiner Bücher über sein Steckenpferd – die Globalisierung – sind bereits bei Campus und der Europäischen Verlagsanstalt auf Deutsch erschienen. Der Autor beherrscht in der Tat die seltene und schätzenswerte Kunst, selbst komplexe wirtschaftliche Themen in verständlicher Form einem breiten Publikum näher zu bringen. Dabei bleibt er letztlich stets einem aufklärerischen Ziel verbunden: Ihm geht es um ein besseres Verständnis wirtschaftlicher Zusammenhänge. Gerade sein Buch über die Globalisierung und seine Feinde ist hierfür ein gutes Beispiel[1].

Auch bei den drei „Unterrichtseinheiten zur postindustriellen Gesellschaft“, die Daniel Cohen in gedrängter Form auf knapp 100 Seiten in der Reihe der République des Idées vorlegt, drückt man mit großem Vergnügen die Schulbank. So erfährt man etwa, dass die postindustrielle Gesellschaft sich durch fünf Brüche definieren lässt, d.h. durch eine technologische Revolution, eine gesellschaftliche Revolution der Arbeitsorganisation, eine kulturelle Revolution mit individualistischer Stoßrichtung (Mai 1968), eine Revolution der oder besser: durch die Finanzmärkte und schließlich die Globalisierung. Man reibt sich verwundert die Augen, wenn man liest, dass der Arbeiter, der ein Paar Turnschuhe der Marke Nike herstellt, dafür einen Hungerlohn von 2,75 Dollar erhält, dass die komplette, rein materielle Produktion dieser modischen Schuhbekleidung gerade einmal bei 16 Dollar liegt, dass die Kosten sich verdoppeln, um das materielle Produkt mittels gezielter Werbestrategien in eine soziales Objekt (der Begierde) zu verwandeln und dass der verbleibende finanzielle Aufwand auf den Vertrieb entfällt. An diesem Beispiel veranschaulicht Cohen sodann ein charakteristisches Element der zweiten Globalisierung, d.h. die Konzentration der Wirtschaften in den reichen Ländern auf Konzeption und Vertrieb, während die materielle Herstellung den ärmeren Staaten überlassen wird.

Nicht minder erhellend sind Cohens Ausführungen zur demographischen Entwicklung weltweit. Obwohl der Planet nach Vorausberechnungen 2050 neun Milliarden Erdenbürger zählen wird, hat in den meisten Ländern schon ein demographischer Wandel mit sinkenden Geburtenraten eingesetzt. Dieser Wandel lässt sich offenbar mit dem globalisierten, d.h. über das Fernsehen weltweit verbreiteten Stereotyp der westlichen Frau erklären, dem auch in den peripheren Regionen der Welt nachgeeifert wird. Spannend liest sich auch, was Daniel Cohen in der dritten Unterrichtseinheit zur Frage der Existenz eines europäischen Sozialmodells zu sagen hat und den technologischen Rückstand der EU-Länder gegenüber dem Marktführer Vereinigte Staaten auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft. In jedem Fall findet der an wirtschaftlichen Entwicklungen interessierte Leser auf wenig Raum eine Unmenge von Fakten und anschaulichen Deutungen, die der Autor zwar schon an anderer Stelle zum Teil detaillierter vorgelegt hat, die aber einen kompakten Einstieg in das Thema der Globalisierung ermöglichen.

© passerelle.de, Oktober 2006

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  1. Daniel Cohen (2004): La mondialisation et ses ennemis. Paris: Grasset 2004.

Eine Frage der Wortwahl. Tilmann Spohn im Interview mit Camilo Jiménez, 20.10.06

Spohn ist Direktor des Instituts für Planetenforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Der renommierte Akademiker spricht über die Entscheidung der Internationalen Astronomen-Union (IAU), Pluto nicht mehr als Planeten zu bezeichnen.

Professor Spohn, was haben Merkur, Venus, die Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, was Pluto nicht hat?

Sie haben in der Tat viel gemeinsam. Erstens sind sie keine Sterne. Das bedeutet, sie sind relativ kleine Körper, in denen keine Kernreaktion stattfindet wie in den Sternen und sie deshalb kein Licht aussenden. Es sind außerdem Körper, die über relativ wenig Masse verfügen. Erst wenn sie die fünfzehnfache Masse des Jupiter hätten, wären sie keine Planeten mehr. Planeten von Sternen zu unterscheiden, oder anders gesagt, eine Unterscheidung von groß und klein, wäre relativ einfach. Auf der anderen Seite ist eine Unterscheidung von klein nach groß ziemlich schwierig. So gab es von Anfang an Schwierigkeiten, Pluto einzuordnen. Die kleinsten Objekte im Sonnensystem heißen Kleinplaneten, wie beispielsweise die Asteroiden. Hier fangen die Schwierigkeiten an. Wir haben Probleme damit, Planeten von Asteroiden zu unterscheiden. Im Fall von Pluto ist dies genau das Dilemma: im Unterschied zu allen anderen acht Planeten des Sonnensystems sind die Astronomen hier nie sicher gewesen, ob es sich um einen Planeten oder Asteroiden handelt.

Aber nach der neuen Definition ist Pluto kein Planet…

Was man getan hat, ist, verschiedene Bedingungen aufzustellen, die erfüllt sein müssen, um als Planet klassifiziert zu werden. Es sind zwei: Der Himmelskörper muss so groß sein, dass dadurch sein Inneres aufgeheizt wird, so dass der Kern schmilzt und dass er dadurch eine Kugelform erhält. Zweitens muss er in der Lage sein, die nähere Umgebung seiner Umlaufbahn von allen anderen Himmelskörpern zu säubern. Die letzte Bedingung erfüllt Pluto nicht, weil er selbst Teil des Kuiper-Gürtels ist. Die anderen acht Planeten erfüllen diese Bedingungen. Aus diesem Grund klassifiziert man Pluto als Zwergplaneten.

Wie haben Planetenforscher diese Nachricht aufgenommen?

Niemand wäre böse gewesen, wenn Pluto ein Planet geblieben wäre. Es handelt sich eigentlich um eine Frage der Wortwahl, nicht mehr. Die Frage, die sich den Astronomen in Prag stellte, war: Welche von den ganzen Himmelskörpern des Sonnensystems sind Planeten im klassischen Sinne und welche nicht? Für uns Astronomen ist eine Antwort auf diese Frage allerdings fast bedeutungslos, denn wir waren uns immer darüber im klaren, dass Pluto ein Himmelskörper ist, dessen Eigenschaften sich fundamental beispielsweise von den Gasriesen wie Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun unterscheiden, aber auch von den steinigen inneren Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars. Dennoch ist die Astronomie jahrhundertelang problemlos vorangekommen.

Als was wurde denn bislang Pluto betrachtet?

Seit die Existenz Plutos bekannt ist – also seit siebzig Jahren – haben alle Forscher Pluto als Himmelskörper betrachtet, der um die Sonne kreist und Teil einer Unzahl gefrorenen kometenähnlichen Himmelskörpern zählt, die sich am Rande unseres Sonnensystems befinden und als Kuiper-Gürtel bekannt sind. Es war bekannt, dass der Kuiper-Gürtel viele plutoähnliche Objekte hat, sogar einer der Neptunmonde, Triton, war ursprünglich Teil des Kuiper-Gürtels. Den Astronomen war also klar, dass Pluto kein Planet im klassischen Sinne wie die anderen acht Planeten ist.

Könnte man also sagen, dass der neue Status des Pluto der Forschung gar nichts bringt?

Ob Pluto ein Planet ist oder nicht, ist eine müßige Frage. Die Physik beispielsweise, die uns dazu verhilft, das Funktionieren der Himmelskörper zu verstehen, bleibt dieselbe, ob Pluto nun Planet ist oder nicht. Ein wichtiger Unterschied ist dagegen, ob ein Körper um die Sonne oder um einen anderen Körper – einen Planeten oder Asteroiden – kreist. Der Status von Pluto ändert nichts an unseren Forschungen. Auf einer anderen Ebene ist die Prager Entscheidung sehr wichtig. Viele Leute haben jahrelang dafür plädiert, auch die anderen bislang entdeckten drei plutoähnlichen Himmelskörper als Planeten zu bezeichnen. Es handelt sich um den die Asteroiden Ceres, der im 19.Jahrhundert als Planet betrachtet wurde, und UB313 sowie um den Plutomond Charon. Sie zu Planeten zu machen hätte uns in große Schwierigkeiten gebracht, da man daraufhin Gründe finden würde, mehr und mehr Himmelskörper zu der Gruppe der planetarischen Körper zu zählen. Durch die Entscheidung der IAU in Prag ist diese Gefahr vermieden worden.

Dieses Interview ist zum ersten Mal in der kolumbianischen Tageszeitung EL PAÍS erschienen.

Horchen auf die Atombombe. Manfred Henger über Atomsprengungen in Nordkorea im Interview mit Camilo Jiménez, 13.10.2006

Wie deutsche Experten auf die nordkoreanische Atomsprengung horchten und nun einen Fehlschlag für möglich halten. Ein Interview mit Manfred Henger, Leiter des Referats für seismische Datenanalyse der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR).


Herr Henger, am frühen Morgen des 9. Oktober haben Sie einen Anruf von der CTBTO bekommen, die Sie über seismische Aktivität in Nordkorea informierte. Was wollte man von Ihnen und Ihrem Team wissen?

Meine Aufgabe war, die Stärke der seismischen Bewegung zu bestimmen, die das Internationale Datenzentrum (IDC) der Organisation des Vertrags über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen (CTBTO) am Montag, dem 9. Oktober, um 3.35 Uhr registriert hatte und die aus der nordkoreanischen Nord Hamyong Provinz herkam. Es handelte sich um ein Erdbeben mit der Stärke 4. Auch mussten wir der CTBTO nachweisen, dass es sich dabei um kein natürliches Phänomen gehandelt hatte, sondern dass das Erdbeben durch eine unterirdische Sprengung erzeugt worden war. Letztlich war auch unsere Aufgabe, die Quantität an Trinitrotoluol (TNT) zu berechnen, die für die Explosion verwendet worden war: Es waren etwa 1 bis 1,5 Kilotonnen.

Sie leiten das Referat für Datenanalyse bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover. Was verbindet Ihren Verantwortungsbereich in der BGR mit der CTBTO?

Wir betreiben hier für die Bundesrepublik Deutschland das Nationale Datenzentrum im Zusammenhang mit dem Kernwaffenteststopp-Abkommen. Das Auswärtige Amt hat uns die Aufgabe übertragen, die Einhaltung der Verpflichtungen aus dem Kernwaffenteststopp-Vertrag zu überprüfen. Im Rahmen des Abkommens betreiben wir mehrere Stationen: eine im bayerischen Wald, das ist die empfindlichste Station im ganzen Mitteleuropa, in der durch eine Antenne 25 umliegende seismische Stationen koordiniert werden. Dann gibt es eine weitere Infraschallstation im bayerischen Wald und zwei Stationen mit Messungen von Luftdruckschwankungen in der Antarktis. Alle diese Stationen, die von uns kontrolliert werden, sind Teil des antiatomaren Überwachungssystems der CTBTO. Die Daten von unserer Station und anderen Stationen, die überall auf der Welt verteilt sind, werden durch einen Satellit nach Wien gesendet. Als Nationales Datenzentrum haben wir in der BGR das Recht, diese Daten anzufordern, von allen Stationen.

Und das haben Sie am Sonntagabend gemacht, als klar wurde, dass der Atomtest Nordkoreas jederzeit stattfinden konnte…

Wir hatten schon den ganzen Sonntag auf die Sprengung gewartet. Es war jedoch schon Montag um 3.35 Uhr, als ich eine automatische Nachricht von unseren Computern im Institut auf meinem Handy bekam, die ein Erdbeben in Nordkorea meldete. Aber unser Vorgehen ist ungefähr so: Das IDC lässt in der Regel die Messungen rund um die Uhr laufen und sucht nach Bewegungen der Erdschichten, also nach kleinen oder großen Erdbeben. Am Wochenende vor dem Atomtest haben wir dann die Rechner in der BGR so vorprogrammiert, dass sobald irgendein Ereignis im Bereich von Nordkorea gemeldet würde, wir automatisch informiert würden. Als Leiter des Referats für seismische Datenanalyse würde ich dann eine Nachricht erhalten.

Wie konnten Sie sicher sein, dass dieses Beben von einem nordkoreanischen Atomtest ausgelöst worden war?

Als wir montagmorgens zur Station kamen, haben wir alles überprüft: Der Ort, auf den uns unsere Daten verwiesen, erschien auf den Satellitenbildern als eine Gebirgsregion im Norden Nordkoreas namens Pungye-yok, die schon vorher als mögliches Testgebiet genannt worden war. Folglich konnten wir sicher sein, dass es eine Sprengung und nicht ein Erdbeben war. Also informierten wir die CTBTO und die Öffentlichkeit.

Wie kann eine unterirdische Sprengung ein dermaßen starkes Erdbeben verursachen, dessen seismischen Wellen knapp 12 Minuten nach der Explosion schon in Deutschland empfunden wurden?

Durch die Explosion wird eine Schockwelle erzeugt. Das passiert auch z.B. in der Luft: Wenn etwas in der Luft explodiert, dann wird ein Luftstoß verursacht, den ich fühlen würde, wenn ich in der Nähe wäre. Genau so läuft es unter der Erde ab: Wenn dort eine Explosion stattfindet, passiert folgendes: Zwischen den Erdschichten befindet sich meistens Wasser, und Wasser kann man nicht zusammendrücken, es ist nicht kompressibel. Wenn die Explosion auf das Wasser und auf Gestein trifft, wird durch seismische Energie eine Druckwelle erzeugt. Diese Druckwelle läuft dann durch die ganze Erde. Die registrieren wir dann auch hier im bayerischen Wald.

Wie hat man die Größe der getesteten Bombe in der BGR berechnen können?

Da es eine Beziehung zwischen der Erdschwankung und der Explosionsstärke gibt, haben wir die Stärke der Explosion berechnen können: Sie war von 1 bis 1,5 Kilotonnen, vorausgesetzt, dass es sich um nasses, hartes Gestein gehandelt hat, wo der Test stattgefunden hat. Wenn eine solche Explosion im Sand durchgeführt wird, wird nicht sehr viel Energie in den Boden übertragen und deshalb strahlt die Druckwelle eine verhältnismäßig schwächere Signal aus. Aber da es in einer Gebirgsregion passierte (dem Schwarzwald sehr ähnlich), wo es nur hartes, nasses Gestein gibt, konnten wir berechnen: Eine Stärke von 4 kann nur von 1 bis 1,5 Kilotonnen Sprengstoff verursacht werden.

Wie wird ein Atomtest unter der Erde durchgeführt?

Da bohrt man wie bei einer Ölquelle, und in das Bohrloch wird dann die Bombe gelegt. Dann wird das Loch entweder zubetoniert oder mit allen möglichen Stoffen aufgefüllt. Wenn man die Bohrung macht, muss man entsprechend tief gehen, sodass die Bombe nicht ‚ausbläst‛, also radioaktive Subtanzen freisetzt. Das hat man am Anfang des Atomtestrauschs im 20. Jahrhundert nicht beachtet und als Folge gibt es noch heute z.B. einen halben Kilometer breite und 100 oder 200 Meter tiefe Krater im sog. ‚Nevada Test Site‛.

Ist eine solche ‚Ausblasung‛ der Bombe Nordkoreas möglich?

Nur, wenn man die Bombe nicht tief genug eingräbt. In Nordkorea hat die Sprengung in einem unterirdischen Tunnel stattgefunden, innerhalb eines kleinen Bergwerkes, und obwohl jetzt nicht ganz klar ist, wie die Nordkoreaner die Bombe untergebracht haben, kann man schon vermuten, dass man die Bombe durch einen zweiten parallel liegenden Tunnel eingeführt hat, den man dann zugeschüttet hat. Wenn die Explosion tatsächlich in diesem Berg stattgefunden hat, so werden wahrscheinlich keine radioaktiven Substanzen auf die Erdoberfläche gekommen sein.

Atomwaffentests können auch in Wüstregionen oder im Meer durchgeführt werden. Warum haben Pakistan, Indien und Nordkorea Ihre Tests unter der Erde durchgeführt?

Die Franzosen haben ihre Kernwaffen im Mururoa-Atoll gezündet. Die USA haben auch kleine Bomben auf dem Bikini-Atoll getestet. Später haben die USA auch auf den sog. ‚Nevada Test Site‛ hunderte von Tests durchgeführt, also in der Wüste, wie Frankreich es auch gemacht hat, nämlich in Algerien. Die Russen haben ihrerseits alle ihre Explosionen auf dem Festland im Novaja Zemlja durchgeführt und die Chinesen auf Lop Nur, einem Gebirgsgebiet. Allein die neuen Atommächte haben unterirdische Tests durchgeführt. Obwohl es sich aus Sicherheitsgründen empfiehlt Atombombensprengungen unter der Erde zu realisieren, glaube ich, dass die wahren Gründe, warum Indien, Pakistan und Nordkorea unterirdische Atomtests durchführen, woanders liegen.

Weil sie sich vor der Öffentlichkeit schützen wollen, falls Ihre Tests fehlschlagen?

Möglicherweise.

Zurzeit wird viel über den vermeintlichen Erfolg der Atomtests in Nordkorea gezweifelt. Was ist Ihre Position dazu?

Obwohl bisher nur sehr wenig bewiesen werden kann, nämlich nur, dass es sich um kein natürliches Phänomen bei dem Erdbeben am vorigen Montag handelte, sondern dass eine unterirdische Sprengung an dem Tag in Nordkorea stattfand, wage ich, drei verschiedene Szenarien für möglich zu halten. Das erste: dass der Test erfolgreich war und dass Nordkorea tatsächlich eine 1,5 Kilotonnen schwere Atombombe gezündet hat. Das zweite: dass Nordkorea versucht, die Internationale Gemeinschaft zu betrügen und das sie dazu eine Atomsprengung simulierten mit Hilfe von chemischen Sprengstoffen – und das zu machen, ist kein Problem. Ich war selber bei einer solchen Simulation dabei, als man einmal in den USA untersuchen wollte, ob es möglich ist, mit seismischen Verfahren Unterschiede zwischen Nuklear- und chemischen Sprengung festzustellen. Da haben die Amerikaner eine Kilotonne mit chemischem Sprengstoff gezündet, kein Problem. Das dritte Szenario wäre, dass es ursprünglich eine größere Bombe sein sollte, eine Bombe von etwa 10 bis 15 Kilotonnen, aber dass der Test fehlgeschlagen ist und die Druckwellen deshalb so gering waren. Persönlich halte ich dieses letzte Szenario für das wahrscheinlichste von allen drei.

Warum?

Die erste Möglichkeit ist fast irreal: Wenn man sich die Kernwaffentests aller anderen Atomstaaten ansieht, dann hat noch kein Atomwaffenstaat mit einer ersten Waffe begonnen, die kleiner als 10 Kilotonnen war. Kleinere Bomben mit 1 oder 1,5 Kilotonnen wurden bisher noch nie gezündet. Der Grund dafür ist, dass es tatsächlicher leichter ist, eine große Bombe zu bauen als eine sehr kleine. Diese kleinen Atombomben werden nur als Zünder für Wasserstoffbomben verwendet. Ich glaube nicht, dass Nordkorea in der Lage ist, die üblichen Entwicklungsschritte zu überspringen und von Anfang an hoch entwickelte kleine Bomben herstellen zu können. Das übliche wäre gewesen, dass Nordkorea eine Bombe zündet, die 10 bis 20 Kilotonnen Sprengstoff hat. Es wäre offensichtlich das einfachste. Die zweite Möglichkeit würde nur gelten, wenn Nordkorea es darauf angelegt hätte, zu betrügen, und ich weiß nicht, ob Nordkorea sich heutzutage ein solches Wagnis leisten kann.

Wann wird die CTBTO sichern können, ob der Test tatsächlich stattgefunden hat, wenn bereits alle die Mitteln der CTBTO-Stationen weltweit ausgeschöpft worden sind? Selbst nach den Worten des Leiters der CTBTO, Tiber Toth, wird in den nächsten Tagen niemand wissen, was tatsächlich in Nordkorea detonierte.

Jetzt haben wir nur die Möglichkeit zu warten, ob doch noch radioaktives Material an die Erdoberfläche kommt. Aber kein Mensch kann Ihnen sagen, wie lange das noch dauert. Ein Kollege hat mir kürzlich gesagt, irgendjemand habe behauptet, in vierzehn Tagen wüsste man das. Das ist Unsinn: Wenn man Glück hat, dann geht es relativ schnell, aber das hängt von den umgebenden Steinen ab. Wenn die radioaktive Partikeln durch das Gestein, also z.B. durch Risse durchgehen und auf der Erdoberfläche sind, dann kann man das möglicherweise nachweisen. Aber wenn die Stelle gut gedämmt und sehr tief ist, dann kommt es nie an die Erdoberfläche und dann werden wir nie nachweisen, ob das eine chemische oder eine atomare Sprengung war.

Herr Henger, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Camilo Jiménez.

Dieses Interview erschien am 12. Oktober 2006 in der kolumbianischen Tageszeitung El País (www.elpais.com.co).

Jiménez, Camilo: Me too, I’d like the atomic-bomb!, 13.10.06

At the end little has changed in the world since World War II and the atomic warfare of the Cold War days. Nowadays, having the atomic-bomb still means power, and to get a bomb is at this time easier than ever with North Korean nukes topping the lists in the black market this week. The world keeps on standing as is stood in the midst of the 20th Century: vis-à-vis with the threat of a chain reaction of world-wide atomic proliferation.

In 1968, the U.S., France, Great Britain, Russia, and China — the winners of WW2 and today’s five permanent members of the United Nation’s Security Council — decided for throttling off the head of what they feared could become a many-headed dragon avidly firing menaces of mass destruction in times of the Cold War. The international swoop under the threat’s head was hence to be given by the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons (NPT), which was rashly signed in 1968 by the U.S. , Great Britain and the Soviet-Union. It entered into force on March 1970.

Hitherto the NPT has been signed by 189 States (France and China only did it until 1992); it has been avoided by India , Pakistan and Israel ; it has been eminently despised, and will possibly be soon violated, by Iran . The NPT has also proven (again) to be highly inefficient: North Korean dictator Kim Jong Il, who resigned to it thirteen years ago, has tested a nuke last Monday. And finally, like any other effort of obtaining world-wide norms of conduct through treaties, the NPT is utterly vulnerable: should Iran build the bomb, so would Egypt and Saudi-Arabia want to do it; and after Monday’s explosion in northern North Korea , Japan too!

Indeed, the result of the non-proliferations efforts turns up being, one more time, the common place of modern international justice-making: after the brief flourishing of an assumed “better world” during the post-Cold War era, at the dawn of 2006 Planet Earth proves to be an extremely dangerous place to live in. Atomic weapon proliferation is on the run.

And there is not much to wonder about this. The world has in fact been giving everyone on “the dark side” enough reasons for grabbing the stew-pots of atomic madness.

The NPT is certainly a funny working artifice. Founded upon the idea of a fair negotiation, it declares the existence of only five atomic-powers, being these the five permanent Security Council members. The rest of the world, according to it, resigns to atomic armament by signing in, but obtains the right of using nuclear energy for civilized purposes with the approval and supervision of the International Atomic Energy Agency (IAEA). Additionally, the Treaty contains a sort of promise of the atomic-powers to slowly shut down their atomic-arsenals.

But nothing of the sort has happened. Neither nuclear energy has been used properly by undersigning nations; nor the five atomic-powers have even showed the willingness to start dismantling their atomic-arsenals (45 000 declared warheads are still intact); nor all NPT-signing countries are trustworthy (and not only Iran is being meant here); nor all NPT-signing countries must obey the Treaty: they can simply jump out of the philanthropic caravan back into the unruly jungle of illegality, and produce the bomb. It’s as simple as that.

With its depart from NPT on 10th April 1993 (after years of great diplomatic efforts) North Korea, an infamous communist dictatorship still existing in a globalized 21th Century world, stepped out into the jungle—and today, it has enough plutonium for producing at least nine serviceable warheads. North Korea has become a world-power, literally, from one day to the other.

IAEA’s Director General, Mohammed ElBaradei, is right by saying that the reported nuclear test threatens the nuclear non-proliferation regime and that it creates serious security challenges for the international community. If Dictator Kim Jong Il does have the nuclear weapons he alleges to possess, he could proliferate atomic weaponry and atomic know-how to underground organizations, while at the same time obtaining enough money from these deals in order to survive the punishments already heralded by the international community. Hell of a stunt.

But if North Korea’s trick works out and the dictatorship subsists the wide-spread reactions against it’s atomic-power, I mean, if North Korea consolidates as a world-menacing power in the Far East, then the world did change last Monday. Thomas Friedman’s tremor facing the possibility of “a nuclear Asia, a nuclear Middle East and a disintegrating Iraq in the heart of the Arab world, with its destabilizing impact on oil prices and terrorism” might turn to be truth in the forthcoming years. And that day me too, I’d then like having the bomb!


Allendorf, Leif: Neoliberalismuskritik, 10.10.06

In jüngster Zeit regt sich Unmut über den real existierenden Kapitalismus, und zwar auch in Kreisen, wo man dies nicht gewohnt ist. So forderte NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers kürzlich dazu auf, sich von der „Lebenslüge“ zu verabschieden, Steuersenkungen würden für mehr Arbeitsplätze sorgen. Sein Parteifreund, der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus, brachte stattdessen die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ins Gespräch. 800 Euro des auch als Bürgergeld bezeichneten Unterhalts sollen das kostspielige Sozialsystem ersetzen. Was noch vor wenigen Monaten unmöglich schien: So verschiedene Parteien wie CDU und Grüne, Linkspartei und sogar die marktliberale FDP entwickeln derzeit alternative Konzepte. Mit prinzipieller Ablehnung reagiert allein die SPD.
Die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003, in der das Staatsoberhaupt ankündigte, statt der Arbeitslosigkeit künftig die Arbeitslosen zu bekämpfen, nimmt der Jesuitenpater Friedhelm Hengsbach zum Ausgangspunkt seiner Abrechnung Das Reformspektakel : warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient.. “Der Mensch, den die Agenda 2010 im Blick hat, gleicht einem Zerrbild real existierender Menschen.” Zum Thema der Rentenanpassung heißt es: “Was unter Bundeskanzler Kohl als Kahlschlag gebrandmarkt wurde, gilt inzwischen als Reformprojekt.” Das allgemeine wirtschaftsliberale Denken ist gegen Kritik resistent: “Es ließ sich vom Widerspruch empirischer Konjunkturanalysen, Kreislaufdiagnosen, nachfrageorientierter Szenarien sowie vom Nachweis tatsächlicher Wechselwirkungen der monetären und realwirtschaftlichen Sphäre nicht beeindrucken.

Schöne Aussichten: Revolution von oben 2006

Als ein tief in der christlichen Soziallehre verwurzelter Mensch formuliert Hengsbach zwei Forderungen: “Die am Rand stehen, sollen nicht den Preis dafür zahlen, dass es den Höherverdienenden besser geht. Und den Wohlhabenden darf es besser gehen, solange die Lebensqualität der Benachteiligten nicht sinkt.”

Albrecht Müller (siehe Foto links), bis 1994 für die SPD im Bundestag, bezeichnet die mantrahaft in Funk und Fernsehen wiederholten Glaubenssätze des Neoliberalismus als “Denkfehler, Mythen und Legenden”, so unter anderem : “Steuersenkungen schaffen Arbeitsplätze.” Ausgerechnet Rot-Grün habe sich als “Rammbock der neoliberalen Revolution” betätigt, mit desaströsen Folgen für das eigene Lager: “SPD und Grüne haben den Konservativen mit ihrer Politik und mit ihren programmatischen Erklärungen den Weg dafür bereitet, nach einer Machtübernahme spätestens im Jahre 2006 ungestört und ohne Widerstand von politischer Seite die Revolution von oben durchzuführen und den Abbau sozialstaatlicher Regelungen zu realisieren.”

Das Steuerwunder auf den Cayman Islands

Der Journalist und Autor Harald Schumann beschreibt in seinem Buch Die Globalisierungsfalle: Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand das „Cayman-Wunder“. Die Cayman-Islands sind eine Inselgruppe in der Karibik südlich von Kuba, britisches Territorium mit Steuersouveränität. Die Hauptinsel ist 14 Quadratkilometer klein, hat 15.000 Einwohner – aber 500 Banken. Es gibt kein deutsches Kreditinstitut, das es seinen Kunden nicht anbieten würde, irgendeine Art von Steuerflucht auf die Cayman-Islands zu begehen. Neben Cayman gibt es 50 vergleichbare Steuerfluchtorte. Schätzungen des US-Finanzministeriums zufolge werden in diesen Steueroasen Jahr für Jahr etwa fünf Billionen US-Dollar der Besteuerung der Länder, in denen die erbracht werden, entzogen. Als Folge würden allein in Deutschland nach Schätzungen des Bundesamtes für Finanzen über die organisierte Steuerflucht an solche Orte Summen, die etwa der Größenordnung der jährlichen Neuverschuldung entsprechen, verloren gehen.

Damit geht einher ein „jobless growth“, Wachstum ohne Arbeit. Der Siemenskonzern hat zwischen 1992 und 1996 seinen weltweiten Gewinn um 15 Prozent gesteigert – und gleichzeitig 20 Prozent seiner Stellen abgebaut, 50.000 Mitarbeiter. In der Produktion der so genannten Handys, oder, in Schumanns Worten, der „kleinen Terrorgeräte“, wo bei Siemens Zuwachsraten von 25-30 Prozent pro Jahr zu verzeichnen waren, gab es fast keine zusätzlichen Jobs, weil die Produktivität pro Kopf in der gleichen Größenordnung zugelegt hat. Airbus plant im deutschen Bereich die Verdoppelung der Produktion und wird voraussichtlich dennoch keine neuen Leute einstellen und wenn, dann lediglich als Zeitarbeiter, vermittelt über Zeitarbeitsfirmen.
Viele, die ihre sicheren Jobs verlieren, sind nach Schumanns Einschätzung nicht zu lebenslanger Arbeitslosigkeit, sondern einfach nur zu schlechteren Jobs verdammt. Insgesamt seien inzwischen ein Drittel aller Arbeitsverhältnisse Nicht-Norm-Arbeitsverhältnisse. Noch 1980 machten solche Arbeitsverhältnisse weniger als 20 Prozent aus.

Wirtschaftet die Wirtschaft uns also arm? Von dem einst selbstverständlichen Ziel, Wohlstand für alle zu schaffen, ist schon lange nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Wo immer über dringend nötige Reformen diskutiert wird, heißt es: Löhne senken, Wachstum steigern, Beseitigung aller Handelshemmnisse und Entlastung der „eigentlichen Leistungsträger“, der Unternehmen, von Steuern und Abgaben. Obwohl Wirtschaftsexperten wie Joseph Stiglitz oder George Soros längst die verheerenden Folgen einer ungehemmten Liberalisierungspolitik für Wirtschaft wie Gesellschaft beschrieben haben, werden diese Patentrezepte unverdrossen angeboten. Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Afheldt unterzieht in seinem Buch Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft die „harten Fakten“ aus 25 Jahren Wirtschaftsliberalismus einer schneidenden Analyse. Sie zeigt, dass vom wachsenden „Sozial-Produkt“ immer weniger bei den Bürgern ankommt, dass die derzeitige Wirtschaftsordnung zu einer gespaltenen Gesellschaft führt – und damit für alle zunehmend unwirtschaftlich wird.

Attac & Co.

Was ist gegen die Fehlentwicklung der Globalisierung zu tun? Seit einigen Jahren macht das Aktivisten-Netzwerk Attac auf sich aufmerksam. Das Autorentrio Christiane Grefe, Matthias Greffrath und Harald Schumann wagen in attac. Was wollen die Globalisierungskritiker? eine Bestandsaufnahme dieser Bewegung. Christina Janssen im Deutschlandfunk lobt: “Die mitunter diffuse Argumentation der Globalisierungskritiker, ihre teils radikal-ideologischen Verbalattacken gegen Weltbank, Internationalen Währungsfonds und Welthandelsorganisation versuchen Grefe, Greffrath und Schumann mit Fakten zu untermauern. Wer wissen möchte, wie die Politik von Weltbank, IWF und Co. in der Praxis aussehen, findet hier eine plastische, teils erschreckende, teils natürlich auch zugespitzte Schilderung. So dient der schmale Band nicht zuletzt all jenen als Argumentationshilfe, die mit Attac sympathisieren.”

Die Arbeitsideologie hinterfragt

Der Sozialwissenschaftler Manfred Füllsack wagt es, die Arbeitsideologie in Frage zu stellen. In seinem Buch Leben ohne zu arbeiten. Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens stellt er die Trennung von Arbeit und Einkommen zur Diskussion. Im Gegensatz zur Debatte um ein „Ende der Arbeit“ geht Füllsack davon aus, dass die menschliche Arbeit künftig nicht weniger wird, sich sogar vermehrt. Es sei aber notwendig, diese Arbeit mithilfe eines garantierten Grundeinkommens vom Lebensunterhalt zu entkoppeln, „auf dass damit auch die Arbeit schließlich so frei werde, wie dies die Wissenschaft schon lange für sich proklamiert.“ Die „arbeitsgemeinschaft sozialpolitischer arbeitskreise“ (agspak.de) lobt: “Die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung, unter dem Blickwinkel der stets wachsenden Produktivität der Arbeit auf Grund einer ständig weiter akkumulierten Problemlösungskapazität, ist spannend zu lesen. (…), wobei der Autor nicht den Eindruck zu erwecken versucht, dass damit schon alle Probleme der Arbeit gelöst wären.” Das österreichische Portal sozialliberale.net sieht das Problem allerdings ganz woanders. Danach nennt Füllsack “treffend den Grund, warum sich keine der ‘traditionellen Parteien’ für ein Grundeinkommen einsetzt: Die Idee des Grundeinkommens wurde im Laufe der Zeit sowohl von eher ‘linken’ als auch von eher ‘wirtschaftsliberalen’ Bewegungen vertreten und auch angegriffen und lässt sich daher auch nicht einfach in ein Links-Rechts-Schema einfügen, weil sie „zu sehr an das Gedankengut [des politischen Mitbewerbers] erinnert”. Das Fazit: “Auch wenn viele Fragen wie die nach der Finanzierung eines Grundeinkommens oder die nach dem zu erwarteten Verhalten von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern noch einer weiterführenden Diskussion bedürfen (…). Die Grundeinkommensidee ist weniger eine Frage der Finanzierung als vielmehr eine Frage des politischen Willens.”

Prognose: Der Kapitalismus ist nicht mehr zu retten

Ganz radikal ist der Nürnberger Soziologe Robert Kurz, der bereits 1994 mit Der Kollaps der Modernisierung mit der Ideologie der freien Marktwirtschaft aufräumte. Sein Schwarzbuch Kapitalismus vertritt die Ansicht, dass es nur noch ein Abenteuer geben kann: die Überwindung der Marktwirtschaft jenseits der alten staatssozialistischen Ideen. Danach mag eine andere Geschichte beginnen. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungsgruppen sinkt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Ausweg in die Dienstleistungsgesellschaft erweist sich als Illusion. Die Marktwirtschaft wird mit ihren Produktivitätssprüngen – Automation und Globalisierung – nicht mehr fertig. In einer Analyse der drei großen industriellen Revolutionen zeigt Robert Kurz, weshalb das bisherige System von Arbeit, Geldeinkommen und Warenkonsum nicht mehr zu retten ist. Robert Kurz seziert die Marktwirtschaft, zeichnet die drei industriellen Revolutionen nach und belegt, wie der Kapitalismus aus weitverzweigten Wurzeln und vielen Quellen im Laufe der Geschichte Varianten seiner inneren Widersprüchlichkeit hervorgetrieben hat: Liberalismus und Sozialdemokratie, den Staatssozialismus als Form nachholender Modernisierung, aber auch immer wieder Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Kurz beschreibt, wie die bisherigen Gegenentwürfe das Wesen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet ließen und selber Trendsetter der permanenten Modernisierung waren. „Aber ausgerechnet in demselben Maße, wie er von allen Parteien zum alternativlosen Schicksal der Menschheit erklärt wird, treibt der Kapitalismus heute auf eine ausweglose Situation zu.“

Literaturhinweise