Jiménez, Camilo: Neue kolumbianische Autoren, 11.08.05

Der Roman wurde Antioquia als Gattung versagt. Viel zu viele waren wir, um in Fiktionen zu schwelgen. Außerdem stand unsere Realität immer im harten Licht der Mittagssonne, die jede Art von Atmosphäre ausschloss.

Das Rot war rot und das Weiß weiß und basta. Was für eine Atmosphäre kann es geben, wo es dunkel wird und wie aus Strömen gießt in der unermesslichen Ewigkeit um sechs Uhr abends? Ohne Winter, ohne Herbst, ohne Sommer, ohne Zyklone, ohne Brandung, in einer Vorhölle von abgewaschenen Bergen, wo der anmutige Krummsäbel eine einfache Machete ist… Natürlich kann es in Antioquia keinen Roman geben!“, schreibt Fernando Vallejo in seinem ersten, 1986 erschienenen Roman Los días azules. Diese Behauptung scheint offenbar nicht für ganz Kolumbien zu gelten.

Dabei hat der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez für die Schilderung der fiktiven Stadt Macondo den Nobelpreis erhalten. Alvaro Mutis, ebenfalls Kolumbianer, erhielt 1993 den Cervantespreis. Der Roman La tejedora de coronas von Germán Espinoza wurde sogar in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen. Und Fernando Vallejo bekam erst 2003 den venezolanischen Literaturpreis Rómulo Gallegos. Doch erst seit kurzem wird die Literatur Kolumbiens in Deutschland zur Kenntnis genommen. Suhrkamp, Klaus Wagenbach und Rotpunkt, also ein Frankfurter, ein Berliner und ein Schweizer Verlag, wagten das Experiment. In den vergangenen zwei Jahren sind Bücher der Autoren Fernando Vallejo, Santiago Gamboa und Memo Ánjel auf Deutsch erschienen.

Man darf sich fragen, was der Grund dafür ist, dass in einem Land, das angeblich nicht literaturwürdig ist, die Belletristik gerade jetzt einen positiven Schub erlebt. Die Antwort: Kolumbien ist eine noch nicht geschriebene Geschichte. Kolumbien steckt voller Historien, als Hort korrupter Politiker, blutdurstiger Mafiosi oder Gossenkinder, die sich als Boxer, Radfahrer oder Fußballer aus dem Elend hocharbeiten. Kinderbanditen, jugendliche Klebstoffschnüffler, verhungernde Familien unter durchgeweichten Kartondächern prägen das Bild, das man sich hierzulande von dem Land macht. Kolumbien ist als ehemalige Kolonie Spaniens eine zwischen Indígenas und den Nachfahren unzähliger Zuwanderer aus aller Welt bunt zusammengewürfelte Gesellschaft.

Fernando Vallejo, Santiago Gamboa & Memo Ánjel

Fernando Vallejo, Santiago Gamboa und Memo Ánjel erobern nun die deutsche Leserschaft.

Der 1942 geborene Fernando Vallejo verließ seine Heimat. Seine kritischen Filme wurden zensiert, er selbst von Guerillas bedroht. Er lebt heute in Mexiko City. Der studierte Biologe beschäftigt sich mit Sprachtheorie, jeden Morgen spielt er auf seinem Steinway-Flügel. Die Filmemacherei hat er eingestellt, seit einiger Zeit schreibt er Romane. Er ist bekannt als militanter Tierfreund, bekennender Homosexueller und Frauenfeind, aber auch als höchst sympathischer und warmherziger Mensch, der wie die Leute aus dem Hügelgebiet Antioquias spricht und denkt. 2001 veröffentliche er den Roman El desbarrancadero (Der Abgrund), der sofort riesigen Erfolg hatte. Vallejo erhielt 2003 den mit 100 000 Dollar dotierten Premio Rómulo Gallegos, die er für die Pflege der Straßenhunde von Caracas spendete, was in seiner Heimat für einen Skandal sorgte.

Der ehemalige Journalist und studierte Literaturwissenschaftler Santiago Gamboa wohnt in Rom, ist von Natur aus ein Literat, ein mit seiner Heimatstadt Bogota zutiefst verbundener Weltreisender, ein Schriftstellerfreund und Autorenförderer, selbst ein Talent, das dieses Jahr zu einer Lesetour durch Deutschland eingeladen wurde und dabei mit seinen heiteren Geschichten seinen Anhängern großes Vergnügen bereitete. 2002 erschien sein dritter Roman, eine Kriminalkömodie mit hohem Niveau, intelligente Unterhaltung für Krimifans und Freunde gut geschriebener Prosa mit Humor: Los impostores (Die Blender). Gamboa war nach China geschickt worden, um einen Reiseführer zu schreiben. Die Arbeit brachte ihn auf die Idee für seinen Roman: Drei Männer begeben sich auf die Suche nach einer Urkunde des 19. Jahrhunderts. Sie finden in der Riesenstadt Peking aber nichts weiter als sich selbst und einen Haufen subtiler Späße für Gelehrte. Die kolumbianischen Leser nahmen die weltbürgerliche und anspruchsvolle Geschichte von sophistischen Loser begeistert auf. Das Buch war der Renner der letzten Buchmesse in Bogotá.

Memo Ánjel wohnt zurzeit in Berlin, ist ein Sepharde aus Medellín, der Hauptstadt der bereits erwähnten Region Antioquia, ein leidenschaftlicher Raucher mit der eigenartigsten Sprachart, ein vielseitiger Autor für Zeitungen und das Radio, außerdem Professor für Kommunikationsmanagement in seiner Heimatstadt und DAAD-Stipendiat im Berliner Friedenau. Der Autor von bislang acht Romanen ist ein geborener Erzähler, der von der Kritik gefeiert wird. Unter dem humboldtschen Motto: „Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache” stellte er in Berlin seinen neuesten, auf spanisch noch nicht erschienenen Roman La mesa de los judíos (Das meschuggene Jahr), im Deutschen Historischen Museum vor. Die Veranstaltung mit seinem Übersetzer, dem Kolumbienkenner Peter Schulze-Kraft, war ein voller Erfolg. Ánjel gewann mit Sympathie und Klugheit Publikum und Rezensenten in Deutschland und in der Schweiz.

Der Abgrund

Svenja Beckers Übersetzung des anspruchvollen Roman Der Abgrund (Suhrkamp) ist rundum gelungen. Dabei ist der hochstilistische Vallejo für jeden Übersetzer eine harte Nuss. Das sah man beim Scheitern des Wiener Zsolnay Verlags mit Klaus Laabs liebloser Übersetzung von Vallejos meist verkauftem Werk, La Virgen de los Sicarios (Die Madonna der Mörder, Wien 2001; 1993 orig. ersch.). Svenja Becker zeigt dagegen Sorgfalt bei der Verwandlung der künstlerisch verschlüsselten Sprachformen Vallejos ins Deutsche. Für sie ist Vallejo vor allem ein „Sprachfreak“.

Der Autor hat sich immer skeptisch zu Übersetzungen seiner Werke geäußert. Er schreibe für die spanische Sprache. Svenja Becker hat sich nicht abschrecken lassen und eine deutsche Übertragung vorgelegt, deren einziger Mangel ist, dass die Leichtigkeit des Originals an manchen Stellen verloren geht.Die iberoamerikanische Jury des Rómulo Gallegos-Preises in Caracas lobte den Abgrund: „Wir stehen vor einem tiefst literarischen und bewegenden Roman, der Themen von dramatischer Aktualität durch eine unerhörte Kraft der Sprache zu reflektieren vermag.“ Die Schilderung der täglichen Gewalt, der Familienkrise und Krankheit, so die Jury, schafften eine Erneuerung der spanischsprachigen Literatur.

Vallejo mischt in seinem Roman Realität und Fiktion. Der Autor schildert die Aids-Krankheit, das Leiden und den Tod seines Bruders Darío. In Medellín, in den achtziger und neunziger Jahren Ort brutaler Auseinandersetzungen rivalisierender Drogenkartelle, spielt sich die absurde Inszenierung einer zerbrechenden Familie ab. Vallejo beschreibt den Todesweg eines geliebten Menschen. Der Ich-Erzähler schützt sich mit zynischen Sprüchen über Politiker, Kolumbien, Gott und die Welt. Sein Motto lautet: Die Existenz ist ein Müllsack von Erinnerungen.

Die Blender

Die Übersetzerin Stefanie Gerhold ist mit Santiago Gamboa vertraut. Die 1999 mit dem Preis der spanischen Botschaft für junge Übersetzer ausgezeichnete Münchenerin hat bereits Werke des spanischen Krimiautors Manuel Vázquez Montalbán sowie drei Romane von Gamboa übertragen und arbeitet im Moment am Neuprojekt des 2004 in Bogotá erschienenen El retrato de Ulises, Gamboas letztem Buch.

Gamboa bedient sich des Genres Krimi, um seine aberwitzige Geschichte voll subtiler Ironie voranzutreiben. Die Herausforderung an die Übersetzung liegt in den Details und den kleinen Wortspielen. Obwohl man die deutsche Version, genauso wie die spanische, schnell und gut gespannt liest, bleibt der im Original unmittelbar wirkende Witz mitunter auf der Strecke.

Die Story ist eine Verkettung von Absurditäten. Drei Männer suchen das verschollene Manuskript einer Sekte aus dem Umkreis des Boxer-Aufstands um 1900 in China. Sie treffen in Peking aufeinander und fangen an, gegeneinander zu intrigieren. Indessen ist ihnen die Boxer-Sekte bereits auf der Spur. Die unzähligen Abenteuer enden in einer doppelten Verfolgungsjagd: Die Blender sind hinter dem Manuskript her, und die Anhänger der Sekte jagen die Blender.

Das meschuggene Jahr

Memo Ánjel betraute auf eigenen Wunsch den Kolumbien-Literaturexperten Peter Schultze-Kraft und den bekannten Schriftsteller Erich Hackel aus Österreich mit der Übersetzung des noch nicht einmal auf Spanisch erschienenen neuesten Romans. Die Übersetzung ist hervorragend. Der leichte Humor und die Kraft mancher Stellen zeigen die Feinsinnigkeit des Übertragungsteams. Ein ausführliches Glossar der verwendeten jüdischen Begriffe ergänzt die prachtvolle Edition des Schweizer Rotpunktverlags. Kolumbien, das unbelesene Land, verbleibt zwar uninformiert über Ánjel, im deutschsprachigen Raum aber können Leser und Kritiker sich freuen. Memo Ánjel verspricht übrigens im Klappentext eine Fortsetzung.

Im Herzen der kolumbianischen Kaffeeregion prophezeit eine jüdische Großfamilie in den fünfziger Jahren den Auftakt des „meschuggenen Jahres“, der Zeit, in der sie sich endlich den Traum erfüllen können, das auserwählte Land Israel zu besuchen. Der Autor schildert aus der Sicht eines 13-jährigen eigene Erlebnisse. In Das meschuggene Jahr weiß man nicht, ob das Medellín im Roman in der Tat die Gewaltmetropole der letzten Jahrzehnte ist oder ob es sich um eine Fantasie Ánjels handelt. Aber abgesehen davon ist das Werk außergewöhnlich innerhalb der Literatur Kolumbiens, wo Autoren, der márquezschen Legenden müde, sich fast zwanghaft der realistischen Schilderung der tagtäglichen Gewalt verschrieben haben. „Ich schreibe ganz bewusst nicht über Gewalt“, sagt ein stets lächelnder Memo Ánjel auf die Frage nach dem Fehlen von Killern oder von den Liebesgeschichten zwischen toten Kaimanen, toten Flussfahrten und was das márquezsche Genre noch zu bieten hat.

Hinweise

  • Vallejo, Fernando: Der Abgrund (übers. v. Svenja Becker; Originaltitel: El desbarrancadero,Madrid: Alfaguara 2001). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. ISBN: 3-5184-1655-3. 19,80 Euro. Gebunden. 192 Seiten.
  • Gamboa, Santiago: Die Blender (übers. v. Stefanie Gerhold; Originaltitel: Los impostores, Barcelona: Seix Barral 2002). Berlin: Klaus Wagenbach 2004. ISBN: 3-8031-3195-2. 21,10 Euro. Gebunden. 320 Seiten.
  • Ánjel, Memo: Das meschuggene Jahr (übers. v. Erich Hackl u. Peter Schultze-Kraft; Originaltitel: La mesa de los judios, unersch.). Zürich: Rotpunktverlag 2005. ISBN: 3-8586-9290-5. 19,50 Euro. Gebunden. 194 Seiten.